Vertrauen ist ein zentraler Faktor für den politischen Erfolg

Am Freitag wird der Bundesrat das Vertragspaket mit der EU der Öffentlichkeit vorstellen. Bis die letzten Details der Bilateralen III bereinigt sind, dürfte es Frühling werden. Danach beginnt der politische Prozess. Sollte das Parlament das Vertragswerk nicht zurückweisen, wird schliesslich das Stimmvolk darüber entscheiden können.

Seit dem Jahr 2000 haben wir – direkt oder indirekt – bereits zwölf Mal über die Bilateralen abgestimmt. Jede dieser Abstimmungen war von langen und intensiven Debatten begleitet.

Vertrauen ist bei Volksabstimmungen ein zentraler Faktor. Es geht dabei um das Vertrauen in Bundesrat und Parlament, aber auch in die Akteure der Wirtschaft. Über Jahrzehnte hinweg galt die Formel: «Was gut ist für die Wirtschaft, ist auch gut für das Land.» Doch seit der Finanzkrise 2008/2009, als die UBS mit Staatsmitteln (66 Milliarden Franken) vor dem Untergang gerettet werden musste, hat diese Überzeugung deutlich an Kraft verloren.

Der Lack war ab, das Vertrauen erschüttert.

In den Führungsetagen börsennotierter Unternehmen mit Sitz in der Schweiz stammt heute jeder zweite Manager aus dem Ausland. Viele von ihnen sind «Global Nomads»: Sie sprechen keine der Landessprachen, haben nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen, engagieren sich weder in der Feuerwehr noch im örtlichen Turnverein, und ihre Kinder besuchen meist eine englischsprachige Schule. Nach vier, fünf Jahren ziehen sie weiter, nach Singapur, Greater London oder in die Niederlande.

Wenn die Wirtschaft die Bilateralen III erfolgreich durchbringen will, braucht sie bekannte Persönlichkeiten, denen die Bevölkerung vertraut. Es braucht Geschäftsführerinnen, die überzeugend darlegen, dass der Wohlstand der Schweiz nicht durch den Anbau von Kartoffeln und Weizen entstanden ist, sondern durch den Export von Maschinen, Uhren und Medikamenten. Es braucht Patrons, die mit Leidenschaft erklären, welchen Beitrag ihre Familienunternehmungen leisten und wie wichtig ein liberaler Arbeitsmarkt ist.

Diese Woche wurde bekannt, dass der CEO des Energiekonzerns Axpo neben einem Jahresgehalt von 1,1 Millionen Franken auch einen Bonus von 649’000 Franken erhält. Besonders brisant ist dies, da die Axpo erst vor zwei Jahren nach einem Rettungsschirm in Höhe von vier Milliarden Franken rief und mehrheitlich den Kantonen gehört.

Solche Fälle schüren Missgunst und untergraben das Vertrauen in die Wirtschaft. Verwaltungsräte hätten die Möglichkeit, Boni mit gesundem Menschenverstand zu regeln.

Die Volksinitiative braucht ein Update

Wir sind stolz auf sie. Seit ihrer Einführung im Jahr 1891 konnte das Schweizer Stimmvolk 234 Mal über eine Volksinitiative befinden, im Durchschnitt also etwa zwei Mal pro Jahr. Sie brachten immer wieder lange, intensive, manchmal auch gehässige Debatten in die Stuben und Sääle. Das ist ein wichtiger Teil. 

Diese Woche hat der Ständerat die ersten Weichen gestellt, damit Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden digital gesammelt werden können. Dieser Entscheid steht unter dem Eindruck des Skandals, der im September bekannt worden war. Kommerzielle Sammler hatten mutmasslich Tausende von Unterschriften gefälscht. Das ist Gift für das Vertrauen in die Demokratie.

Die Skepsis gegenüber dem digitalen Sammeln von Unterschriften ist weiterhin gross. Doch es geht nicht nur um Sicherheit und Datenschutz. Das Sammeln würde einfacher, was zu noch mehr Volksinitiativen führen kann. Unter den Strich wäre das positiv, wenn die Begehren echte Debatten anstossen und die Demokratie so revitalisiert wird. Die kritische Betrachtung: Volksinitiativen treiben das Parlament und das Volk vor sich hin, was zu Politik-Müdigkeit führt.

Zu Beginn war die Volksinitiative das Instrument der Opposition, also der SP und der Katholisch-Konservativen. Sie brachten regelmässig Grundsatzfragen aufs Tapet. In den Neunzigerjahren begann sich der Charakter der Volksinitiative zu verändern. Inzwischen ist sie oft ein Marketing-Vehikel, listig formuliert und emotional aufladbar. Es geht um Aufmerksamkeit, Spenden und Mitgliederwerbung. Zuweilen wird sie verwendet als Druckmittel oder Drohkulisse. Die Vordenker des modernen Bundesstaats würden sich im Grab umdrehen, wenn sie mitbekämen, was aus ihrer Volksinitiative geworden ist.

Ursprünglich brauchte es für das Zustandekommen 7,6 Prozent der Stimmberechtigten, inzwischen weniger als 2 Prozent. Diese Hürde ist tief – zu tief, finde ich. Doch die Diskussion darüber wollen die Akteure nicht führen, weil niemand als «Abbauer der Volksrechte» gebrandmarkt werden will. Vor zehn Jahren regte ich in einem Gastbeitrag in der «Handelszeitung» an, die Unterschriftenzahl moderat zu erhöhen. Anstelle der statischen Zahl 100‘000, die in der Bundesverfassung steht, würde man besser eine dynamische Zahl verwenden, zum Beispiel 2,5 Prozent. Bei 2,5 Prozent der Stimmberechtigten bräuchte es zurzeit 137‘000 gültige Unterschriften, bei 3 Prozent wären es 165‘000 Unterschriften. Die Schweiz mutierte deswegen nicht zur Plutokratie, es geht um ein pragmatisches Update.

