Pierre Maudet hat sich selbst abgeschossen

In den Bergen ist die Jagdsaison im Gang. Gejagt wird auch in den Niederungen der Politik. Im Gegensatz zu anderen Politikern ist der Genfer Staatsrat Pierre Maudet aber nicht Opfer einer Kampagne. Nein, er hat sich selber abgeschossen.

Wenn Personen des öffentlichen Lebens ins Visier geraten, gibt es stets zwei zentrale Kriterien:

Erstens, die rechtliche Beurteilung: Es gilt die Unschuldsvermutung. Im Falle von Maudet hat die Genfer Staatsanwaltschaft ihre Arbeit aufgenommen. Bis ihre Untersuchung abgeschlossen ist und Resultate vorliegen, dürfte es Monate dauern.

Zweitens, eine moralische Beurteilung: Das Volk fällt sein Urteil schnell, oft auch gelenkt durch die Medien. Fakt ist: Der 40-Jährige hat mehrfach gelogen. Das wiegt schwer, der Vertrauensverlust ist gross. Maudet mag noch so kämpfen, für seine Ehre, für den Kanton Genf – das Lügenkonstrukt bleibt in Erinnerung.

Die Gesetze des Kantons Genf führen kein Amtsenthebungsverfahren auf. Maudet könnte also versucht sein, die Affäre auszusitzen. Das würden zermürbende Monate. Für ihn. Für die FDP. Für die Genfer Regierung. Es würde für Maudet ein einsamer Kampf.

Die Genfer Regierung hat ihm gestern nicht nur das Präsidium, sondern auch zentrale Aufgaben wie die Justiz und das Flughafen-Dossier entzogen – bis auf weiteres. Maudet ist nicht nur angezählt, er hat auch keinen Handlungsspielraum mehr. Wie soll er sich als flügellahmer Staatsrat (Regierungsrat in der Deutschschweiz) profilieren können?

Die Absatzbewegungen haben bereits eingesetzt. Petra Gössi, die Präsidentin der FDP Schweiz, distanzierte sich gestern Abend nicht nur von Maudet. Sie fordert ihn indirekt zum Rücktritt auf. Anders ist ihr Statement nicht zu interpretieren.

Gössis Aussage erhöht den Druck auf die Genfer FDP-Sektion. Im Oktober 2019 finden eidgenössische Wahlen statt. Die FDP hat in den letzten drei Jahren bei kantonalen Wahlen mit Abstand am meisten Sitze gewonnen, auf nationaler Ebene ist nach dem Turnaround von 2015 das Selbstbewusstsein wieder zurück; die Staatsgründer-Partei will weiter zulegen. Eine Affäre Maudet, die monatelang vor sich hin mottet, wäre für die FDP höchst problematisch, ein Imageverlust die logische Folge. Deshalb lässt sie ihn fallen.

Maudet, dieses politische Ausnahmetalent, hätte die Chance gehabt, rechtzeitig und in Würde zurückzutreten: Im Mai 2016 wurde er erstmals von einem welschen Journalisten mit der für ihn unangenehmen Wahrheit konfrontiert. Der Fall blieb aber vorerst unter dem Deckel.

Maudet hätte antizipieren müssen, dass ihm diese Recherche einmal um die Ohren fliegt. Ein glaubwürdiges «Mea Culpa» – wir mögen Politiker, die öffentlich Fehler einräumen können –, ein sofortiger Rücktritt – und der Fall wäre nach wenigen Tagen abgehakt und Maudet bald rehabilitiert gewesen. Mehr noch: Er hätte zwei Jahre später bei den Gesamterneuerungswahlen im Frühling 2018 ein Comeback wagen können. Mit guten Chancen auf Erfolg.

Was jetzt noch kommt, ist ein Sturz ins Bodenlose. Wie ein weidwundes Tier schleppt sich Maudet durch das Dickicht. Schade – für ihn. Für die FDP. Und für die Schweiz. Er wäre in acht oder neun Jahren ein sehr guter Bundesrat geworden.

