Niemand verdient 15 Millionen Franken

Sergio Ermotti, CEO der UBS, erhält also für das Jahr 2024 knapp 15 Millionen Franken. Der Fixlohn beträgt 2,8 Mio. Franken, der variable Teil 12,1 Mio. Franken. Chefs von US-amerikanischen Grossbanken erhalten deutlich höhere Beträge, wie die Zusammenstellung von Ringier am Ende dieses Postings zeigt.

Drei Gedanken dazu:

💰 Eine Grossbank mit 115’000 Mitarbeitenden zu führen, ist ausgesprochen anspruchsvoll. Ein solcher Job muss sehr gut bezahlt werden, keine Frage. Aber nichts rechtfertigt einen Lohn in der Höhe von 15 Mio. Franken.

💰 Dass die Boni-Kultur Unternehmen aushöhlt, haben wir auf die harte Tour mitbekommen. Die Credit Suisse (CS) zahlte ihren Managern von 2010 bis 2022 insgesamt 40 Milliarden Franken an Boni aus. Der ausgewiesene Nettogewinn in derselben Zeitspanne betrug 3,3 Mrd. Franken. Als die CS unterging, gab es vom Staat Garantieren in dreifacher Milliardenhöhe.
Stimmt, die UBS ist nicht die CS.

💰 Das Wort «Vergütung» sollte man im Kontext mit solchen Löhnen tunlichst vermeiden. Es ist lächerlich und ein «Chlapf an Gring» für alle normalen Arbeitstätigen.

Dass es bei den «Vergütungen» auch anders geht, zeigt die französische Grossbank BNP Paribas mit etwa 180’000 Angestellten. Dort erhält CEO Jean-Laurent Bonnafé 4,24 Mio. Euro (aktuell: 4,07 Mio. Franken). BNP Paribas weist 2024 einen Nettogewinn von 11,7 Mrd. Euro aus.

Vor wenigen Tagen hat der Ständerat mit 21:19 Stimmen einen Vorstoss von Jakob Stark (SVP/TG) überwiesen, der die Boni bei maximal 5 Millionen Franken deckeln will.

Man darf mir jetzt Stimmungsmache oder Neid unterstellen. Grundsätzlich finde ich es nicht richtig, wenn sich der Staat derart in die Wirtschafts einmischt,. Die Verantwortung für Boni liegt beim Verwaltungsrat und denjenigen, die Aktien halten. Im Fall der UBS hat aber der vierköpfige Vergütungsausschuss keinen Bezug zur Schweiz und vermutlich auch keine Ahnung, wie zersetzend Boni-Exzesse für unsere Gesellschaft sind. Sie wäre gesünder, wenn es gar keine Boni gäbe.

Foto: Südostschweiz 

Weshalb sich immer mehr Leute um Wahlen foutieren

«Wahlen sind eine Sternstunde der Demokratie.» So formulierte es vor vielen Jahren einmal ein Student von mir. Ein schöner Satz. Doch der Stern leuchtet deutlich schwächer als früher.

Bei den kantonalen Wahlen in Solothurn von gestern betrug die Wahlbeteilung 35 Prozent – ein neuer Tiefstwert. Dasselbe Bild zeigte sich vor Wochenfrist im Kanton Wallis.

Noch nie machten so wenig Walliserinnen und Solothurner von der Möglichkeit Gebrauch, die Regierung und das Parlament im eigenen Kanton zu wählen.

Die Politikwissenschaft unterteilt die Nicht-Wählerinnen und -Wähler in verschiedene Gruppen, etwa:
💠 die zufriedenen Desinteressierten
💠 die Inkompetenten
💠 die sozial Isolierten

Doch weshalb sinkt die Wahlbeteiligung? Ein paar Ansätze:

💬 Das Verständnis für Politik wird in den Schulen zu wenig vermittelt. Ich höre von meinen Studierenden immer wieder, dass auf der Stufe Sek oder Gymi Lehrpersonen vor ihnen standen, die Politik trocken und abstrakt, zuweilen sogar lustlos vermittelt hatten.

💬 Politik ist kompliziert, präziser: Politikerinnen und Politiker schaffen es oft nicht, ihr Tun verständlich zu erklären.

💬 Die Informations- und Vermittlungsleistung der Medien wird immer bescheidener, weil ihre Ressourcen seit 25 Jahren schwinden.

