SP hat auf das falsche Pferd gesetzt

Mit dem zweiten Wahlgang von gestern verlor die Luzerner SP ihren traditionellen Sitz in der fünfköpfigen Regierung. Die Enttäuschung ist gross – bei der Partei wie ihrer Kandidatin Felicitas Zopfi. Beide hadern – und gehen mit den bürgerlichen Parteien hart ins Gericht.

Diese Reaktion ist nachvollziehbar. Nicht ausblenden sollte man allerdings die eigenen Fehler. So steht Zopfi im Ruf, eine linientreue und dogmatische Sozialdemokratin zu sein. In einem durch und durch bürgerlichen Kanton sind SP-Kandidatinnen aber auf Stimmen aus der politischen Mitte angewiesen, wenn sie in der Regierung vertreten sein wollen. Das ging in Luzern offensichtlich vergessen.

Wie man es mit einer neuen Kandidatin schafft, zeigte die SP Luzern im Jahr 2003, als sie Yvonne Schärli problemlos durchbrachte. (Damals musste sämtliche Kandidatinnen und Kandidaten in einen zweiten Wahlgang – eine Luzerner Besonderheit.)

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Um es salopp zu sagen: Die Luzerner SP hat auf das falsche Pferd gesetzt. Zu diesem Thema durfte ich Flurina Valsecchi von der “Neuen Luzerner Zeitung” ein paar Fragen beantworten.

 

Felicitas Zopfi war im gestrigen 2. Wahlgang chancenlos. Was ist passiert?

Mark Balsiger: Die SP konnte ihre Reihen zu wenig schliessen und zu wenig ihre eigenen Wähler an die Urne bringen. Kommt hinzu, dass sich das linke Lager schon von Anfang an mit den drei Kandidaten (Zopfi, Irina Studhalter und Michael Töngi) viel zu stark verzettelt hat. Linke und Grüne hätten unbedingt zusammenspannen müssen. Gehapert hat es auch bei der Unterstützung der CVP, darauf wäre die SP angewiesen gewesen. Aber auch hier ist die Basis nicht oder viel zu wenig der offiziellen Parteiparole gefolgt, wonach alle Kräfte in der Exekutive hätten eingebunden werden sollen.

Ging es gestern also gar nicht um die viel diskutierte Frauen-Frage?

Nein, das Resultat zeigt, dass dieser Punkt keine zentrale Bedeutung an der Urne hatte. Das Argument «Frau» kann ein Vorteil sein, in der gestrigen Wahl aber konnte die SP mit diesem Trumpf nicht stechen.

Welche Fehler hat die SP gemacht?

Felicitas Zopfi war die falsche Kandidatin. Dass es mit diesem Perso­nal­entscheid im klar bürgerlich dominierten Kanton Luzern schwierig werden könnte, das hätte die SP bereits im Vorfeld der Nomination erkennen müssen. Helene Meyer-Jenni, die ehemalige Krienser Gemeindepräsidentin, hätte den SP-Sitz in der Regierung sichern können. Zopfi wird als überzeugte, dogmatische Linke wahrgenommen, Meyer-Jenni dagegen politisiert viel moderater, kann auch Mitte-Wähler überzeugen, hat bei ihren Auftritten die grössere Ausstrahlung und bringt mehr Führungserfahrung mit.

Hätte die SP für den 2. Wahlgang ihre Kandidatin auswechseln sollen?

Damit hätte die SP allerdings Zopfi, die ja bis vor kurzem Parteipräsidentin war, desavouiert. Zudem: Die Auswahl an Frauen, die tatsächlich bereit gewesen wären, in die Bresche zu springen, war sicherlich sehr klein. Niemand wollte sich verheizen lassen.

Ganz anders verlief die Wahl für Marcel Schwerzmann…

…der mit seiner bisherigen Arbeit die bürgerlichen Wähler überzeugte. Er konnte auf einen grossen Bonus zählen: Auswertungen zeigen nämlich, dass in der Schweiz die amtierenden Regierungsräte in 93 Prozent der Fälle wiedergewählt werden.

