Das Volksmehr verdient eine Aufwertung
Publiziert am 12. März 2013Im 19. Jahrhundert war das Ständemehr ein Instrument zur Integration der katholisch-konservativen Kantone. Inzwischen strapaziert es den Zusammenhalt des Landes, weil das urschweizerische Prinzip der Machtteilung zuweilen ausgehebelt wird. Wichtig wäre, dass jetzt eine echte Debatte in Gang kommt. Eine Debatte ohne Tabus und reflexartiges “Hände weg!”
VON DEANA GARIUP und MARK BALSIGER
Bei der SRF-Talentshow „Voice of Switzerland“ gewinnt, wer im Final am meisten Stimmen der TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer einheimsen kann. Bei Verfassungsänderungen wird es komplizierter: Es gewinnt nur, wer das Doppelte Mehr erreicht. Diese Hürde führt gelegentlich zu Resultaten, die das urschweizerische Prinzip der Machtteilung aus dem Gleichgewicht zu bringen droht.
Der letzte Abstimmungssonntag liefert ein exemplarisches Beispiel: Beim Familienartikel legten 54,3 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ein Ja ein. Das Volksmehr wurde damit zwar klar erreicht, der Verfassungsartikel scheiterte aber am Ständemehr. In der lateinischen Schweiz und in urbanen Regionen, die teilweise einen Ja-Stimmen-Anteil von bis zu 75 Prozent erreicht hatten, macht sich seither Missmut breit: Ihr Vorsprung beträgt satte 204’000 Stimmen. Das entspricht der Bevölkerung des Kantons Graubünden oder der Besucherzahl am eidgenössischen Schwingfest 2010 in Frauenfeld.
Wie sich die Ablehnung des Bundesstaates aufweichte
Das Ständemehr wurde in den letzten 160 Jahren immer mächtiger. Ein Beispiel: Der Kanton Zürich zählt heute rund 1,4 Millionen Einwohner, Appenzell-Innerrhoden wiederum 16’000. Ein Zürcher hat heute eine 40 Mal schwächere Stimmkraft als ein Innerrhödler. Zum Vergleich: Um das Jahr 1850 herum differierte die Stimmkraft zwischen Zürich und Appenzell-Innerrhoden noch mit einem Verhältnis von 1 zu 8. Die Macht ballt sich auf dem Land, was bei Abstimmungen zu einer massiven Verzerrung führen kann.
Rückblende: Mit der Gründung des Modernen Bundesstaats wurde das Volksmehr eingeführt, für Verfassungsänderungen musste zudem das Ständemehr erreicht werden. Angesichts des Kulturkampfes, der damals tobte, war das eine kluge Entscheidung. Die katholisch-konservativen Kantone, im Sonderbundskrieg 1847 von den Liberalen besiegt, erhielten so zusammen mit anderen kleinen Kantonen ein Vetorecht. Ihre Ablehnung gegenüber dem Bundesstaat weichte sich weiter auf, als 1874 das Referendum eingeführt wurde – eine zweite starke Waffe für die Minderheit. Die Integration der Katholisch-Konservativen konnte 1891 mit der Wahl des Luzerners Josef Zemp in den Bundesrat und der Einführung der Volksinitiative vervollständigt werden.
Historisch betrachtet war das Ständemehr für die politische Stabilität des Landes wichtig. Inzwischen wirkt es wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert: Zum einen ist der Kulturkampf vorbei, zum anderen hat sich die Schweiz wegen dem säbelrasselnden Bismarck und den beiden Weltkriegen zu einer Willensnation zusammengerottet. Dafür ist der Stadt-Land-Konflikt inzwischen wieder allgegenwärtig, seine Sprengkraft grösser denn je. Die konservativ-ländliche Schweiz und die progressiv-urbane Schweiz driften immer weiter auseinander. Einzelne Akteure bewirtschaften die Ängste erfolgreich. Die Debatte über das Ständemehr wird begleitet von Ressentiments und Abwehrreflexen.