Die Volksinitiative ist das wertvollste Instrument der Schweizer Politik. Wird es inflationär genutzt, verliert es einen Teil seines Wertes.

Ergänzend, zum Thema «Initiativenflut», eine Grafik von Swissinfo. Sie zeigt, dass im Jahr 2011 insgesamt 24 Volksinitiativen ergriffen wurden – bislang ein Rekordwert.

Foto: Stefan Lanz/20 Minuten

Diese Ja-Lawine kam nicht aus dem Nichts

Das ist historisch: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz ist eine linke Volksinitiative, die den Ausbau des Sozialstaats verlangt, mehrheitsfähig. Die Bürgerlichen und die Wirtschaftsverbände haben zu lange unterschätzt, wie populär die 13. AHV-Rente ist. Ein Abstimmungskommentar. 

Während Jahrzehnten war für die Schweizerinnen und Schweizer klar: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Bevölkerung. Sinnbildlich dafür steht die Abstimmung über eine sechste Ferienwoche, die das Volk 2012 mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatte. (Keiner der 23 Stände stimmte dafür.)

Nicht markant besser erging es der AHV-plus-Initiative: Sie wurde 2016 mit 59.4 Prozent Nein abgelehnt, bei immerhin fünf Ständen, die Ja stimmten (GE, JU, NE, VD und TI). Diese Initiative verlangte eine Erhöhung aller AHV-Renten um 10 Prozent.

Die AHV-plus-Initiative und die Initiative für eine 13. AHV-Rente, die eine Rentenerhöhung von 8.3 Prozent bedeutet, sind miteinander vergleichbar. Seit September 2016 ist in diesem Land offensichtlich etwas ins Rutschen geraten.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten ist zum Schluss gekommen, dass sie sich etwas gönnen darf: 58.2 Prozent und 15 Stände sagten Ja, die Stimmbeteiligung betrug 58.3 Prozent (siehe Grafik am Schluss dieses Postings.) Die Volksinitiative der Gewerkschaften kam nur durch, weil konservative Schichten der Mitte und der SVP mitgenommen wurden. Der Respekt vor hohen Mehrkosten ist geschwunden. Das Geld ist ja irgendwo vorhanden, glauben viele. Dieser Glaube kommt nicht von irgendwoher:

– Während der Pandemie schoss der Bund fast überall viel, viel Geld ein (insgesamt rund 30 Milliarden Franken).
– Das Budget der Armee wird bis 2035 auf 10 Milliarden Franken erhöht, also nahezu verdoppelt.
– Nachdem die raffgierigen Manager der Credit Suisse sich die letzten 20 Jahre nicht weniger als 42 Milliarden Franken Boni ausbezahlt hatten, ging das Licht der Grossbank aus. Der Bund versprach bei der Übernahme durch die UBS eine Defizitgarantie in Milliardenhöhe, die Schweizerische Nationalbank (SNB) ein Darlehen von bis zu 200 Milliarden Franken.

Angesichts solcher Summen scheinen 4 oder 5 Milliarden Franken, die die Rentenerhöhung pro Jahr kostet, verkraftbar.

Das Ja zur 13. AHV-Rente ist keine Überraschung. Eine Mehrheit hat allerdings nicht aus Solidarität mit den Bedürftigen Ja gestimmt, sondern aus Egoismus. Das simple Motto: Jetzt bin ich an der Reihe!

Die Eliten der bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände haben die Popularität dieses Anliegen zu lange unterschätzt. Sie hätten es im Parlament mit einem Gegenvorschlag entscheidend entschärfen können. Doch im Getöse des eidgenössischen Wahljahrs vertraute man auf den Knick der Volksinitiativen, die praktisch immer stark an Zustimmung verlieren, je näher der Abstimmungstermin rückt.

Im breiten Ja-Lager glaubte man bis zum Schluss an den Abstimmungserfolg, seine Kampagne war druckvoll und durchdacht. Der Subtext – zum 13. Monatslohn ist eine 13. AHV-Rente nur folgerichtig – entfaltete seine Wirkung. Die guten Umfrageresultate motivierten viele Leute erst recht, sich zu beteiligen, das individuelle Engagement war riesig.

Wenn in einem Steilhang der Schnee ins Rutschen kommt, entsteht eine Lawine. Genau das ist passiert in den letzten Monaten. Man muss allerdings nicht Bergführerin sein, um zu wissen: Lawinen kommen nicht aus dem Nichts. Es braucht Wind, viel Neuschnee oder einen markanten Temperaturanstieg, bis sie ins Tal donnern.

Das Ja ist ein Triumph für die Gewerkschaften: Sie hatten im Herbst 2022 das Referendum zur AHV-21-Reform knapp verloren, womit ihre Vetomacht gebrochen schien. (Es ging dabei u.a. um ein höheres Rentenalter der Frauen.) Jetzt sind sie zurück, Beobachter sprechen von einer «Zeitenwende» in der Sozialpolitik. Noch nie hat das Stimmvolk eine Volksinitiative, die den Sozialstaaat ausbaut, gutgeheissen. Es ist möglich, dass nun das frivole Geldausgeben weitergeht. Bereits sind neue Forderungen auf dem Tisch, dabei ist völlig unklar, wie die 13. AHV-Rente finanziert werden soll.