Auch der SVP-Mann Paul Winiker überraschte mit einem guten Resultat.

Richtig, er gehört zu jenem Typ SVP-Politiker, der für viele Bürger wählbar ist. Er bringt einen politisch überzeugenden Rucksack mit, ist mit einem Hochschulabschluss gut ausgebildet und hat ein moderates, gmögiges Auftreten.

Die Wahl von Winiker und Schwerzmann bedeutet aber auch, dass jetzt keine Frau mehr in der Luzerner Regierung vertreten ist.

Mit dieser geschlossenen Männerrunde – alle gehören zur selben Generation – sendet Luzern ein merkwürdiges Signal aus. Nur der Kanton Tessin wird ebenfalls einzig von Männern regiert. Hier stehen alle grossen Parteien in der Pflicht: Sie haben es verpasst, rechtzeitig Frauen für eine solche Spitzenposition aufzubauen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen, sie werden jetzt in der Exekutive ausgeschlossen. Das ist ernüchternd und motiviert junge talentierte Frauen nicht, auf die Karte Politik zu setzen.

 

Luzerner SP zittert um ihren Regierungssitz

Keine Überraschung bei den Regierungsratswahlen im Kanton Luzern: Die Bisherigen der ehemaligen Kulturkampfparteien CVP und FDP wurden komfortabel wieder gewählt, alle anderen Kandidierenden scheiterten am absoluten Mehr. Der Kampf um die Plätze 4 und 5 entscheidet sich im zweiten Wahlgang am 10. Mai. Voraussichtlich wird er von einem Trio ausgefochten.

LU_RR_Zieleinlauf_2015_03_28_zentralplus_580_get_img Beim zweiten Wahlgang gilt das relative Mehr, das heisst am 10. Mai sind die beiden bestklassierten Kandidierenden automatisch gewählt. Die Ausgangslage ist offen. Die drei möglichen Szenarien:

a) Status Quo:
Der Bisherige Marcel Schwerzmann (parteilos, aber FDP-nahe) sowie Felicitas Zopfi (sp) werden gewählt, Paul Winiker (svp) hat das Nachsehen. Für dieses Szenario spricht die Statistik: mehr als 90 Prozent aller Regierungsräte in der Schweiz werden wieder gewählt. Zudem ist es Standard, wenn ein frei werdender Sitz wieder von derselben Partei (in diesem Fall von der SP) besetzt wird.

b) SP raus, SVP rein:
Der Kanton Luzern ist durch und durch bürgerlich geprägt. Verständigen sich die drei bürgerlichen Parteien CVP, FDP und SVP zu einem Schulterschluss, komplettiert der Krienser Gemeindepräsident Paul Winiker (svp) die Regierung. Für dieses Szenario spricht, dass die Wirtschaftsverbände schon im Vorfeld eine rein bürgerliche Regierung, also ohne SP, propagierten. Ein solcher Schulterschluss bei den kantonalen Wahlen im Baselbiet von Anfang Februar erfolgreich.

c) Der Parteilose raus, die SVP rein:
Vor acht Jahren schaffte der parteilose Marcel Schwerzmann in einem turbulenten zweiten Wahlgang den Sprung in die Regierung. Er setzte sich gegen Peter Unternährer, der von der SVP für den bisherigen Regierungsrat Daniel Bühlmann (Schwerzmanns ehemaliger Vorgesetzter) ins Rennen geschickt wurde, durch.

In mittelgrossen und grossen Kantonen sind parteilose Regierungsräte eine Rarität. (Von 1999 bis 2008 gab es im Aargau mit Kurt Wernli einen Parteilosen in der Regierung; allerdings war der langjährige SPler wegen seiner wilden Kandidatur gegen die offizielle SP-Kandidatin ausgeschlossen worden.) Ihnen fehlt eine Fraktion, mit der sie sich austauschen können, und damit ein Resonanzkörper. Kommen die Luzerner Parteispitzen zum Schluss, dass alle grossen politischen Kräfte in der Regierung vertreten sein sollten, würden der als gemässigt geltende Winiker und Zopfi das Rennen machen, Schwerzmann hingegen ausscheiden.