💬 Der Anteil der Menschen, die keine Nachrichten mehr aufnehmen (die sogenannten News-Deprivierten), nimmt zu.

💬 Es geht bei Wahlen um wenig. Auf Sachebene können wir alle paar Monate abstimmen, d.h. beispielsweise Entscheidungen des Parlaments mit einem Referendum kippen.

Eine ergänzende Vermutung: Seit sich die geopolitische Lage destabilisiert hat und die Kanäle mit «Shit» geflutet werden (Steve Bannon), ziehen sich viele Leute zurück ins Schneckenhaus. Der Lärm hat sie ermüdet und sie kapseln sich deshalb aus Selbstschutz ab. Wie sollen solche Menschen wissen, welche Parteien im Wahlkreis Olten-Gösgen zur Verfügung stehen oder welche Auswirkungen der doppelte Pukelsheim auf die Sitzverteilung im Wallis hat?

Die tiefe Wahlbeteiligung, eine Form der A-là-carte-Demokratie, macht mir Sorgen. Klar ist: Nur gut informierte Menschen können überlegte Entscheidungen an der Urne treffen. Im Umkehrschluss sind sie: Wahlvieh.

Kein Vertrauen, kein Team – ein Debakel

Nein, das Verteidigungsdepartement «implodierte nicht praktisch über Nacht», wie das die NZZ heute schreibt. Es wird durchgeschüttelt, weil vier Schüsselfiguren in den nächsten 12 Monaten den Hut nehmen und die Ruag von einem neuen Skandal eingeholt wurde.

Was ins Auge sticht: Armeechef Thomas Süssli reichte seine Kündigung am 30. Januar ein, Christian Dussey, der Chef des Nachrichtendiensts, bereits am 20. Januar.

VBS-Chefin Viola Amherd liess die vertraulichen Dokumente zu diesen brisanten Personalien aber erst gestern Dienstagmorgen hochladen und für die heutige Sitzung des Bundesrates traktandieren. Auf diese Weise haben einzelne Mitarbeitende aus den anderen sechs Departementen Zugriff.

⚡️ Zwischen den Kündigungen von Dussey bzw. Süssli und Amherds Information an den Gesamtbundesrat liegen 25 bzw. 35 Tage. Der Armeechef ist seit dem Beginn des Ukrainekriegs vor drei Jahren die wichtigste Figur in der Bundesverwaltung. Weshalb wurde der Gesamtbundesrat nicht viel früher über Süsslis Rücktritt informiert?

⚡️ Es dauerte gerade einmal eine Stunde, bis die brisanten Personalien den Medien gesteckt wurden.

Einmal mehr zeigt sich: Die sieben Mitglieder der Landesregierung vertrauen einander nicht, sie schauen nur für sich. Der Verteilkampf ums Geld und persönliche Animositäten verhindern, dass sich so etwas wie Teamgeist entwickeln könnte.

Wie die Sache abgelaufen ist, schildert CH Media hier.

Foto: Getty Images 

Der «Chrampf» der Mitte um die Amherd-Nachfolge

Wenn eine Partei einen Sitz im Bundesrat ersetzen darf, hat sie die Chance, kleine Festspiele zu inszenieren. Voraussetzung dafür ist, dass die Schlüsselfiguren mitmachen und sich ans gleiche Drehbuch halten. Kaum etwas interessiert die Medien mehr als die Kapitel vor dem Wahltermin. Endlich einmal etwas Spannung und Glamour in einem Land, das nie einen König hatte! Parteien können ihr Personal ins beste Licht rücken und, wenn sie es geschickt machen, sogar Inhalte und Positionen vermitteln.

Der Mitte ist das nicht geglückt. Kaum hatte Viola Amherd ihren Rücktritt am 15. Januar bekanntgegeben, taten sich Gräben auf zwischen den katholisch geprägten Stammlanden (die am «C» im Parteinamen lieber festgehalten hätten, C für christlich) und den bevölkerungsstarken Kantonen, dort, wo die Parteimitglieder sozial-liberaler, progressiver und jünger sind. Keck preschten die Mitte-Frauen vor. Gerhard Pfister, der in der Partei mehr als acht Jahre lang einen Führungsanspruch hatte und sie schliesslich 2023 stabilisierte, war plötzlich nicht mehr «Master of Ceremony».