Foto: all-in.de
Grafik: Tamedia 

 

Nachtrag vom 5. März: Die Nachbefragung von Tamedia/LeeWas:

Der Klimawandel ist keine Sommergrippe

Viele Leuten können das Wort Klimawandel nicht mehr hören. Die schlechte Botschaft: Wir werden dieses Problem mit dem Weghören nicht los. Die gute Botschaft: Wir Schweizerinnen und Schweizer können am 18. Juni etwas unternehmen: abstimmen. Das Klimaschutzgesetz ist ein wichtiger Schritt, um von der Abhängigkeit von Öl und Gas wegzukommen. Für den Umbau der Energieversorgung braucht es viel Geld, allerdings sollten wir unterscheiden zwischen Investitionen und Kosten. Ein Abstimmungskommentar. 

 

In den letzten Tagen glaubte ich mehrmals, dass mich der Affe laust. So sagte in der letzten SRF-«Arena» Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (SVP), der Klimawandel habe auch Vorteile. «Zum Beispiel für den Sommertourismus in Graubünden.»

Wie bitte?

Ein Flugblatt eines zunächst anonymen Komitees «Rettung Werkplatz Schweiz» sorgte zuvor für viel Wirbel. In diesem Pamphlet steht, dass der Mensch keinen Einfluss auf die Erderwärmung habe. Weiter wird die Wissenschaft per se an den Pranger gestellt. Inzwischen ist bekannt, dass hinter diesem Komitee ein SVP-Mitglied aus Stäfa (ZH) steht. Der Vollversand an alle 4 Millionen Haushaltungen unseres Landes kostete rund 800’000 Franken.

Die Absicht hinter dieser faktenfreien Desinformation ist klar: Die Schweizerinnen und Schweizer sollen verunsichert werden. Wer am Nutzen des Klimaschutzgesetzes zweifelt, nimmt womöglich an der Abstimmung vom 18. Juni gar nicht teil oder sagt Nein.

Also zurück auf Feld eins. Klimaforscher Thomas Stocker, der seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, fasst in einfachen Worten zusammen, worum es geht:

«CO2 ist ein Treibhausgas. Der Anstieg von CO2 wird durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas sowie durch die Abholzung verursacht – ist also zu 100 Prozent menschgemacht. Millionen von Messungen zeigen die weltweite Erwärmung seit 1900. Jedes weitere Jahr mit Emissionen führt zu einer weiteren globalen Erwärmung mit lokalen Auswirkungen. Gehen die Emissionen nicht zurück, führt das zu einer globalen Erwärmung um 4 bis 5 Grad, in der Schweiz um 7 bis 8 Grad.»
(Stockers Aussage wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.)

Die meisten Staaten entschieden 2015 mit dem Klimaabkommen von Paris, den Ausstoss von CO2 bis 2050 auf Netto-Null senken zu wollen. So steigt die Temperatur global um weniger als 2 Grad.

Die Abstimmungskampagne des Nein-Lagers dreht sich um alles mögliche, vor allem um die Kosten. Doch darüber stimmen wir am 18. Juni gar nicht ab. Vielmehr geht es beim Klimaschutzgesetz um vier Punkte:

– Es definiert die Ziele für den schrittweisen Ausstieg aus der Abhängigkeit von Erdöl und Gas bis 2050;

– es schafft Planungssicherheit, was für die Wirtschaft zentral ist;

– es unterstützt Hauseigentümer, wenn sie ihre Öl- oder Gasheizungen ersetzen. Dasselbe gilt für Besitzerinnen von Elektroheizungen, die auf klimafreundliche Systeme umsteigen;

– Innovationen werden gefördert.

Das Gesetz beinhaltet keine Verbote und keine neuen Abgaben oder Steuern. Das anerkennt selbst Albert Rösti, bis Ende letzten Jahres noch Nationalrat und Mitglied des «Stromfresser»-Referendumskomitees.

Nach einem Ja werden in den nächsten zehn Jahren 3,2 Milliarden Franken an Subventionen zur Verfügung gestellt. Klar, das ist viel Geld, doch ein Vergleich relativiert: Der Landwirtschaftssektor wird seit Langem mit etwa 3,5 Milliarden Franken pro Jahr subventioniert, wovon Direktzahlungen 2,8 Milliarden ausmachen.

Klar, der Umbau der Energieversorgung zu Netto-Null geht ins grosse Tuch. Klar, Lenkungsabgaben wären eleganter gewesen, aber davor fürchtete sich das Parlament.

Drei Punkte, die den Faktor «Geld» in einen grösseren Kontext stellen:

– Man muss unterscheiden zwischen Investitionen und Kosten;

– bislang fliessen jedes Jahr rund 8 Milliarden Franken für Erdöl und Gas an Saudis und Schurken. In der Schweiz investiert, schafft das viele neue zukunftsträchtige Arbeitsplätze;

– Die Folgekosten des Klimawandels würden horrend hoch, gerade in der gebirgigen Schweiz.

Natürlich rettet die Schweiz das Weltklima nicht mit einem Ja am 18. Juni. Aber sie macht einen wichtigen Schritt, damit der Ausstoss von Treibhausgas reduziert wird, so wie das in mehr als 190 anderen Ländern auch geschieht.

Zur breiten Ja-Allianz gehören fast alle Parteien, die meisten Wirtschaftsverbände, namentlich die Industrie, zahllose NGO sowie die Bäuerinnen und Bauern. Gerade letztere wissen, welche Auswirkungen deutlich höhere Temperaturen für Natur und Umwelt haben.