“Der Parmelin-Effekt findet nicht statt”

Bei den Staatsratswahlen im Kanton Waadt vom letzten Sonntag konnten fünf von sieben Sitzen besetzt werden. Alle anderen Kandidaturen erreichten das absolute Mehr nicht. Für den zweiten Wahlgang vom 21. Mai ist Pfeffer drin. Doch zunächst der Zieleinlauf des ersten Wahlgangs, grafisch dargestellt von der NZZ:

Die bisherige Staatsrätin Béatrice Métraux (Grüne) muss nochmals antreten. Sie tut es im Päckli mit SP-Nationalrätin Cesla Amarelle. Bislang hatte Rot-Grün eine 4:3-Mehrheit in der Waadtländer Regierung. Doch mit einem überraschenden Schachzug von Mitte-Rechts ist plötzlich Dynamik aufgekommen: Die GLP hat ihren Kandidaten ausgewechselt – François Pointet raus, Nationalrätin Isabelle Chevalley (Foto unten) rein. Sie ist die bekannteste Grünliberale in der Westschweiz. Zudem paktiert die GLP mit der SVP.

Andreas Fahrländer, Redaktor bei der “Aargauer Zeitung”, nahm diese aussergewöhnliche Konstellation zum Anlass, mir ein paar Fragen zu stellen. Dieses kurze Interview und der einleitende Abschnitt sind online nicht verfügbar, wird aber deshalb hier eingepflegt:

 

“Eine neue Rechte wird im Kanton Waadt geboren”, titelte die Westschweizer Zeitung “Le Temps” gestern. Die SVP Waadt schliesst sich für den zweiten Wahlgang der Staatsratswahlen vom 21. Mai mit den Grünliberalen zusammen. Es sei ein Entscheid der Vernunft, nicht des Herzens, hiess es aus der Volkspartei. Mit dieser Allianz, zu der auch die FDP gehört, will die SVP einen der zwei verbleibenden Sitze in der Waadtländer Regierung gewinnen, in der sie seit 2011 nicht mehr vertreten ist. Parteipräsident und Nationalrat Jacques Nicolet tritt nun auf einer Liste mit Nationalrätin Isabelle Chevalley von der GLP an.

Herr Balsiger, eine Allianz aus SVP und GLP ist schon sehr gewöhnungsbedürftig, nicht?

Mark Balsiger: Auf den ersten Blick, ja. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass Parteien in der Regel agil und pragmatisch vorgehen. Politisieren heisst nicht nur, nach inhaltlichen Kriterien zu entscheiden, man muss auch kühl rechnen. Sowohl die SVP wie die GLP waren beim ersten Wahlgang am Sonntag ja ziemlich weit entfernt von einem eigenen Regierungssitz. Also spannen sie jetzt zusammen. So könnten sie die Mehrheitsverhältnisse kippen – in ein 4:3 für die Bürgerlichen.

Verkaufen die Grünliberalen da nicht ihre Seele? 

Die GLP war bei den nationalen Wahlen 2011 Meisterin der Listenverbindungen, dabei handelte es sich natürlich um Proporzwahlen. Im Kanton Thurgau etwa hat sie sich mit BDP, EVP und EDU zusammengetan. EVP und EDU sind ausgesprochen wertkonservativ, gerade bei gesellschaftspolitischen Themen also von der GLP weit entfernt. Aber es ging um Macht, einen Nationalratssitz, den man so gemeinsam holen konnte. Er ging prompt an die GLP; 2015 verlor sie ihn allerdings wieder.

Seit der Abwahl von Oskar Freysinger aus dem Walliser Staatsrat ist die SVP in keiner Westschweizer Regierung mehr vertreten. Warum tut sich die wählerstärkste Partei des Landes da so schwer?

Die SVP erlebt in der Romandie einen Jojo-Effekt. Eine Zeit lang konnte sie stark zulegen und hat in den Kantonen Neuenburg, Waadt und Wallis auch Regierungssitze gewonnen, inzwischen hat der Wind aber wieder gedreht. Die SVP-Regierer überzeugten nicht, einer verstarb 2011 im Amt. Der Parmelin-Effekt findet nicht statt.

Woran liegt das?

Es fehlt das Personal. Überall dort, wo die SVP mit bekannten und konsensfähigen Leuten antritt, die in die politische Mitte ausstrahlen, schafft sie es in die Regierung. Das konnte man beispielsweise in Zürich, Schaffhausen oder Luzern beobachten. SVP’ler, die regelmässig bellen und provozieren, werden nicht gewählt. Das ist bei der Linken übrigens nicht anders. In den Exekutiven wollen Herr und Frau Schweizer gemässigte Leute, die solide politisieren.