Inzwischen steht zwar «Mitte» drauf, es ist aber weiterhin CVP drin. Und diese CVP war immer ein Chor, in dem man gleichzeitig Arien vor Gershwin, Volkslieder aus dem 18. Jahrhundert und Popsongs singt. Das klingt meistens: kakophonisch.

Statt die Aufmerksamkeit zu nutzen und auf das Karussell zu steigen, sagten mehr als ein halbes Dutzend mögliche Papabili ab. Die Partei macht dieser Tage einen pitoyablen Eindruck. Satiriker Bänz Friedli, gerade mit seinem neuen Programm auf Tournee, träufelt Zitronensaft in die offene Wunde. Wie immer befähigt, Tagesaktuelles einzubauen, fragt er, ob jetzt «Verzweiflungskandidaturen» kämen.

Heute wird der St. Galler Nationalrat Markus Ritter von seiner Kantonalsektion ins Rennen geschickt, und das ist kein Verzweiflungskandidat. Aus der Zentralschweiz ist spürbar, dass Ständerätin Andrea Gmür sich sehr für die Amherd-Nachfolge interessiert. Klar ist: Wer immer die Walliserin im Bundesrat ersetzt, muss das VBS übernehmen – ein grosses Departement mit einigen Fürsten, ein paar kalten Kriegern und vielen Baustellen.

Darüber habe ich im «TalkTäglich» von TeleZüri und seinen Schwestersendern TVO (Ostschweiz), TeleM1 (AG/SO) und TeleBärn gesprochen – zusammen mit Gastgeber Oliver Steffen und Doris Kleck, der Co-Bundeshausleiterin von CH Media. Hier gibt’s den Talk zum Nachschauen.

Viola Amherd und Gerhard Pfister gehen: Zwei Rücktritt, zwei Hypothesen

Im August 1995 trat Otto Stich (SP) vor die sommerlich-schläfrigen Medien und gab seinen Rücktritt bekannt. Niemand hatte damit gerechnet, der Solothurner Bundesrat freute sich spitzbübisch. Gestern schaffte Viola Amherd (Die Mitte, Foto links) dasselbe Kunststück.

Am 6. Januar hatte Gerhard Pfister (rechts) seinen Rücktritt als Mitte-Präsident auf Juni angekündigt, neun Tage später folgt Amherd. Sie beendet ihre politische Karriere bereits Ende März. Gibt es einen Zusammenhang?

Die Gilde der Kaffeesatzleser hat jetzt Konjunktur. Zwei Hypothesen.

A) Der Plan
Es gibt Journalistinnen und Politbeobachter, die davon ausgehen, dass Pfister mit einigem Vorlauf von Amherds Entscheidung wusste. So konnte er sich mit seiner Ankündigung die Pole Position für die Nachfolge sichern. Der ausgebuffte Stratege weiss, wie man das Spiel liest.

B) Die List
Amherd wollte eigentlich nach der Frauen-Fussball-EM im Sommer ihren Rücktritt ankündigen. Doch weil diese Absicht derart logisch war und herumgeboten wurde, zudem die Mühsal mit den harzigen Geschäften immer mehr nervt, verschob sie den Termin auf März. Auf diese Weise überlistete sie alle und kann – mutmasslich – einen alleinigen Abgang aus der Landesregierung geniessen. Sie überlistet insbesondere Pfister, der die Partei weiterhin präsidiert und damit unter Zugzwang kommt.

Eine Doppelrolle – Präsident und Bundesratskandidat – ist generell nicht ideal, gerade bei der Mitte, weil Pfister sie stark geprägt hat. Will der Zuger Bundesrat werden, muss er die Führung der Partei schleunigst an das Vizepräsidium abgeben. Pfister hat nicht nur Freunde unter der Bundeshauskuppel, andere heiss gehandelte Kandidaten seiner Partei sind populärer. Eine Imagekorrektur braucht Zeit, acht Wochen sind eine kurze Phase.

Hypothese B klingt abenteuerlich, ich weiss. Aber hey, man sollte Walliserinnen nie unterschätzen.