Es gibt weiterhin Leute, die den Klimawandel leugnen oder als Pipifax bezeichnen, und es gibt solche, die mit einer «Fuck the planet»-Einstellung auffallen. Das muss eine liberale Gesellschaft ertragen. Ich schätze, dass bloss 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung eigenverantwortlich handelt. Dass dieser Wert so tief liegt, lässt mich meine Backenzähne zermalmen. Ich verstehe es nicht!

Alarmismus und apokalyptische Erzählungen halte ich für kontraproduktiv. Gleichzeitig mögen viele Leute das Wort Klimawandel nicht mehr hören. Ihnen sei in Erinnerung gerufen, dass der Klimawandel keine Sommergrippe ist. Man kann ihn verdrängen, verharmlosen oder verfluchen – das Problem bleibt.

 

Was sie macht, macht sie mit Herzblut und Haltung

Dreissig Jahre lang war Regula Rytz in der aktiven Politik – im Kantonsparlament, in der Regierung der Stadt Bern, 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, kurze Zeit später übernahm sie das Präsidium der Grünen Schweiz. Gestern kündigte sie ihren Rücktritt an – eine persönliche Würdigung.

 

Ein milder Sonntagabend im Frühsommer 2007. Wir finden uns an einer lauschigen Stätte ein. Die Gäste freuen sich über das Ja des Stimmvolks zu Tram Bern West, dessen Abstimmungskampagne mein Team 2006 und 2007 konzipiert hatte. Es gibt Salzgebäck, kalte Getränke und gegenseitiges Schulterklopfen – endlich kann Bümpliz an das städtische Tramnetz angeschlossen werden.

Ein bekannter Politiker, der schon vorher viel Alkohol getrunken hatte, wird in seiner Ansprache ausschweifend, seine Zunge immer schwerer. Im Publikum werfen wir uns versteckte Blicke zu: «Es ist gut jetzt!», sagen sie.

Zunächst unbemerkt hat sich Regula Rytz, damals die städtische Verkehrs- und Tiefbaudirektorin, ganz in die Nähe des Redners hingestellt. Als dieser nach Worten sucht, übernimmt sie fliegend und charmant, verdankt ihn, drei Minuten später ist der offizielle Teil vorbei.

Was wie einstudiert wirkte, war eine geschickte Ad-hoc-Intervention: Der Alkoholisierte wurde vor sich selber geschützt, Peinlichkeiten blieben aus, das Publikum reagierte erleichtert. Rytz hatte die Situation mit ihrem feinen Sensorium gerettet.

Eine andere Anekdote: Während eines kalten Wintermonats kam ich ins Gespräch mit Angestellten des Tiefbauamts, die im Schichtbetrieb die Strassen rund um den Bahnhof Bern sanieren mussten. Sie erzählten mir, wie Rytz eines Morgens mit einer Thermoskanne aufgetaucht sei und ihnen heissen Kaffee ausgeschenkt habe. Andere Exekutivpolitiker machen dasselbe, allerdings mit den Medien im Schlepptau.

Seit nunmehr 20 Jahre beobachte ich Regula Rytz, gelegentlich hatten wir auch beruflich miteinander zu tun. Etwa in der Phase 2018/2019, als wir zusammen mit anderen für den SRF-Radiostandort Bern und gegen die Zentralisierung in Zürich kämpften.

Sie war tief in die Medienpolitik eingetaucht und dossiersicher, an die Sitzungen kam sie gut vorbereitet. Während derjenige, der sich mit diesem Thema hätte profilieren können, wenig Ahnung und keinen Plan hatte, moderierte sie Ausgangslage und Optionen. Er schenkte seinem Smartphone viel Aufmerksamkeit, sie steuerte die Veranstaltung, ohne zu dominieren.

2012 erfolgte der Wechsel auf die nationale Bühne

Rytz mag die Menschen. Sie hört ihnen zu und nimmt sie ernst. Sie engagiert sich mit Herzblut und Haltung. Zugleich hat sie verinnerlicht, dass man in diesem Land nur mit solidem Know-how und einem pragmatischen Vorgehen etwas bewegen kann. Laut und moralinsauer wird sie nie. Seit 2012 steht sie als Nationalrätin und Parteipräsidentin (bis Sommer 2020) immer wieder auf der grossen, grell ausgeleuchteten Bühne, bleibt aber stets sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Es geht ihr immer um die Sache, inhaltlich sind unsere Positionen oft nicht deckungsgleich.

Die Höhenflüge und brutal einsamen Momente der Politik kennt sie. Als die Grünen bei den eidgenössischen Wahlen 2015 verloren, musste sie, die ehemalige Gewerkschafterin, im Generalsekretariat Stellen abbauen. Vier Jahre später folgte der grösste Triumph, den eine Partei in der Schweiz je erreicht hat: ein Zuwachs von 6.1 Prozentpunkten. Rytz ist eine der Architektinnen dieses Erfolgs.

Auch nach 30 Jahren politisiert sie immer noch lustvoll. Dass sie sich im Frühling aus dem Nationalrat verabschiedet, überrascht mich nicht. Rytz spürt immer rechtzeitig, wenn es Zeit ist für ein neues Kapitel. Sie kehrt der Politik nicht den Rücken, sondern wird künftig hinter den Kulissen tätig sein. Eine Konstante bleibt, da bin ich mir sicher: Was sie macht, macht sie richtig.


Transparenz:

In den 20 Jahren meiner Selbständigkeit gab es einmal ein Auftragsverhältnis zwischen Regula Rytz und meiner Firma: Im Frühjahr 2013 bereiteten wir zusammen ihren Auftritt in der «Arena» vor.