Fazit: Die SP muss um ihre Regierungsbeteiligung, die sie seit 1959 innehat, zittern. Das Schicksal ihrer Kandidatin liegt in den Händen der CVP- und FDP-Wähler. Bislang hat sie nicht zustande gebracht, was die bisherige SP-Regierungsrätin Yvonne Schärli konnte: bis in die politische Mitte ausstrahlen. Als eigentliche Schiedsrichterin fungiert die CVP, die einen Wähleranteil von 30 Prozent hat. Sie entscheidet, ob die Luzerner Regierung in den kommenden vier Jahren ein rein bürgerliches und rein männliches Gremium wird. Der ehemalige Parteipräsident Martin Schwegler spricht sich in seinem Blog für eine Vertretung mit SVP und SP aus.

Mark Balsiger

Grafik: zentralplus


P.S.
Was das neue Luzerner Parlament
in jedem Fall korrgieren sollte, ist der Wildwuchs mit vorgedruckten Listen (siehe Foto unten). Es grenzt an eine Veräppelung des Wahlvolkes, dass wegen acht Kandidierende nicht weniger als 15 verschiedene Listen verteilt wurden. Andere Kantone haben diesen Unfug längst gestoppt. Demokratiepolitisch korrekt wäre ein Blankoliste mit fünf Zeilen, die handschriftlich auszufüllen sind.

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SVP-Sünneli steht wieder etwas tiefer

Am ersten Jahrestag des Supergaus in Fukushima strahlte das gelb-rote Anti-AKW-Symbol an zahllosen Manifestationen. Das SVP-Sünneli hingegen macht einen Lätsch: Die SVP musste gestern bei Parlamentswahlen in drei Kantonen der deutschen Schweiz massive Verluste hinnehmen, der Trend der Nationalratswahlen setzt sich vor.

Der gestrige Wahltag dürfte SVP-Parteipräsident Toni Brunner (Foto) gleich doppelt schmerzen: In seinem Heimatkanton St. Gallen schaffte sein Kompagnon Stefan Kölliker die Wiederwahl als Regierungsrat nur äusserst knapp, bei den Parlamentswahlen setzte es für die SVP gar eine Schlappe ab.

In St. Gallen büsst die SVP 6 Sitze ein, in Schwyz ebenfalls, in Uri verliert sie 4 Sitze. Das sind happige Verluste, die die Volkspartei fünf Monate nach den Nationalratswahlen erlitt. Der Trend von damals – minus 2,3 Prozentpunkte – setzt sich also fort, ein Muster wird erkennbar.

Die nüchternen Zahlen von gestern blenden allerdings aus, dass die SVP in den Kantonen St. Gallen und Schwyz weiterhin die klar stärkste Kraft bleibt und in Uri ex-aequo mit der FDP die zweitgrösste Fraktion stellt. Zieht man in Betracht, dass noch vor 20 Jahren in St. Gallen und Uri keine Kantonalsektionen existierten und die SVP Schwyz eine Kleinpartei war, präsentieren sich die Resultate in einem anderen Licht.

Erklärungsversuche für die massiven Sitzverluste, von der Affäre Hildebrand bis zu Bundesrat Ueli Maurers Taschenspielertricks mit dem Gripen, dürften zu kurz greifen. Der Hauptgrund ist einfacher: Die SVP konnte vor vier Jahren überwältigende Siege erringen, im Kanton Schwyz beispielsweise mit einem Plus von 14 Mandaten. Diese Erdrutsche wurden wegen Christoph Blochers Abwahl aus dem Bundesrat möglich. In den ersten kantonalen Wahlen nach diesem Erdbeben entlud sich die Wut vieler konservativer Wählerinnen und Wähler. Vorab die CVP musste dafür büssen.