Das Ständemehr ist kein Heiligtum
Eine lebendige Demokratie zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Diese Qualität hat unser Land zum Erfolg geführt. Das Ständemehr ist kein Heiligtum, sondern sollte aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts diskutiert werden dürfen. Gegen ein Dutzend verschiedene Reformvorschläge liegen seit geraumer Zeit auf dem Tisch. Die meisten setzen direkt beim Ständemehr an, andere machen eine Stärkung der urbanen Zentren beliebt. Die Basis dieses Ansatzes: In den sechs grössten Städten leben heute mehr Menschen als in den zwölf kleinsten Kantonen.
Wir plädieren für eine sanfte Reform: die Einführung eines „qualifizierten Volksmehrs“, so wie es schon andere Politologen vorschlagen. Konkret: Erreicht das Volksmehr beispielsweise 54 Prozent, ist das Ständemehr überstimmt. Das Volksmehr erhielte eine Aufwertung, gleichzeitig würde die Position der kleinen Kantone stark bleiben.
Dieser Text ist übrigens am 13. März auch im “Bund” und im “Tages-Anzeiger” erschienen. Die iPad-Version gibts hier.
Die Debatte zum Ständemehr und Volksmehr wird hier laufend nachgeführt, Links und eigene Beiträge sind willkommen.
Zusammenstellung:
– Danke, liebe Innerschweizer
(Tageswoche, Philipp Looser, 3. März)
– SP-Nationalrat will kleine Kantone entmachten
(Tages-Anzeiger/Der Bund, Markus Brotschi, 5. März)
– Föderalismus contra Demokratie (PDF)
(NZZ, Fritz Sager & Adrian Vatter, 6. März)
– Verzweifelte Suche nach der Wende
(Newsnet, René Lenzin, 6. März)
– Roter Chorgesang (PDF)
(Weltwoche, Urs-Paul Engeler, 7. März)
– Eine dritte Standesstimme für die sechs grössten Kantone (PDF)
(NZZ am Sonntag, Elmar Ledergerber, 10. März)
– Hände weg vom Ständemehr
(CVP-Mediendienst, NR Ruedi Lustenberger, 11. März)
– Mit dem Ständemehr gegen die Tyrannei
(Ordnungspolitischer Blog/Basler Zeitung, Dominik Feusi, 18. März)
Foto Schwäne: reine-ansichtssache.com
Die dargelegte Reform entspricht einer einseitigen Aufwertung des Volksmehrs. Aus Symetriegründen, wie wäre es mit einem „qualifizierten Ständemehr“? Konkret: erreicht das Ständemehr 12.5 Standesstimmen (54% von 23), ist das Volksmehr überstimmt.
These 1: die Politik wird den Mut nicht aufbringen, einen Reformvorschlag zu erarbeiten.
These 2: jede Reform würde am Ständemehr scheitern.
‘@cram
Auch dieser Vorschlag steht im Raum und verdient es in der Debatte, die wir anregen, beleuchtet zu werden.
Zu Ihren Thesen:
1. Ich befürchte, dass Sie recht kriegen, viele Politiker vermuten, dass sie ihre Finger verbrennen würden. Wenn sich allerdings die Abstimmungen mit kollidierenden Volks- und Ständemehr häufen sollten, ändert sich das hoffentlich.
2. Klar, für eine Änderung des Ständemehrs braucht es das Ständemehr (ein sattsam verwendeter “Dreh”). Erfolgreiche Politik heisst allerdings: aufeinander zugehen. Das schaffte die Schweiz rund 140 Jahre lang vorbildlich, und seit 1990 immer noch regelmässig.
Nennen Sie mich naiv. Ich bin vor allem Optimist.
Guter Beitrag zu einer wichtigen Diskussion! Der Unterschied zwischen urbanen Zonen und ländlichen Regionen zeigt sich in dieser Abstimmung wirklich exemplarisch. Ein qualifiziertes Ständemehr ist klar zu befürworten. Darüber hinaus wäre es interessant zu sehen, ob sich die politische Kultur vielleicht weg von Kantonsidentität hin zu regionaler Zusammengehörigkeit entwickelt.
Bemerkenswert ist zudem auch der oft zitierte Röstigraben zwischen Deutsch- und lateinischer Schweiz. Ich frage mich auch, wie sich diese unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich Familienpolitik entwickeln: Ist die Kampagne anders verlaufen? Oder wird die Einstellung schon viel früher in Familie, Schule und sozialem Umfeld geprägt?