 

Ergänzend: Was die «SonntagsZeitung» am 3. April 2022 über den Rücktritt von Regula Rytz schrieb:

Die ungekrönte Königin der Grünen tritt ab (PDF)

Medienförderung führt zu mehr Medienvielfalt

Je näher der Abstimmungstermin zum Mediengesetz rückt, desto mehr steigt der Lärmpegel. So brüllten sich im letzten «Club» von SRF drei Protagonisten von Anfang bis am Schluss immer wieder an. Sie erinnerten an Halbstarke im Schulhof, die Moderatorin versagte. Eine bizarre Sendung.

Weil noch Unsicherheiten bestehen, will ich ein paar Punkte klären.

Zunächst, was ist die Wurzel des Problems? In den letzten 14 Jahren sind die Werbeeinnahmen der Zeitungen um 75 Prozent eingebrochen. Das ist dramatisch. Weit mehr als eine Milliarde Franken fliessen inzwischen pro Jahr zu den Tech-Giganten Facebook und Google, ohne dass sie hier Steuern bezahlen würden.

Das Massnahmenpaket zugunsten der Medien stabilisiert die Branche und kostet maximal 151 Millionen Franken pro Jahr. 70 Millionen davon gehen direkt an die Post, weil sie für die Zustellung der Zeitungen sorgt.

Das Medienpaket besteht aus insgesamt neun verschiedenen Teilen. Ausgesprochen positiv ist, dass der Presserat, aber auch die Aus- und Weiterbildung im Nachrichtenjournalismus gestärkt werden. Darüber wurde im Verlauf des Abstimmungskampfes noch kaum ein Wort verloren.

Es geht bei der Abstimmung vom 13. Februar auch darum, kleine unabhängige Medienhäuser zu stärken, die Zeitungen herausgeben wie das «Bieler Tagblatt», die «Neue Fricktaler Zeitung», «Die Botschaft» (unteres Aaretal), die «Schaffhauser Nachrichten», den «Rheintaler», die zweisprachige «Engadiner Post», den «Corriere del Ticino», den «Walliser Boten», die «Freiburger Nachrichten» oder das «Journal Du Jura».

Diese Titel liefern die mediale Grundversorgung, gedruckt und online, aus der Region, für die Region, unspektakulär und nahe bei den Menschen.

Dass die grössten Medienhäuser ebenfalls profitieren, ist die Kröte, die wir schlucken sollten. Das Modell ist degressiv ausgestaltet, d.h. Zeitungen mit einer grossen Auflage kriegen pro Exemplar weniger Geld als Kleine. Die Kleinen profitieren überproportional von der indirekten Presseförderung. Diese wurde übrigens bereits 1849 von den Freisinnigen im Postgesetz festgeschrieben.

Dass im Sog der «Republik» neue Online-Medien entstehen, ist erfreulich und stärkt die Medienvielfalt. Die Anschubfinanzierung ist auf höchstens 30 Millionen Franken pro Jahr limitiert. Das Geld wird nicht mit der Giesskanne verteilt. Vielmehr ist die Höhe der Unterstützung abhängig von den Einnahmen, die jeder Start-up aus eigener Kraft generiert. Mit einem Ja können sich die neuen Online-Medien, etwa die «Hauptstadt» in Bern, eher etablieren. Ihre direkte Förderung ist auf sieben Jahre beschränkt.

Fazit: Das Massnahmenpaket überzeugt nicht in allen Teilen, aber ein Ja ist besser für die darbenden Medienhäuser und die Randregionen. Medienförderung ermöglicht Medienvielfalt, Medienvielfalt stärkt die Demokratie, was in einem Land wie der Schweiz mit seinen vielen Abstimmungen gar nicht hoch genug gewichtet werden kann.

Bei einem Nein gewinnen die Kreise, die jetzt laut «Staatsmedien!» rufen, aber kein Problem haben damit, wenn private Financiers mit einer (verdeckten) politischen Agenda einsteigen. Auf dieser Agenda steht die Halbierungsinitiative aus dem Stall der SVP-Millonarios. Kommt diese durch, haben wir einen Kollateralschaden.

PS:
– Wer beim Abstimmen noch unschlüssig ist: Die Bewegung Courage Civil hat eine neutrale Herleitung zum Thema erarbeitet, die erst am Schluss in eine Empfehlung mündet. Dazu gibt es dort einige weiterführende Links.

– Ein beachtlicher Teil der Nein-Kampagne wird mit dem Schlagwort «Staatsmedien» bestritten. Es ist ideologisch aufgeladen, beim näheren Hinsehen allerdings irreführend. Matthias Zehnder, auch er ein unabhängiger Beobachter der Medienszene, seziert das Thema. Es sind gut investierte acht Minuten, die es für die Lektüre seiner Analyse braucht.

Die Schweizer Demokratie besteht den Stresstest

Demokratie ist anspruchsvoll. Die Leute, die in der Schweiz stimmberechtigt sind, können bei jeder Vorlage abwägen: Sie haben rationale, emotionale, persönliche und übergeordnete Argumente zur Auswahl.

Demokratie ist anstrengend, wenn der Abstimmungskampf laut, irrational und hysterisch geführt wird. Das war beim Covid-19-Gesetz ausgeprägt der Fall. Während Monaten lag der Fokus bei den Gegnern, ihrer Wut und ihrem Egoismus. Jeder Pups wurde verstärkt und tönte alsbald wie ein Donnergrollen.