Fazit: Die SVP bleibt in der Negativspirale. Das wird der politischen Konkurrenz weiter Mut und Auftrieb geben. Der stetige, 20 Jahre andauernde Aufstieg der Volkspartei ist vorbei, wenn auch auf hohem Niveau, der Nimbus der Unbesiegbaren endgültig gebrochen. Ob Positionierungs-, Richtungs- und Personaldiskussionen über eine längere Zeitspanne immer wieder für Unruhe innerhalb der Partei sorgen werden, bleibt abzuwarten.

Mark Balsiger

Nachtrag vom Montag, 12. März 2012, 18 Uhr:

Auch die Schweizer Presse widmet sich heute dem Abschneiden der SVP an den kantonalen Wahlen. So auch der “Tages-Anzeiger”. Er wertet die Niederlagen als “Zeichen für die Ankunft in der Normalität”:

Willkommen in der Normalität (TA vom 12. März, Hannes Nussbaumer; PDF)

Schlicht falsch ist in der Tagi-Analyse, dass die gestrigen Wahlen die ersten seit den Nationalratswahlen im Oktober 2011 gewesen waren. Den meisten Medien ist derselbe Fehler unterlaufen. Tatsächlich fanden die ersten kantonalen Wahlen nach den “Eidgenössischen” bereits am 13. November 2011 statt, und zwar in Freiburg.

Dabei legte die SVP 3 Sitze zu. Zählt man den Sitzgewinn von gestern im Kanton Waadt dazu, präsentiert sich der Zwischenstand für die SVP nach 5 kantonalen Wahlen wie folgt:
– minus 16 Sitze in der deutschen Schweiz
– plus 4 Sitze in den frankofonen bzw. zweisprachigen Kantonen.


Nachtrag vom 17. April 2012:

Gestern fanden im Thurgau kantonale Wahlen statt. Dabei verlor Die SVP rund 6 Wählerprozente bzw. 10 Sitze. Das ist eine veritable Schlappe, die in dieser Deutlichkeit nicht erwartet wurde, zumal die SVP Thurgau seit jeher als moderate Sektion gilt. Politologe Claude Longchamp erkennt im Interview für die SVP schweizweit eine Wende, das flächendeckende Erfolgsrezept der letzten 20 Jahre sei Vergangenheit.

 

Updates und weitere Analysen:

Das Märchen vom Abwärtstrend der SVP (Daniel Bochsler, 21.04.2012, Sonntag)

Soviel zum Sturm auf das Stöckli

In den Kantonen Aargau, St. Gallen, Uri und Zürich will das Volk nichts von SVP-Vertretern im Ständerat wissen. Der gross angekündigte “Sturm auf das Stöckli” ist damit zu einer Chiffre verkommen, über die die SVP-Gegner noch lange spotten werden. Dass allein die Ankündigung dieses Sturms eine derart grosse mediale Resonanz auslösen konnte, müsste zum Nachdenken anregen.

Wer robust wächst, bekommt Appetit auf mehr. Das gilt auch für die SVP. Bei den Nationalratswahlen 1987 erreichte sie noch bescheidene 11.0 Prozentpunkte, von 1991 an legte sie kontinuierlich zu, was 2007 bei 28.9% kulminierte – ein Wachstum, das die eigenen Leute berauschte und die Gegner verzweifeln liess.

Im Ständerat hingegen kam Blochers Partei bislang nicht vom Fleck, sie dümpelte mit 4 bis maximal 8 Sitzen vor sich hin. Die Erklärung ist einfach: Ständeratswahlen sind mit Ausnahme der Kantone Jura und Neuenburg Majorzwahlen, es braucht mehrheitsfähige Kandidaturen, die weit über die eigene Basis hinaus unterstützt werden. In den meisten Kantonen sind für eine Wahl 50 Prozent der Stimmen nötig – eine hohe Hürde.