Zwei Interviews, die ich zu diesem Thema gegeben haben, sind hier verlinkt:

🗞️ Über den Einfluss der SVP und die Lust, für den Bundesrat zu kandidieren – «Watson»

📺 Über mögliche Nachfolger und die Chancen eines Doppelrücktritts mit Ignazio Cassis  – Live-TV-Interview von gestern Nachmittag
«20 Minuten» (Dauer: 20 Minuten)

Foto: Die Mitte (Website)

Es geht nichts über geschicktes Timing

Viele Medien zeigten sich überrascht, als Gerhard Pfister (im Bild rechts) seinen Rücktritt als Parteipräsident auf Mitte Jahr bekanntgab. Das überrascht mich, weil der Zeitpunkt ideal ist für beide: die Partei und Pfister.

➡️ Die Vorbereitungen für eidgenössische Wahlen beginnen inzwischen zwei Jahre vor dem Wahltermin. Es macht also Sinn, wenn schon im Sommer dieses Jahres eine neue Kraft die Führung der Partei übernimmt.

➡️ Gerhard Pfister werden schon seit Jahren Bundesrats-Ambitionen nachgesagt. Die letzten neun Jahre haben gezeigt, dass er Parteipräsident kann. Der logische – und letzte – Karriereschritt wäre: Bundesrat. Der ausgebuffte Stratege hat sich für die Nachfolge von Viola Amherd (links) in eine ausgezeichnete Position gebracht. Es geht nichts über geschicktes Timing.

🟧 Amherd wurde im Dezember 2018 gewählt, ist also seit sechs Jahren im Amt. Sie erkämpfte ein Volks-Ja zu neuen Kampfjets (2020), schuf das neue Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (2023), holte sich bei der Ausrichtung der Bürgenstock-Konferenz gute Noten (2024) und kann sich während der Fussball-EM der Frauen im Juli den Medien und Massen volksnah zeigen. Kaum jemand im Bundeshausperimeter glaubt, dass sie die Legislatur beenden wird, also bis Ende 2027 bleibt. Naheliegend ist vielmehr, dass Sie auf Ende dieses oder nächsten Jahres aufhört.

Bei Bundesratswahlen ist Standard, dass Fraktionen Zweiertickets präsentieren. Ob dieses oder nächstes Jahr: Die Mitte-Fraktion wird nicht darum herumkommen, Pfister zu nominieren. Seine Verdienste für die Partei sind gross, und sie sind breit anerkannt. Ihm gelang es zusammen mit Generalsekretärin Gianna Luzio, seiner wichtigsten Vertrauten, die Partei zu stabilisieren, mit der BDP zu fusionieren und ihr einen neuen Namen zu verpassen.

Das «C» ist weg, nachdem sich das katholische Milieu schon zuvor aufgelöst hatte, und damit wird Die Mitte auch im urbanen Mittelland wählbar. Die CVP hätte übrigens bereits 1970 die Chance gehabt, einen Namen ohne «C» zu wählen: Zur Auswahl stand damals u.a. Schweizerische Volkspartei (SVP). Die heutige SVP hiess damals noch Bauern-Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) und notierte bei 10 Prozentpunkten. Die Parteienlandschaft sähe heute anders aus, wenn die Katholisch-Konservativen am entscheidenden Parteitag in Solothurn den Mut gehabt hätten, über ihren Schatten zu springen.

Doch zurück zu Pfister. Wenn er will, steht sein Name dereinst auf dem Zweierticket. Als Parteipräsident wäre das deutlich schwieriger. Die Wetten laufen.

Foto: Die Mitte (Website)

Vertrauen ist ein zentraler Faktor für den politischen Erfolg

Am Freitag wird der Bundesrat das Vertragspaket mit der EU der Öffentlichkeit vorstellen. Bis die letzten Details der Bilateralen III bereinigt sind, dürfte es Frühling werden. Danach beginnt der politische Prozess. Sollte das Parlament das Vertragswerk nicht zurückweisen, wird schliesslich das Stimmvolk darüber entscheiden können.

Seit dem Jahr 2000 haben wir – direkt oder indirekt – bereits zwölf Mal über die Bilateralen abgestimmt. Jede dieser Abstimmungen war von langen und intensiven Debatten begleitet.