Es ist umso bemerkenswerter, wie abgeklärt eine stille Mehrheit dem Covid-19-Gesetz zustimmte. Der Ja-Anteil beträgt 62 Prozent, liegt also noch etwas höher als beim ersten Referendum im Juni, als er 60.2 Prozent erreichte. Stimmten damals noch acht Kantone Nein, trifft das dieses Mal nur noch auf Schwyz und Appenzell Innerrhoden zu. Von einer Ausnahme abgesehen kippten also die Ur-Kantone von einem Nein im Juni zu einem Ja im November.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten entschied sich für ein Ja aus Vernunft, rationale und übergeordnete Argumente hat sie höher gewichtet. Es geht ihr um einen gemeinsamen Weg aus der Pandemie. Die Stimmbeteiligung kletterte auf 65.7 Prozent, den vierthöchsten Wert seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971, was das Resultat noch stärker abstützt.

Eine deutliche Mehrheit glaubt daran, dass mit einer gesetzlichen Grundlage, mit Impfen statt Schimpfen und einem Covid-Zertifikat die Basis gelegt wird, um die Pandemie zurückzudrängen und schliesslich zu kontrollieren. Die Coronapolitik der Behörden wurde zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten direktdemokratisch legitimiert, die Schweizer Demokratie hat einen Stresstest bestanden.

Dass das Krisenmanagement von Bund und Kantonen keine guten Noten verdient, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Es hat Tradition, dass Entscheidungen an der Urne respektiert werden. Dass nun eine junge Organisation das Abstimmungsergebnis als «nicht legitim und für uns nicht bindend» bezeichnet, zeigt auf, wie masslos und unschweizerisch sie ist.

Trotz allem ist es wichtig, dass die Verlierer von heute nicht ausgegrenzt werden. Längst nicht alle, die Nein stimmten, sind Corona-Leugnerinnen und Verschwörungstheoretiker. Unsere Gesellschaft muss die Kraft und den Willen haben, sich zusammenzurotten und den Feind zu bekämpfen. Der Feind ist das Virus.

Die stille Mehrheit hat es in der Hand, die Pandemie früher zu beenden

Schon seit Monaten macht eine kleine Minderheit viel Lärm. «Liberté, Liberte!» schallt es uns entgegen. Das Covid-Zertifikat sei «Scheisse», ja des Teufels. Anstatt sich weiter an diesem einen Punkt abzuarbeiten, sollten wir unseren Blick auf das «Big Picture» richten. Meine Abstimmungsempfehlung. 

Grundrechte sind eine grosse Errungenschaft. Frühere Generationen mussten sie sich hart erkämpfen, vorab Mitte des 19. Jahrhunderts, längst sind sie in der Bundesverfassung verankert. Das Covid-19-Gesetz, über das wir am 28. November abstimmen, tangiert, ja verletzt die Grundrechte.

Tatsache ist aber, dass die Gegner des Covid-Gesetzes immer wieder die Möglichkeit hatten, für ihre Überzeugungen auf die Strasse zu gehen. Viele Demonstrationen wurden bewilligt, etwa in Liestal, Bern, Baden und Rapperswil. Sie durften sagen oder schreien, was sie wollten. Die Meinungsäusserungsfreiheit und das Demonstrationsrecht waren also gewährleistet.

Tatsache ist, dass es allen Schweizerinnen und Schweizern frei steht, am 28. November Nein zu stimmen. So viel zum Thema «Diktatur».

Der Diskurs wird von einzelnen Leuten und Gruppierungen aus beiden Lagern fanatisch geführt, zuweilen ist er sogar hysterisch.

Tatsache ist, dass die Impfung eine deutliche Entspannung der Lage gebracht hat.

Tatsache ist, dass dank Impfungen andere Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, Maser oder Pocken unter Kontrolle gebracht oder sogar ausgerottet wurden.

Tatsache ist, dass uns das Covid-Zertifikat viele Freiheiten zurückgebracht hat. Wir dürfen seit zwei Monaten wieder an Konzerte, Theatervorstellungen und ins Kino. Die Muckibuden und Tanztempel sind wieder offen.

Bei der Abstimmung vom 28. November geht es längst nicht nur um das Covid-Zertifikat. Es geht auch um:

  • Geld für freischaffende Künstlerinnen und Künstler;
  • Unterstützung von privaten und öffentlichen Kitas;
  • Erwerbsersatz für Selbständige;
  • Kurzarbeit in diversen Branchen;
  • Finanzhilfen für Sport und Tourismus;
  • Kulturhäuser, die wieder offen sein dürfen. Der Dachverband Suisseculture wirbt mit dem treffenden Slogan «Ja sagen statt absagen».

Sie gehören zur stillen Mehrheit. Am 28. November haben Sie es in der Hand, Teil der Lösung zu sein und damit die Pandemie früher zu beenden. So lassen wir den «Scheiss» früher hinter uns.

Wie das Ja zum CO2-Gesetz vergeigt wurde

Am «Super Sunday» im Herbst letzten Jahres triumphierte die urban-fortschrittliche Schweiz: Nein zur Kündigungsinitiative und zum Jagdgesetz, Ja zum Vaterschaftsurlaub. Heute war die ländlich-konservative Schweiz an der Reihe und versenkte die beiden Agrarinitiativen und das CO2-Gesetz. Letzteres ist bitter und selbstverschuldet. Der breiten Ja-Allianz, die vom WWF bis zum TCS und von den Grünen bis zu economiesuisse reichte, fehlten strategisches Geschick und Leidenschaft. Ein Abstimmungskommentar. 

Das Nein zum CO2-Gesetz brennt wie eine Ohrfeige. Es ist ein Desaster für Bundesrat und Parlament. Jetzt die laute und irreführende Kampagne der Gegner als Grund ins Feld zu führen, wäre billig. Die grossen Fehler unterliefen nämlich der breiten Ja-Allianz. Ich erwähne sechs Gründe, die zum Nein führten.