Die Ablehnung einer Verfassungsänderung durch das Ständemehr hat in der Regel nicht zur Folge, dass das gewünschte Begehren auf Kantonsebene nicht durchgeführt werden können.
Gerade im vorliegenden Fall, wo der Bund sowieso nur Richtlinien für die enzelnen Kantone erlassen kann, die dann von den Kantonen durchgeführt hätten werden müssen:
“Die Kantone sorgen insbesondere für ein bedarfsgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen.”
Jetzt ist es halt an den Kantonen – vor allem diejenigen, die Ja gesagt haben – für ausserschulische Betreuungsplätze zu sorgen.
‘@Yannick
Klar, ein Anliegen wie die Familienpolitik kann jetzt ohne Weiteres von den einzelnen Kantonen angepackt werden. Bei anderen Fragen, die dem Doppelten Mehr unterstehen, kann aber nicht so einfach auf die kantonale Umsetzungsfreiheit verwiesen werden. So unterstehen auch etwa der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften dem Doppelten Mehr.
Die Diskussion die wir hier anstossen wollen, soll sich aber vom Fall “Familienartikel” lösen. Wichtiger scheint mir die Frage ob das Doppelte Mehr noch zeitgemäss ist oder ob eventuell mal ein “Update” fällig wäre…
@Annika wirft meines Erachtens ein wichtiges Stichwort in die Runde – “Kantonsidentitäten”. Zu Zeiten der Schaffung des Ständemehrs zweifelsohne zentral, heute haben diese aber nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher.
ch habe den Artikel heute im Bund gelesen und bin über Bevölkerungsverhältnis zwischen ZH u. AI von 1:8 um 1850 und 1:40 heute gestossen, das bei einer Bevölkerung von 1.4 Mio. E. in ZH und 16’000 E. in AI. Ich finde nicht heraus, ob ich eine Fehlüberlegung mache oder ob falsche Angaben vorliegen: Wenn ich 1.4 Mio. durch 16’000 dividiere, erhalte ich die Anzahl Zürcher pro einem Appenzeller > 1 A. = 87.5 Z., demnach wäre das Verhältnis 1:87.5 oder wie?
‘@Walter Stucki
Wir haben die Zahlen dem Buch “Föderalismusreform” (2006) von Adrian Vatter entnommen. Er schreibt, dass der Halbkanton Appenzell-Innerrhoden seit 1848 kaum gewachsen ist, währenddem die Bevölkerung des Kantons Zürich um das Fünffache zunahm.
In unserem Text vermischten wir Einwohner und Stimmberechtigte. So oder so: Das Verhältnis von 1:40 (oder etwas mehr) ist erdrückend.
Was Reformvorschläge des Ständemehrs angeht, sollte man sich fragen, in wie weit das Sinn macht. Entweder man will einen Unterschied in der Gewichtung oder man will ihn nicht. Und wenn ja wie soll man es begründen, dass die Stimme des einen mehr zählt als die des anderen. Weil jemand geografisch woanders wohnt?
Andererseits sollte man auch die Kirche im Dorf lassen. Es kommt immer noch selten vor, dass das Ständemehr das Volksmehr übertrumpft.Bei hunderten von Volksentscheiden sind es nur eine Handvoll.
Das Ständemehr kann auch als Warnung vor zu großen regionalen Unterschieden in der politischen Entwicklung dienen und als Anreiz, den Abstimmungskampf homogener und integrativer auf dem Land statt nur in den urbanen Regionen zu führen, gesehen werden. Wenn es nur das Volksmehr gäbe, dann würden sich die Kampagnen nur auf die großen Städte konzentrieren, weil hier mehr Menschen mit weniger Aufwand zu erreichen sind. Die ländlichen Regionen müssen sich dann abgehängt fühlen.
BTW der Säbelrasselnde war meines Wissens Willhelm II.
Aus einem Leserbrief, den ich eben sichtete:
“In den Städten werden die wichtigsten Zeitungen und das Fernsehen gemacht, welche den Zeitgeist über das Land streuen.
Die Städte sind Macht- und Meinungszentren und kommen politisch sicher nicht zu kurz. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, ist das Ständemehr bei eidgenössischen Volksabstimmungen bitter nötig. Andernfalls diktieren uns die Städte Bedingungen und Lebensstil.”