Der am 7. April gross angekündigte „Sturm auf Stöckli“ ist, wie wir spätestens seit heute Abend definitiv konstatieren können, kläglich gescheitert. Die SVP hat im Ständerat nur noch 5 Sitze, 2 weniger als bei den Wahlen vor vier Jahren. Das “Volch” liess die Volkspartei im Stich, wie “TagesWoche”-Redaktor Philipp Loser schon vor ein paar Tagen treffend kommentierte.

Dass der Sturm chancenlos ist, war schon bei seiner Ankündigung klar. Die schweizweit bekannten SVP-Schlüsselfiguren, seit langem mit dem Etikett “Hardliner” stigmatisiert, vermögen nicht in die Mitte auszustrahlen, um dort die entscheidenden Stimmen zu holen.

Trotz dieser mehr als klaren Ausgangslage generiert die grosse Medienkonferenz von Brunner, Blocher und Baader im Bundesmedienzentrum einen Grossauflauf. Der Sturm auf die Agenda war geglückt, eine blosse Ankündigung beherrschte die Schlagzeilen aller Mediengattungen. Und sie blieb Thema, monatelang.

Es scheint sich zu einem ungeschriebenen Gesetz entwickelt zu haben: Wen die SVP ruft, strömen die Medienschaffenden herbei und berichten, analysieren und kommentieren auf Teufel komm raus. Dieser Magnetwirkung hat sich die SVP in den letzten 20 Jahren hart und mit viel Cleverness erarbeitet. Die Medienlogik unterstützt sie dabei kräftig.

Stellen wir uns vor, die FDP-Spitze mit Fulvio Pelli und Gabi Huber, flankiert von den Parteistars Karin Keller-Sutter (SG) und Pierre Maudet (Genf), hätte im Frühling ebenfalls zu einer Medienkonferenz gerufen, um einzig ihr Wahlziel für die Nationalratswahlen bekanntzugeben: 20 Prozentpunkte (vgl. 2007: 15.7%), also ähnlich utopisch wie der Sturm der SVP auf das  Stöckli.

Drei oder vier Bundeshausjournalisten hätten der Einladung Folge geleistet, sich entspannt auf die Bänke gefläzt und innerlich lächelnd den Ausführungen der FDP-Spitzenleute gelauscht. Hernach wären eine paar genüssliche Glossen über den hochmütigen Freisinn entstanden.

Mark Balsiger

Volksvorschlag und Stichfrage oder Das Kreuz mit dem Kreuzchen

In den guten alten Zeiten konnte das Stimmvolk zu einer Abstimmungsvorlage jeweils Ja oder Nein sagen – und damit hatte es sich. Seit der Volksabstimmung vom 5. April 1987 ist es auf eidgenössischer Ebene mehrschichtig und etwas komplizierter geworden: Das Parlament kann nämlich einer Volksinitative, die dank mindestens 100’000 Unterschriften zustande gekommen ist, einen sogenannten Gegenvorschlag (auch Gegenentwurf genannt) erarbeiten.

Dem Volk werden in solchen Fällen zwei Vorschläge unterbreitet, ergänzt mit einer Stichfrage. Diese kommt zum Zug, wenn beide Vorlagen angenommen werden, also ein doppeltes Ja resultiert. Der Haken: das Kreuzchen bei der Stichfrage wird oft vergessen.

Volksrechte fordern: Wird das Kreuzchen bei der Stichfrage vergessen, gilt sie als nicht beantwortet. Gestern “vergassen” rund 6200 Berner die Stichfrage – überfordert? (Musterstimmzettel: energievernunft.ch)

In den Kantonen Bern, Nidwalden und Zürich wurden die Volksrechte in den letzten Jahren ausgebaut. Dort kann einer Abstimmungsvorlage des kantonalen Parlaments jeweils eine modifizierte Vorlage gegenübergestellt werden. Der Meccano ist derselbe wie bei einem Referendum: Es müssen zunächst Unterschriften für diese modifizierte Vorlage gesammelt werden: Im Kanton Bern braucht es zum Beispiel mindestens 10’000 (innerhalb von 3 Monaten), in Nidwalden 250 Unterschriften (innerhalb von 60 Tagen).