Die Terminierung:
Der Bundesrat hat Spielraum, welche Vorlage an welchem Tag zur Abstimmung kommt. Die beiden Agrarinitiativen auf denselben Tag wie das CO2-Gesetz festzulegen, war ein kapitaler strategischer Fehler. Weshalb? Beide Initiativen waren von Anfang an chancenlos, auch weil sie schlecht formuliert sind. Dass sie die ländlich-konservative Schweiz weit überdurchschnittlich mobilisieren, war klar. Der Bauernstand ist dort gut verwurzelt, mental stehen wir ihm nahe. Die Agrarinitiativen wurden auf dem Land (und in der Agglomeration) geschickt mit dem CO2-Gesetz verzurrt. Daraus bildete sich ein kompakter Nein-Block zu diesem «Zeugs aus der links-grünen Ecke».

Die Bundesrätin:
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Landesregierung hat Simonetta Sommaruga einen Kompass. Sie weiss, was sie will und sie arbeitet hart dafür, diese Ziele auch zu erreichen. Seit Langem war klar, dass die Abstimmung über das CO2-Gesetz in der bürgerlichen Mitte und von den Parteiunabhängigen entschieden wird. Eine Bundesrätin der FDP oder der Mitte (ex CVP bzw. BDP) hätte mit dieser Vorlage weniger Abwehrreflexe ausgelöst als SP-Umweltministerin Sommaruga.

Die Klimajugend:
Anfang 2019 hatte es die Klimajugend geschafft, die Klimakrise zum Thema Nummer 1 zu machen, was die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit und damit die Wahlen im Herbst desselben Jahres stark beeinflusste. Nachdem das Parlament im Herbst 2020 das komplett revidierte CO2-Gesetz mit überwältigendem Mehr guthiess, sprangen beim Referendum allerdings ein paar Regionalsektionen der Klimajugend auf. Dies, weil ihnen das Gesetz zu wenig weit geht. Sie machten sich damit zu nützlichen Idiotinnen von SVP, Hauseigentümerverband (HEV), Automobil Club der Schweiz (ACS), Auto Schweiz und Avenergy (vormals Erdölvereinigung). Für Behördenvorlagen ist ein Zangengriff – von rechts und links – Gift.

Am 21. Mai fand der internationale Aktionstag «Strike for Future» statt, also drei Wochen vor der Abstimmung. In der Schweiz konnte er an rund 100 verschiedenen Veranstaltungen 30’000 Menschen mobilisieren. Sie demonstrierten und disktutierten für eine bessere Welt. Im Manifest findet man aber keinen Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung zum CO2-Gesetz. Institutionelle Politik mag langsam, abgeschliffen und langweilig sein, bislang ist es der einzige Weg, um Veränderungen in Gesetze und die Bundesverfassung zu schreiben. Die Klimajugend fordert nicht nur viel mehr Tempo beim Klimawandel, sondern auch einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Das ist legitim, bloss muss sie sich jetzt vorwerfen lassen, zu wenig für ein Ja getan zu haben, ja dem Klima gar einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Die FDP:
Im Dezember 2018 war die FDP-Fraktion dafür verantwortlich, dass das erste CO2-Gesetz im Parlament abstürzte. Ein Aufschrei ging durch das Land, was der Kabarettist Michael Elsener flugs in einen Slogan goss: «FDP – Fuck the Planet.» Während der Tür-zu-Tür-Befragung der freisinnigen Basis im Frühjahr 2019 wurde Parteipräsidentin Petra Gössi bewusst, dass der Klimawandel enorm bewegt. Es folgte die Kurskorrektur: Während des Wahljahres verpasste sich die FDP, von den Delegierten abgesegnet, einen grünen Anstrich.

Das neue CO2-Gesetz ist umfassend und reglementiert in Teilen staatlich, kommt aber ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, Lenkungsabgaben und das Verursacherprinzip. Umfragen zeigen, dass die Basis des Freisinns bis am Schluss skeptisch blieb. Bloss mit einem «Fifty-fifty» der FDP war diese Abstimmung kaum zu gewinnen.

Die Kampagnen:
Mehreren Komitees standen mehrere Millionen Franken für ein Ja zur Verfügung. Die Absprachen innerhalb des Ja-Lagers waren ungenügend, den Kampagnen fehlte die Leidenschaft.

Stringente Kampagnen entstehen, wenn auf Basis von Meinungsumfragen und Fokusgruppen die besten Argumente herausgefiltert werden. Diese werden dann während Monaten mit einer überzeugenden Bildsprache vermittelt. Das blieb aus. Vielmehr wurde der Bevölkerung ein buntes Potpourri mit x verschiedenen Argumenten serviert, was zu Irritationen führte. Als der Fokus der Abstimmung schliesslich bei den Kosten angelangt war, war es zu spät. So hatte sich beispielsweise die Mär, dass die Landbevölkerung geschröpft wird, festgesetzt.

Die Kosten:
Die Strippenzieher im Hintergrund glaubten lange Zeit, dass diese austarierte Vorlage problemlos durchkommt. Die Allianz ist breit, die SVP von der Rolle, so glaubten sie. Dabei gab es drei Warnschüsse: In den Kantonen Solothurn, Bern und Aargau wurden in den letzten Jahren die kantonalen Energiegesetze abgelehnt: zweimal äusserst knapp (BE: 50.6%, AG: 50.9% Nein) einmal sehr deutlich (SO: 70.5% Nein). Von diesen Abstimmungsniederlagen hätte man lernen müssen, dass es in der Umsetzung, wenn es um die Kosten geht, eng wird. Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, denn: Energiethemen und Klimaschutz werden vom Volk gleich beurteilt.