Oskar Freysinger: Gestern Showstar und Schaumschläger, heute Staatsrat

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VON MARK BALSIGER

An diesem Resultat gibt es nichts zu deuteln: Oskar Freyinger distanziert auch im zweiten Wahlgang der Walliser Staatsratswahlen (Regierungsrat) alles Bisherigen klar. Sein Name steht auf fast jedem zweiten Wahlzettel. Das ist eine bravouröse Leistung, zumal sie in einem Kanton zustande kam, in dem die allmächtige C-Partei bislang nach Belieben entschied, was Sache ist und wer zu den Futtertrögen vorgelassen wird.

Das Machtkartell der CVP ist damit aufgebrochen, Freysinger war als bekanntester Kopf der SVP der Rammbock, ohne als solcher agiert zu haben. Im Gegenteil: Er ist charmant, charismatisch und eloquent. Er liest mit seinen Schülern Prosa von Rilke und zupft die akustische Gitarre. Des Weiteren nimmt er sich selber nicht immer ernst und pflegt einen souveränen Umgang mit Kritik. Gäbe es auch noch für die Medientauglichkeit ein Ranking, Freysinger wäre seit seiner Wahl in den Nationalrat 2003 stets auf dem Podest gelandet.

Was dem frischgebackenen Staatsrat abgeht: Er hat keine ideologische Verankerung. Zu Beginn seiner politischen Laufbahn war er CVP-Mitglied. Aber weil dort der Lift nach oben besetzt war, wechselte er geschmeidig und zum richtigen Zeitpunkt das Parteibuch. Das haben andere Politiker vor ihm auch schon getan, vor 30 Jahren beispielsweise der damalige SRG-Ansager Maximilian Reimann, der bei der Aargauer SVP schnell einmal Nationalrat, später sogar Ständerat wurde.

Hätte im Wallis der Neunzigerjahre eine andere Partei als die SVP kräftig Auftrieb erhalten, Freysinger wäre ihr begetreten. Das nennt man Opportunismus, ist in der Politik aber weit verbreitet. Der Mittelschullehrer ist ein Gambler. Wo er mitwirkt, sind Wirbel und Spektakel garantiert. Würde man aber Bundeshausjournalisten fragen, in welchen Kommissionen Freysinger tätig ist, erntete man ein Schulterzucken. Man erinnert sich an kein Geschäft, welches er entscheidend geprägt hätte. Die politische Knochenarbeit interessiert ihn nicht. Mit seinem rhetorischen Talent kann er bei Interviews und TV-Debatten bescheidenste Dossierkenntnisse kaschieren.

Freysinger liebt das Scheinwerferlicht, den Schlagabtausch, die Provokation. In dieser Disziplin ist er ein Meister, obwohl er in der Vergangenheit den Bogen gelegentlich überspannt hat. Etwa als er bei islamophoben Kreisen in Frankreich und Deutschland auftrat, den niederländischen Populisten Geert Wilders ins Wallis holen wollte oder sich über Nacht mit einem schlüpfrigen Gedicht (Bortoluzzi-Fuzzi) schweizweit bekannt machte. Dieser Auftritt anno 2002 und sein Übername als “Pissoir-Poet” blieben bis heute an ihm haften.

Im Walliser Staatsrat dürfte Freysinger die Erziehungsdirektion übernehmen müssen. Dort nützen ihm seine bühnenreifen Auftritte irgendeinmal nicht mehr. Stattdessen zählt, was er in Bildung und Kultur zustande bringt. Dafür braucht es profunde Dossierkenntnisse sowie die Befähigung, zuzuhören und Allianzen zu schmieden. Es ist möglich, dass Freysinger der Wechsel vom Showstar zum Staatsrat gelingt. Vielleicht wird er aber auch geröstet von den FDP-Radikalen, die wegen ihm aus der Regierung flogen.