Die Instrumente sind vergleichbar, heissen aber in den drei Kantonen anders:

– BE: Volksvorschlag (oder konstruktives Referendum)
– NW: Gegenvorschlag
– ZH: Gegenvorschlag von Stimmberechtigten

Der Begriff Volksvorschlag dürfte gestern unter den Berner Akteuren Unmut ausgelöst haben. Bei der Abstimmung über das kantonale Energiegesetz setzte sich ebendieser Volksvorschlag mit fast 68 Prozent Ja-Stimmen sehr deutlich durch. (Er unterschied sich in zwei relevanten Punkten von der Abstimmungsvorlage des Parlamentes.)

In einem Tweet lamentiert jemand:

“Woher hat der Volksvorschlag seinen Namen? […] Allein der Begriff ist abstimmungsverfälschend.”

Diese Einschätzung scheint mir überzeichnet. In der Tat suggeriert allerdings der Name, dass irgendjemand aus dem Volk die Bürde auf sich nimmt, Unterschriften für eine modifizierte Vorlage zu sammeln. Dabei waren es beim Energiegesetz die Wirtschaftsverbände, die Know-how, Zeit und Geld für die Unterschriftensammlung und die Abstimmungskampagne anzapften. In anderen Fällen waren Gewerkschaften oder Parteien die treibenden Kräfte hinter den Volksvorschlägen.

Unvergessen und gleichzeitig erhellend bleibt die Abstimmung über die Senkung der Motofahrzeugsteuer vom 13. Februar 2011: Damals stimmten

– 52,7% für die Vorlage des Parlaments
– 50,4% für den Volksvorschlag

In der Stichfrage obsiegte allerdings der Volksvorschlag – mit einem Zufallsmehr von 134 Stimmen. Rund 20’300 Stimmberechtigte (6 Prozent!) machten bei der Stichfrage kein Kreuzchen – aus Nachlässigkeit, Vergesslichkeit – oder weil sie schlicht überfordert waren.

Mark Balsiger

Luzerner Erschütterungen

Sonnenschein und blauer Himmel in der ganzen Schweiz. Fast in der ganzen Schweiz: Für CVP und FDP brauen sich dunkle Wolken zusammen. Bei den kantonalen Wahlen in Luzern erlebten sie heute ein Debakel.

Seit der Gründung des modernen Bundesstaats bis zu Beginn der Neunzigerjahre hatte im Kanton Luzern die CVP die absolute Macht, sekundiert von den Liberalen (heute: FDP). Zusammen erreichten sie jeweils Wähleranteile von bis zu 80 Prozent. Heute fuhren beide Parteien desaströse Resultate ein: Die CVP verliert nicht weniger als 7 Sitze, die FDP.Liberalen 6 Sitze.

Die grosse Siegerin ist die GLP, die auf Anhieb 6 Sitze holt, sowie die SVP (+ 4). In einer Erstbeurteilung erkenne ich drei Muster:

1.  Image ist wichtiger als starke Strukturen, über die die beiden mächtigsten Parteien weiterhin verfügen. Der Kulturkampf, der beiden Parteien lange Zeit half, ihre Positionen zu konsolidieren, ist nicht nur seit den Achtzigerjahren überwunden, sondern nun auch im konservativen Luzerner Hinterland bedeutungslos geworden.

2.  Das nationalkonservative Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft. In der Zentralschweiz kam es  in den letzten vier Jahren zu einem neuen Wachstumsschub der SVP; in allen anderen Kantonen legte sie zum Teil massiv zu, nun auch in Luzern.

3.  Die GLP setzt ihren Siegeszug fort. Dabei luchst sie inzwischen CVP und FDP viele Wähler ab. Noch vor wenigen Jahren hatte sie vor allem Zulauf aus dem rot-grünen Lager.