Fazit:
Für 51.6 Prozent der Stimmenden* liegt der eigene Geldbeutel näher als ein solides CO2-Gesetz. Die bittere Erkenntnis dieses Abstimmungssonntags kennt die Politikwissenschaft schon lange: Der Ansatz nennt sich «Rational Choice». Allerdings war es eine Niederlage mit Ansage. Das Ja-Lager hat diese Abstimmung am Anfang zu wenig ernst genommen und schliesslich vergeigt. Bedenklich ist, dass damit einmal mehr eine Behördenvorlage scheiterte. Bis der dritte Entwurf eines CO2-Gesetzes vorliegen wird, verstreicht wieder wertvolle Zeit. Industrie und Wirtschaft traue ich zu, die Klimaziele zu erreichen. Beim Verkehr hingegen sieht es düster aus.

 

* Die Differenz Nein/Ja liegt bei 103’114 Stimmen. Die Stimmbeteiligung ist mit 59.7 Prozent sehr hoch.

Nachtrag am Abstimmungssonntag von 16.30 Uhr:
Der hochgeschätzte Politbeobachter Claudio Kuster brachte auf Twitter eben einen siebten Grund ins Spiel: Hätten sich SP, Grüne, Junge GLP und Operation Libero ebenso engagiert für das CO2-Gesetz engagiert, wie gegen das «vergleichweise belanglose» PMT-Gesetz, wäre es anders ausgegangen.

Nachtrag vom 14. Juni 2021:
Das Politologen-Duo LeeWas macht schon seit Jahren Nachabstimmungsbefragungen. Ihr Befund zum CO2-Gesetz kommt überraschend: 58 Prozent der 18- bis 34-Jährigen, zuweilen auch Generation Easyjet genannt, lehnten das Gesetz ab. Der höchste Ja-Anteil wiederum kommt von den Altersgruppe der über 65-Jährigen (mit 54 Prozent). Der komplette Bericht ist hier als PDF verlinkt.

Die Grafik aus den Tamedia-Zeitungen:

Es wäre der falsche Weg, jetzt ein Zeichen zu setzen

Das Leben normalisiert sich schrittweise, an Tischgesprächen geht es inzwischen wieder um Ferienpläne, Tinder und Kinder, die zahnen. Omnipräsent bleibt aber die Pandemie, die vorübergehend alles auf den Kopf gestellt hatte.

Am nächsten Sonntag stimmen wir über das Covid-19-Gesetz ab, das im Schatten der anderen vier Vorlagen steht. Wichtig ist es trotzdem, insbesondere wegen den Finanzhilfen für Künstlerinnen, Selbständige und Leute mit bescheidenen Einkommen.

Der Bundesrat managt die Corona-Krise seit Frühjahr 2020 auf Basis von Epidemiengesetz und Notrecht, das jeweils auf sechs Monate befristet ist. Das Parlament wiederum hat im letzten Herbst das neue Covid-19-Gesetz gutgeheissen und als dringlich erklärt, d.h. es ist seither in Kraft.

Mehrere Gruppierungen ergriffen das Referendum, weil ihnen die Macht des Bundesrats, die Verschuldung oder die Art der Pandemiebekämpfung missfällt. Deswegen können wir über das Covid-19-Gesetz abstimmen, und das ist gut so.

Das neue Gesetz verknüpft Teile, die nichts miteinander zu tun haben, zu einem Flickenteppich. Das entspricht nicht der reinen Lehre (hier die Einheit der Materie), aber erstens bleiben die politischen Rechte gewährleistet und, zweitens, ist die Schweiz noch immer in einer anspruchsvollen Lage.

Das Gesetz liefert die Basis, um Unternehmungen, Selbständige und Arbeitnehmer finanziell zu unterstützen. So sind beispielsweise die Kurzarbeitsgelder für schlecht Verdienende geregelt: Angestellte, die einen Monatslohn bis 3470 Franken haben, erhalten 100 Prozent ausbezahlt statt der üblichen 80 Prozent.

Die Vorgeschichte dieser Abstimmungsvorlage ist kurios und in der Schweizer Geschichte seit 1848 noch nie vorgekommen. Bei einem Nein würden die Finanzhilfen noch bis am 25. September weiterlaufen (ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes). Doch danach gäbe es eine Lücke. Bestehende Gesetze müssten stattdessen revidiert und dem Referendum unterstellt werden, um dasselbe Ziel zu erreichen. Wertvolle Zeit würde verstreichen, die finanzielle Unterstützung wäre vorübergehend blockiert, was zu tiefem Frust, Arbeitslosigkeit und Konkursen führte.

Unlängst an einem Tischgespräch, das sich um die Pandemie und das Covid-19-Gesetz drehte, bekannte jemand, Nein zu stimmen. «Damit will ich ein Zeichen setzen!», erklärte diese Person.

Es ist in der Tat so, dass der Bundesrat und die Kantone längst nicht alles richtig gemacht haben in den letzten 15 Monaten. Trotzdem mahne ich zur Vorsicht: Beim Abstimmen helfen Kopf und Herz deutlich zuverlässiger als negative Emotionen. Das gilt auch beim Covid-19-Gesetz.

Wer mehr Information möchte – seitens des Bundes und des Nein-Lagers:

Dossier des Bundes
Komitee «Covid-Gesetz Nein» (Freunde der Verfassung)

Virus-Kreation: Steven Götz, Bern.