 

Weitere Beiträge:

“Die Walliser Politik macht sich in der Schweiz lächerlich”
Interview mit alt Bundesrat Pascal Couchepin
(Bund & Tages-Anzeiger, 16. März, Jean-Martin Büttner)
“Das Wallis kann nicht mehr streiten”
Interview mit alt SP-Präsident Peter Bodenmann
(Basler Zeitung, 16. März, Sereina Gross)
Oskar Freysinger entre au gouvernement valaisan, le PLR en sort
(24heures, 17. März)
FDP-Liberale nicht mehr im Staatsrat
(NZZ, 17. März, Luzius Theler)
Mit Gedichtband und Gitarre
(NZZ, 17. März, Martin Senti)
Sonderfall Wallis: Einheit durch Spaltung
(Infosperber, 14. März, Kurt Marti)

Anleitung zum Auffallen
(Newsnet, 22. März, Jean-Martin Büttner)
“Das Wallis braucht einen Rebellen”
Interview mit Oskar Freyinger
(Berner Zeitung, 25. März, Gregor Poletti und Peter Meier)

 

 

Foto Oskar Freysinger: keystone

Die Grünen haben neue Aushängeschilder an der Spitze, aber ein altes Problem

 

Parteipräsidenten sind in der durch und durch medialisierten Politik omnipräsent. Sie geben ihren Parteien ein Gesicht und prägen deren Image. Ueli Leuenberger von den Grünen war keine glückliche Besetzung für dieses höchst anspruchsvolle Aufgabe. Er wirkte in seinen öffentlichen Auftritten zuweilen wie lauwarmer Lindenblütentee ohne Zucker.

In Bezug auf die Auftrittskompetenz aus einem ganz anderen Holz geschnitzt sind die Nationalrätinnen Adèle Thorens (VD;  Foto oben) und Regula Rytz (BE). Das neue Co-Präsidium, das die Delegierten heute Nachmittag in Genf wählten, kann sogar zum Glücksgriff für die Partei werden: Die beiden Frauen teilen sich die Arbeit und sind in den beiden grossen Sprachregionen präsent. So können sie in ihrer Muttersprache parlieren und die Überzeugungen der Grünen mit ihrer gewinnenden Art erklären.

Thorens gilt als liberale Politikerin, die très charmante, authentisch und deswegen überzeugend auftritt. Rytz vereint viele Qualitäten auf sich:  Sie ist enorm fleissig, dossiersicher, gescheit, humorvoll und kommunikativ. Gleichzeitig ist sie uneitel, das Sauertöpfische, das einigen ihrer Parteikolleginnen nachgesagt wird, hat sie nicht. In der Stadtberner Exekutive beobachtet man sie seit sieben Jahren als Pragmatikerin, die gestalten will und das auch schafft.

Grüne und SP verpassten es, sich strategisch abzusprechen

Seit Sommer 2011 steht die soziale Frage wieder vermehrt im Brennpunkt. Das begünstigt traditionell die SP, die in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutend mehr Glaubwürdigkeit und Kompetenz hat als die Grünen. Diese wiederum vergossen in den letzten Jahren viel Herzblut für Themen wie Palästina, Sans Papiers, Kampfflugzeuge und Mindestlöhne. In ihrem ureigenen Kerngebiet, der Umweltpolitik, waren aber kaum Schlüsselfiguren präsent, die mit profundem Know-how überzeugten.

Die Profile der Grünen und der SP sind praktisch deckungsgleich. Die beiden linken Parteien verpassen es seit vielen Jahren, ihre Positionen strategisch abzusprechen und so ein breiteres Spektrum für sich zu erobern. Auf diese Weise könnten sie gemeinsam die 30-Prozent-Marke knacken. Die Sozialdemokraten sind seit dem letzten Herbst wieder im Aufwind, die Grünen schwächeln: Bei den jüngsten Wahlen verloren sie an die SP und die Grünliberalen. Das zeigte beispielsweise die Wählerstromanalyse der Nationalratswahlen 2011 auf.

Die Grünen müssten sich auf ihre grünen Kernthemen konzentrieren und dort zu einer Kraft werden, an der niemand vorbeikommt. Die Welt einmal täglich zu retten reicht nicht, es braucht realistische Lösungsansätze. Mit Thorens und Rytz (Foto unten) haben sie dafür vermutlich die besten Verkäuferinnen gewählt. Dass die Basis und einzelne Schlüsselfiguren – bunt zusammengewürfelt wie eh und je – weiterhin ein Potpourri an Themen besetzen wollen, liegt auf der Hand. Unter dem Strich geht so allerdings das Gestalterische und die Durchschlagskraft verloren. Ein Problem, das so alt ist wie die Grünen selbst.


