Bei dieser Story ging es um Clickbaiting

Publiziert am 31. März 2020

Push-Nachrichten, News, Live-Ticker, Grafiken, Interviews, Reportagen, Kommentare, Einordnungen – schon seit Wochen fahren die Medien die Corona-Krise riesig. Dass sie einen soliden Job machen, notierte ich schon vor zwei Wochen. Es gibt allerdings auch immer wieder Ausreisser. Einer dieser Ausreisser greife ich hier exemplarisch auf.

Das ist die Frontseite des «SonntagsBlick». Derselbe «Aufmacher» ist auch beim Online-Portal blick.ch prominent platziert.

Die Schlagzeilen lassen keine Zweifel aufkommen, zumal sie mit einem Aufrufezeichen ergänzt sind. Der Lockdown bis Ende Sommer wird als Faktum dargestellt. (Nachtrag: Die kleingedruckte Oberzeile, also in diesem Fall «Stadt Zürich rechnet mit», wird von Medienschaffenden als «Mogelpackung» bezeichnet.)

Click, click, click – die Story dreht online gut, wie man dem im Medienjargon sagt. In den sozialen Medien wird sie kontrovers diskutiert. Ein Wort fällt dabei oft: «Panikmache.» Tatsache ist, dass der «Lockdown bis Ende Sommer!» auf einem internen Dokument basiert, das mehrere Szenarien beinhaltet.

Auf meine Nachfrage reagierte die Ringer-Medienstelle gestern Abend schriftlich: Es handle sich um «keine Zuspitzung», auf den Zusatz «Stadt Zürich rechnet mit» verweisend. Der Reporter, den ich persönlich nicht kenne, hatte sich bereits am Sonntagabend mit einer Twitter-Direktnachricht bei mir gemeldet. Er replizierte auf meine Kritik, die ich am Sonntagnachmittag mit einem Tweet kundtat. Diese Rechtfertigung weckte meine Neugierde.

Im Artikel wird aus einem vertraulichen Dokument von Schutz & Rettung Zürich zitiert. Diese Organisation umfasst Feuerwehr, Rettungsdienst, Zivilschutz, Einsatzleitzentrale und Feuerpolizei der Stadt Zürich sowie die Rettungsorganisationen des Flughafens Zürich. Ihr Lagebericht oder Teile davon fanden den Weg zum «Blick». Das nennt man Reporter-Glück. Als Kernstück für eine grosse journalistische Geschichte taugt ein solches Papier allerdings nicht.

Während Krisenzeiten ist es die Aufgabe solcher Organisationen, stetig mehrere Szenarien zu antizipieren, schriftlich festzuhalten und anderen Akteuren weiterzuleiten. Was sie schreiben, stimmt während dynamischen Krisen für den Moment. In der Schweiz weiss niemand, wie die Corona-Krise sich entwickeln wird. Für evidenzbasierte Prognosen ist es noch zu früh.

Damit zum zweiten Teil meiner Medienkritik: Der «Blick»-Reporter stützt sich auf einen veralteten Lagebericht ab. Er wurde am Dienstag, 24. März, verfasst, was im Artikel auch steht. Was dort aber nicht steht: Der Lagebericht wird täglich überarbeitet. Das hielt Schutz & Rettung auf Anfrage fest.

Der «Blick»-Mann stand im Verlaufe seiner Recherche nie in Kontakt mit der Medienstelle von Schutz & Rettung. Das ist fahrlässig. Korrekt und fair wäre es gewesen, sie für eine Stellungnahme anzufragen und die aktuelle Lage in Erfahrung zu bringen, idealerweise zeitnah zur Publikation, also am Samstag. Weder der Reporter noch die Ringier-Medienstelle beantworteten die Frage, weshalb er darauf verzichtet hatte.

Fazit: Auch in Krisenzeiten sollen Medien mit professioneller Distanz über die Arbeit der Behörden berichten. Es ist allerdings unabdingbar, dass sie sauber recherchieren und einordnen. Das war bei dieser Story nicht der Fall. Vielmehr ging es um das Bewirtschaften von Emotionen. Und es ging um Clickbaiting. Berufsethisch ist das Vorgehen des Reporters problematisch. Das vierseitige Dokument «Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» kann hier als PDF beim Berufsverband «impressum» heruntergeladen werden.

P.S.
«Blick»-Bashing hat eine lange Tradition. Mir ist das seit jeher zu einfach und ich halte fest, dass «Blick» viele ausgezeichnete Journalistinnen und Journalisten beschäftigt. Es gibt andere Medien und Sendungen, die ebenso fahrlässig recherchieren und halbgare Themen «hochjazzen», wie ich es in diesem Beispiel aufzeige. Einzelne Verfehlungen griff ich auf, etwa von der «Sonntags-Zeitung», der NZZ (über einen Leitartikel des Chefredaktors), der «Schweiz am Wochenende» oder der SRF-«Rundschau».

4 Replies to “Bei dieser Story ging es um Clickbaiting”

  1. Deine Schlussfolgerungen machen die meisten mit gesundem Menschenverstand. Mein Zusatz: Clickbating ist ein perverser Auswuchs, weil es mit der Angst der Menschen in der momentanen Situation “spielt”. Ethisch einfach nur verwerflich.

  2. Danke an die drei Kommentatoren. Zum einen spornt mich Lob an (Kritik übrigens auch). Zum anderen zeigt gerade dieses Posting, dass es den Weg zu den Leserinnen und Lesern findet. Das zeigt auch die Statistik.

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