Die Luzerner Wahlen galten insbesondere für die CVP als Nagelprobe. Die Ergebnisse von heute – auch im Tessin, wo die FDP blutet – dürften in verschiedenen Parteizentralen zu Erschütterungen führen. Bei den Grünliberalen hingegen rollt der “Bandwagon Effect” ungebremst – nichts ist so ansteckend wie der Wahlerfolg.

Foto Gewitterwolken: emmye.wordpress.com

Ueli Amstad: anständig im Stil + moderat im Kurs = SVP-Regierungsrat

7402.jpgAn diesem Ergebnis gibt es nichts zu deuteln: Ueli Amstad (svp, 49) setzte sich im zweiten Wahlgang mit fast 3000 Stimmen Vorsprung auf seinen Kontrahenten durch. Die SVP zieht erstmals in die siebenkoepfige Regierung des Kantons Nidwalden ein.

Was sind die Gruende fuer Amstads klare Wahl:

1. Ich kenne ihn nicht persoenlich, aber er wird allerorts als volksnah und umgaenglich bezeichnet. Amstad holte 56 Prozent aller Stimmen, und das bei einer hohen Wahlbeteiligung von 53,8 Prozent. Ganz offensichtlich hat er aus allen politischen Lagern grosse Unterstuetzung erhalten.

2. Ueli Amstad wirkt dynamischer und duerfte bekannter sein als sein Konkurrent Martin Ambauen (cvp, 54). Er sitzt seit 2002 im Kantonsparlament und praesidiert seither auch die SVP-Fraktion. Ambauen ist erst seit 2006 im Parlament.

3. Amstad gilt als moderater SVP-Politiker, das Etikett “Scharfmacher” passt nicht zu ihm.

4. Die SVP hat auf Grund ihres Waehleranteils Anspruch auf einen Sitz im siebenkoepfigen Regierungsrat. Dem entsprachen die Waehlerinnen und Waehler, gerade auch weil Amstad Punkt 3 erfuellt. Der Anspruch der CVP auf einen dritten Sitz war bei ihrem Waehleranteil hingegen nicht mehr gegeben.

5. Die CVP wechselte nach dem ersten Wahlgang, bei dem niemand das absolute Mehr erreichte, ihren Kandidaten aus. Martin Ambauen, der es anstelle von Heinz Keller haette richten sollen, ging nicht beim selben Startstrich wie Amstad ins Rennen. Dessen Vorsprung war nicht mehr einzuholen.

Ambauen macht in regionalen Medien die nationale Politik mitverantwortlich fuer seine Niederlage. Er nennt insbesondere die Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat als Grund.

Ich teile diese Interpretation nicht. Bei den juengsten Wahlen der kantonalen Parlamente in St. Gallen, Schwyz, Glarus, Thurgau und Uri mag der Faktor Blocher eine Rolle gespielt haben. Bei einer Ersatzwahl in ein Exekutivamt, zudem in einem Kleinstkanton, in dem sich noch fast alle persoenlich kennen, geht es um die eigenen Leute. Da scheint mir eine Stellvertreter-These sehr abwaegig zu sein – bei einem Abstand von 3000 Stimmen ohnehin.

Die Ersatzwahl in Nidwalden zeigt es zum x-ten Mal: Wenn die SVP mit Kandidaten antritt, die im Stil anstaendig und im Kurs moderat sind, hat sie gute Wahlchancen. Das Zauberwort heisst Mehrheitsfaehigkeit. Das darf man beherzigen, gerade bei einem Waehleranteil, der schweizweit bei 28,9 Prozent liegt – und nicht bei 51 Prozent oder sogar kubanische Verhaeltnisse erreicht.