Weitere Analysen:

Maya Grafs Appell an ihre Parteipräsidentinnen (Tageswoche, 21.04.)
Ein Start mit schwerer Hypothek (Newsnet, M. Chapmann, 22.04.)
Grüne auf Identitätssuche (NZZ, M. Schönenberger, 22.03.)
Interviews:

Tagesgespräch DRS1 mit Co-Präsidentin Regula Rytz (23.04.2012)


Foto Regula Rytz: Béatrice Devénes

SVP-Sünneli steht wieder etwas tiefer

Am ersten Jahrestag des Supergaus in Fukushima strahlte das gelb-rote Anti-AKW-Symbol an zahllosen Manifestationen. Das SVP-Sünneli hingegen macht einen Lätsch: Die SVP musste gestern bei Parlamentswahlen in drei Kantonen der deutschen Schweiz massive Verluste hinnehmen, der Trend der Nationalratswahlen setzt sich vor.

Der gestrige Wahltag dürfte SVP-Parteipräsident Toni Brunner (Foto) gleich doppelt schmerzen: In seinem Heimatkanton St. Gallen schaffte sein Kompagnon Stefan Kölliker die Wiederwahl als Regierungsrat nur äusserst knapp, bei den Parlamentswahlen setzte es für die SVP gar eine Schlappe ab.

In St. Gallen büsst die SVP 6 Sitze ein, in Schwyz ebenfalls, in Uri verliert sie 4 Sitze. Das sind happige Verluste, die die Volkspartei fünf Monate nach den Nationalratswahlen erlitt. Der Trend von damals – minus 2,3 Prozentpunkte – setzt sich also fort, ein Muster wird erkennbar.

Die nüchternen Zahlen von gestern blenden allerdings aus, dass die SVP in den Kantonen St. Gallen und Schwyz weiterhin die klar stärkste Kraft bleibt und in Uri ex-aequo mit der FDP die zweitgrösste Fraktion stellt. Zieht man in Betracht, dass noch vor 20 Jahren in St. Gallen und Uri keine Kantonalsektionen existierten und die SVP Schwyz eine Kleinpartei war, präsentieren sich die Resultate in einem anderen Licht.

Erklärungsversuche für die massiven Sitzverluste, von der Affäre Hildebrand bis zu Bundesrat Ueli Maurers Taschenspielertricks mit dem Gripen, dürften zu kurz greifen. Der Hauptgrund ist einfacher: Die SVP konnte vor vier Jahren überwältigende Siege erringen, im Kanton Schwyz beispielsweise mit einem Plus von 14 Mandaten. Diese Erdrutsche wurden wegen Christoph Blochers Abwahl aus dem Bundesrat möglich. In den ersten kantonalen Wahlen nach diesem Erdbeben entlud sich die Wut vieler konservativer Wählerinnen und Wähler. Vorab die CVP musste dafür büssen.

Fazit: Die SVP bleibt in der Negativspirale. Das wird der politischen Konkurrenz weiter Mut und Auftrieb geben. Der stetige, 20 Jahre andauernde Aufstieg der Volkspartei ist vorbei, wenn auch auf hohem Niveau, der Nimbus der Unbesiegbaren endgültig gebrochen. Ob Positionierungs-, Richtungs- und Personaldiskussionen über eine längere Zeitspanne immer wieder für Unruhe innerhalb der Partei sorgen werden, bleibt abzuwarten.

Mark Balsiger

Nachtrag vom Montag, 12. März 2012, 18 Uhr:

Auch die Schweizer Presse widmet sich heute dem Abschneiden der SVP an den kantonalen Wahlen. So auch der “Tages-Anzeiger”. Er wertet die Niederlagen als “Zeichen für die Ankunft in der Normalität”:

Willkommen in der Normalität (TA vom 12. März, Hannes Nussbaumer; PDF)

Schlicht falsch ist in der Tagi-Analyse, dass die gestrigen Wahlen die ersten seit den Nationalratswahlen im Oktober 2011 gewesen waren. Den meisten Medien ist derselbe Fehler unterlaufen. Tatsächlich fanden die ersten kantonalen Wahlen nach den “Eidgenössischen” bereits am 13. November 2011 statt, und zwar in Freiburg.

Dabei legte die SVP 3 Sitze zu. Zählt man den Sitzgewinn von gestern im Kanton Waadt dazu, präsentiert sich der Zwischenstand für die SVP nach 5 kantonalen Wahlen wie folgt:
– minus 16 Sitze in der deutschen Schweiz
– plus 4 Sitze in den frankofonen bzw. zweisprachigen Kantonen.


Nachtrag vom 17. April 2012:

Gestern fanden im Thurgau kantonale Wahlen statt. Dabei verlor Die SVP rund 6 Wählerprozente bzw. 10 Sitze. Das ist eine veritable Schlappe, die in dieser Deutlichkeit nicht erwartet wurde, zumal die SVP Thurgau seit jeher als moderate Sektion gilt. Politologe Claude Longchamp erkennt im Interview für die SVP schweizweit eine Wende, das flächendeckende Erfolgsrezept der letzten 20 Jahre sei Vergangenheit.

 

Updates und weitere Analysen:

Das Märchen vom Abwärtstrend der SVP (Daniel Bochsler, 21.04.2012, Sonntag)

Micheline Calmy-Rey eint die SP-Fraktion

Taktieren, Ellbogen ausfahren, intrigieren, kämpfen und sich durchsetzen – das hat Micheline Calmy-Rey auf dem harten Genfer Pflaster gelernt, als sie noch Parteipräsidentin und später Regierungsrätin war. Mit ihrer Rücktrittsankündigung von eben schlug sie nochmals allen ein Schnippchen. Und sie zeigt ihrer eigenen Fraktion einen Ausweg aus dem Dilemma.

 

Es liegt auf der Hand, dass Micheline Calmy-Rey (Foto) auf Ende 2011 zurücktritt. So kann sie ihr Präsidialjahr ordentlich beenden und hat dannzumal genau neun Jahre in der Landesregierung hinter sich. Dass sie seit Monaten als “Primus inter pares” sehr gut unterwegs ist, wird kaum bestritten. Diese Wahrnehmung kontrastiert deutlich mit ihrem Standing in früheren Jahren, als sie immer mal wieder heftig angeschossen worden war. Calmy-Rey erwischt also einen guten Zeitpunkt für ihren Abschied aus der Politik.

Mit ihrer Rücktrittsankündigung schafft sie nun Klarheit, nachdem die Spekulationen schon seit Monaten ins Kraut geschossen waren. Zuerst verständigte sich die vereinigte Medienschar darauf, dass Calmy-Rey direkt nach den Sommerferien über ihre Absichten informieren würde. Als diese Phase vorüber war, bekam eine andere Option Oberwasser: “Rücktrittsankündigung kurz nach den Wahlen vom 23. Oktober.”

Als ausgemacht gilt bei der SP, dass ein Mann aus der Romandie die Nachfolge von Calmy-Rey antreten soll. Gehandelt werden schon seit Langem die Namen von Alain Berset (Ständerat, FR), Christian Levrat (Nationalrat und SP-Parteipräsident, FR), Pierre-Yves Maillard (Regierungsrat, VD, 1999 bis 2004 Nationalrat)  sowie Jean Studer (früher Ständerat, heute Regierungsrat, NE). Levrat und Studer dürften allerdings erst gar nicht auf das Karussell aufspringen. Levrat, weil er seinem Freund Berset den Vortritt lassen möchte, Studer, weil ein kleiner Kanton wie Neuenburg nebst Didier Burkhalter keinen zweiten Bundesratssitz kriegen dürfte.

Natürlich formuliert die SP Schweiz die Kriterien für die Nachfolge offener: “Mann oder Frau, lateinische Schweiz” sind die zentralen Punkte dafür. Ob das ausreicht, um das Karussell mit etlichen Papabili von Genf bis Lugano und von Pruntrut bis Sion zu bestücken, bezweifle ich sehr. Die absehbare Konstellation – voraussichtlich zwei Kandidaten – ermöglicht der SP keine Wiederholung des Stich-Effekts von anno 1995. Kommt dazu, dass in der deutschen Schweiz die Namenskür von welschen Sozialdemokraten keine grossen Wellen schlagen wird.