P.S. Ein kleiner “Schaemer” fuer die SVP Schweiz, die sich in Sachen Medienarbeit sonst gute Noten verdient: Die Wahl des ersten SVP-Regierungsrats des Kantons Nidwalden war ihr auf ihrer Website auch um 4 Uhr morgens Ortszeit noch keine Zeile wert. Es sei denn die Browser in Uebersee spielten mir einen Streich…

Foto: www.ueliamstad.ch

Ein Popstar auf dem Rütli

Während Jahrzehnten war die Glaubwürdigkeit das wichtigste Gut der Politik. Inzwischen ist es die mediale Aufmerksamkeit. Nur wer in den Medien stattfindet, hat eine Chance überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist unerbittlich. Das führt nicht selten zu einem symbiotischen Verhältnis von Politik und Medien.

Die Flut an echten und vermeintlichen News überrollt uns Konsumentinnen und Konsumenten. Die Medien, nicht nur diejenigen, die primär knackige Schlagzeilen, Bilder und damit Emotionen verbreiten, sind selber zu mächtigen Akteuren geworden. Auf den Redaktionen entscheidet oftmals nicht die Relevanz, was Thema wird, sondern was die Konkurrenz bringt. Dieser Mechanismus verschärft das Tempo, was kaum mehr Reflexion und Analyse ermöglicht. Die fiebrige Hatz nach Primeurs, höheren Auflagen und Einschaltquoten führt mitunter zu einem Hype und schliesslich zu einem Overkill, der das Publikum irritiert zurücklässt.

Die Recherche im Archiv der Schweizer Mediendatenbank zeigt: Zum Schlagwort „Rütli“ sind in der Zeitspanne vom 1. Mai bis zum 31. Juli nicht weniger als 1142 Artikel aufgeführt. Die Rütlifeier 2007 ist auch ein Lehrstück über die neue Logik der Medien. Morgen Sonntag wird das nächste Kapitel geschrieben, wenn die Glatzköpfe das Rütli in Beschlag nehmen – und sich vor vielen Kameralinsen produzieren dürfen.

Für die meisten Schweizerinnen und Schweizer ist das Rütli die Wiege der Nation, auch wenn das historisch nicht belegt werden kann. Für SVP-Präsident Ueli Maurer hingegen ist es eine „Wiese mit Kuhfladen“, eine Aussage, die sich als Bumerang entpuppt: Am 24. Juli 2005 sprach nämlich Bundesrat Christoph Blocher auf dem Rütli – vor mehr als Tausend Gästen, die seine Rede beklatschten.

Sicher ist, dass das Rütli in den letzten Wochen zu einer noch grösseren Projektionsfläche wurde. Es ist die Hauptbühne eines bislang ereignisarmen Wahljahres. Vielen Akteuren kommt das Gezänk über die Feier an einer derart symbolträchtigen und mythisch verklärten Stätte entgegen. Der Diskurs war im Nu emotional aufgeladen. Bei der Aussetzung des AHV-Mischindexes wäre das sehr viel schwieriger geworden.

Keine Frage, die 1.-August-Feier auf dem Rütli ist ein Wahlschlager. Micheline Calmy-Rey hat binnen weniger Wochen das ureigene Terrain der SVP erobert. Das war kein Husarenstreich, sie schaffte es mit einer Mischung aus sicherem Instinkt, Raffinesse, der ihr eigenen Hartnäckigkeit sowie mit der Unterstützung einiger Medien. Am 1. August hatte sie einen „triumphalen Auftritt“, titelte sogar die zurückhaltende „Neue Zürcher Zeitung“, und wurde gefeiert wie ein Popstar.

Die Inszenierung und Symbolisierung der Politik ist weiter fortgeschritten als viele glaubten. Bundesratsmitglieder sind heute die wichtigsten Köpfe ihrer Parteien, das Trennende wird betont, die Personalisierung weiter vorangetrieben. Bis vor wenigen Jahren zeigte sich der Sonderfall Schweiz wenigstens noch in der Ausprägung des Wahlkampfs. Tempi passati. Unser Land ist auch in dieser Hinsicht normal geworden.

Mark Balsiger

P.S.  Dieser Text ist als “Tribüne” in der Tageszeitung “Der Bund” vom 4. August 2007 erschienen. Er wurde auf Anfrage der Redaktion geschrieben.