Die Entscheidung Calmy-Reys hat auch anderweitig Auswirkungen: Die SP-Fraktion weiss nun, was es geschlagen hat. Will sie am 14. Dezember ihre zweiten Bundesratssitz retten, ist sie auf Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager angewiesen. Im Vordergrund steht ein Päckli mit der FDP, die ebenfalls stark bedrängt wird. Wenn die gegenseitige Unterstützung spielt, können beide Parteien ihre beiden Sitze erfolgreich verteidigen.

Für die SP heisst das aber auch: Sie muss Eveline Widmer-Schlumpf fallen lassen und einem SVP-Kandidaten den Vorzug geben. Wird Widmer-Schlumpf nämlich wiedergewählt (sie ist bereits in der zweiten Wahlrunde an der Reihe), kommt es in der siebten und letzten Wahlrunde  zu einem Showdown zwischen einem SVP-Kandidaten (im Vordergrund steht erneut Jean-François Rime) und einem SP-Romand. Ein solcher Zweikampf kann ins Auge gehen – für die SP. Calmy-Reys Rücktritt dürfte nun ihre eigene Fraktion einen.

Mark Balsiger

 

 

Der SVP-Bulle und die CVP-Kuh

Die Währung der Politik heisst Aufmerksamkeit, die Währung der Onlinemedien Klicks und Kommentare. Et voilà:

Und auch ich übernehme dieses Sujet der Walliser SVP. Weil es andere auch schon getan haben, weil es viele Klicks generiert, weil mir die Zeit fehlt für ein eigenständiges Thema, weil ich nicht viel nachdenken mag – wie andere vielleicht auch nicht.

Wie der Bulle – für seinen Jahrgang ziemlich rüstig – auf die Kuh kam, präziser: wer dieses Oevre kreierte, ist noch nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, dass die schwarze Kuh zur CVP gehört, Lara heisst und die Wahlen gewinnen will. Nicht die Kuh, die ist eigentlich apolitisch, nein, die CVP. Die macht eigentlich Politik.

Der SVP-Bulle ist übrigens noch namenlos. Womöglich wäre es ein erfolgversprechender Coitus secundus für diesen famosen Aufmerksamkeitserreger, wenn Nationalrat Oskar Freysinger am nächsten Samstag in seinem Garten einen Benamsungsworkshop durchführte. Zum krönenden Schlussbouquet würde er Prosa drechseln für die Nachwelt. Der serbische Schriftstellerverband geriete zweifellos in Verzückung. Zottel vielleicht auch.

P.S.   Freysinger reichte im Februar eine Klage ein gegen das welsche Satiremagazin Vigousse. Wegen einer Karikatur.

Karikatur: via newsnetz

Micheline Calmy-Rey singt im TV

Der “Donnschtigs-Jass” gehört zum Schweizer Fernsehen SF wie die Butter aufs Brot. Seit mehr als 40 Jahren wird dieser bodenständige Klassiker in die gute Stube gesendet, und die Schweizerinnen und Schweizer gucken hin. In der Ausgabe vom kommenden Donnerstag gibts einen besonderen Hingucker: Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (Foto) tritt auf als Sängerin.

Die Genferin singt Berndeutsch, ein Lied von Mani Matter, und zwar “Dene, wo’s guet geit”. Ihr Auftritt wird nicht live gegeben, sondern im Bundeshaus vorproduziert.

Ein singendes Mitglied der Landesregierung vor der versammelten TV-Gemeinde Schweiz – das ist keine Premiere. Im Mai 2007 trat Micheline Calmy-Rey bereits einmal als Sängerin auf. Damals in der TSR-Sendung “Coups de coeur”, wo sie “les trois cloches” interpretierte, ein Lied, das Edith Piaf berühmt machte. Man erinnert sich: der Auftritt der Bundesrätin war solid, ihre Stimme ziemlich gut.

Calmy-Reys TV-Debüt als Sängerin schlug damals keine hohen Wellen. Weil es in der welschen Schweiz stattfand. Weil sonst viel auf der Agenda stand. Weil Calmy-Rey damals auf einer Popularitätswelle ritt. Weil es noch keine kraftvollen Onlinemedien gab, die wie Brandbeschleuniger wirken können.

Dieses Mal dürfte das anders sein. Auch weil Calmy-Rey seit geraumer Zeit gegen heftige Kritik kämpfen muss.

Micheline Calmy-Rey singt im TV – da stellen sich Fragen: Wo sind die Grenzen für Spitzenpolitiker? Gilt “Anything goes”, Narrenfreiheit für alle? Wird dieser Auftritt zum Coup oder zum Gau, ist er volkstümmlich oder volks-dümmlich?

Foto Micheline Calmy-Rey: srgssrideesuisse.ch

Schnappschuss des Tages (1) – heute: Pascal Couchepin, designierter Kolumnist

 

Das Wahlkampfblog fokussiert seit jeher auf politische Themen, die selten leicht verdaulich sind, auch wenn ich mich bemühe, nicht alles tierisch ernst auszubreiten. Ab und an ein Häppchen “light” könnte also nichts schaden. Beim Fussmarsch durch die wirbelnden Schneeflocken kam mir eben die Idee: eine neue leichte Rubrik muss her.

Sie heisst Schnappschüsse. Inspiriert wurde ich nicht nur vom Schnee, sondern auch von Frau Chnübli. Sie pflegt einen süffigen Schreibstil und geizt nicht mit privaten Details – offensichtlich die richtige Mixtur für ein erfolgreiches Blog. Ihre Erkenntnis: Die Besucherinnen und Besucher wollen “vor allem Föteli aaluege”.

Hier sollen es originelle Fotos sein. Der Schnappschuss von Pascal Couchepin ist ein würdiger Auftakt für diese Rubrik. Der Alt-Bundesrat aus Martigny wird Kolumnist im “Forum” von Radio Suisse Romande. Jede zweite Woche ist er von nun an auf diesem Sender zu  hören.

Couchepin war nicht nur ein “animal politique” und Machtmensch, er ist vor allem auch ein Denker mit einem grossen Hinterland. Dass er diese Seite nach seiner langen politischen Laufbahn jetzt vermehrt und in der Öffentlichkeit anklingen lassen kann, ist nicht nur gut für ihn, sondern auch eine Bereicherung für die Westschweizer. Sie sind zu beneiden.

Wer mit der Wahl von Didier Burkhalter auch noch gewonnen hat

Seit Monaten wurde der heutige Morgen unter der Bundeshauskuppel als Wahlkrimi apostrophiert, man hoffte auf Spektakel. Daraus wurde nichts, und das ist gut so.

Nicht nur Didier Burkhalter und die FDP haben heute gewonnen. Es gibt weitere Gewinner:

– Die 245 Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung (der Sitz des verstorbenen Solothurner Ständerats Ernst Leuenberger ist derzeit noch verwaist) zeigten sich diszipliniert, keine verbalen Ausrutscher, keine riskanten Spielchen, kaum Seitenhiebe am Rednerpult. Damit verdienten sie sich Punkte und Glaubwürdigkeit.

– Die Kohäsion der Schweiz bleibt gewährleistet, nur noch ein Bundesratsmitglied mit welscher Zunge hätte zu wüsten Reaktionen geführt.

– Mit dieser Wahl werden die politischen Institutionen und das System gestärkt. Der Bundesrat verliert einen Provokateur und gewinnt einen Teamplayer.

– Die arithmetische Konkordanz, die 1959 eingeführt wurde, bleibt bestehen. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf gilt für mich weiterhin als SVP-Politikerin, weil sie als solche gewählt wurde. (Inhaltlich geht sie weiterhin als SVPlerin durch.)

– Die SP, die einige Stimmen zur Wahl von Burkhalter beigesteuert hat. Damit reduziert sie die Gefahr, im Dezember 2011 bei den Gesamterneuerungswahlen von der FDP im Stich gelassen zu werden. Und das wiederum lässt weit vor diesem Termin auf eine Fortführung der stabilen Verhältnisse hoffen.

Es gibt zweifellos auch Verlierer am heutigen Tag und weit darüber hinaus. Ich will sie bewusst nicht benennen, das tun andere schon zur Genüge. Die Betonung des Negativen, der weit verbreitete Zynismus und das Bashing, das an Stammtischen und in virtuellen Foren zum Courant normal geworden ist, widern mich an.

Mark Balsiger