Vertrauen ist bei Volksabstimmungen ein zentraler Faktor. Es geht dabei um das Vertrauen in Bundesrat und Parlament, aber auch in die Akteure der Wirtschaft. Über Jahrzehnte hinweg galt die Formel: «Was gut ist für die Wirtschaft, ist auch gut für das Land.» Doch seit der Finanzkrise 2008/2009, als die UBS mit Staatsmitteln (66 Milliarden Franken) vor dem Untergang gerettet werden musste, hat diese Überzeugung deutlich an Kraft verloren.

Der Lack war ab, das Vertrauen erschüttert.

In den Führungsetagen börsennotierter Unternehmen mit Sitz in der Schweiz stammt heute jeder zweite Manager aus dem Ausland. Viele von ihnen sind «Global Nomads»: Sie sprechen keine der Landessprachen, haben nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen, engagieren sich weder in der Feuerwehr noch im örtlichen Turnverein, und ihre Kinder besuchen meist eine englischsprachige Schule. Nach vier, fünf Jahren ziehen sie weiter, nach Singapur, Greater London oder in die Niederlande.

Wenn die Wirtschaft die Bilateralen III erfolgreich durchbringen will, braucht sie bekannte Persönlichkeiten, denen die Bevölkerung vertraut. Es braucht Geschäftsführerinnen, die überzeugend darlegen, dass der Wohlstand der Schweiz nicht durch den Anbau von Kartoffeln und Weizen entstanden ist, sondern durch den Export von Maschinen, Uhren und Medikamenten. Es braucht Patrons, die mit Leidenschaft erklären, welchen Beitrag ihre Familienunternehmungen leisten und wie wichtig ein liberaler Arbeitsmarkt ist.

Diese Woche wurde bekannt, dass der CEO des Energiekonzerns Axpo neben einem Jahresgehalt von 1,1 Millionen Franken auch einen Bonus von 649’000 Franken erhält. Besonders brisant ist dies, da die Axpo erst vor zwei Jahren nach einem Rettungsschirm in Höhe von vier Milliarden Franken rief und mehrheitlich den Kantonen gehört.

Solche Fälle schüren Missgunst und untergraben das Vertrauen in die Wirtschaft. Verwaltungsräte hätten die Möglichkeit, Boni mit gesundem Menschenverstand zu regeln.

Die Volksinitiative braucht ein Update

Wir sind stolz auf sie. Seit ihrer Einführung im Jahr 1891 konnte das Schweizer Stimmvolk 234 Mal über eine Volksinitiative befinden, im Durchschnitt also etwa zwei Mal pro Jahr. Sie brachten immer wieder lange, intensive, manchmal auch gehässige Debatten in die Stuben und Sääle. Das ist ein wichtiger Teil. 

Diese Woche hat der Ständerat die ersten Weichen gestellt, damit Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden digital gesammelt werden können. Dieser Entscheid steht unter dem Eindruck des Skandals, der im September bekannt worden war. Kommerzielle Sammler hatten mutmasslich Tausende von Unterschriften gefälscht. Das ist Gift für das Vertrauen in die Demokratie.

Die Skepsis gegenüber dem digitalen Sammeln von Unterschriften ist weiterhin gross. Doch es geht nicht nur um Sicherheit und Datenschutz. Das Sammeln würde einfacher, was zu noch mehr Volksinitiativen führen kann. Unter den Strich wäre das positiv, wenn die Begehren echte Debatten anstossen und die Demokratie so revitalisiert wird. Die kritische Betrachtung: Volksinitiativen treiben das Parlament und das Volk vor sich hin, was zu Politik-Müdigkeit führt.

Zu Beginn war die Volksinitiative das Instrument der Opposition, also der SP und der Katholisch-Konservativen. Sie brachten regelmässig Grundsatzfragen aufs Tapet. In den Neunzigerjahren begann sich der Charakter der Volksinitiative zu verändern. Inzwischen ist sie oft ein Marketing-Vehikel, listig formuliert und emotional aufladbar. Es geht um Aufmerksamkeit, Spenden und Mitgliederwerbung. Zuweilen wird sie verwendet als Druckmittel oder Drohkulisse. Die Vordenker des modernen Bundesstaats würden sich im Grab umdrehen, wenn sie mitbekämen, was aus ihrer Volksinitiative geworden ist.

Ursprünglich brauchte es für das Zustandekommen 7,6 Prozent der Stimmberechtigten, inzwischen weniger als 2 Prozent. Diese Hürde ist tief – zu tief, finde ich. Doch die Diskussion darüber wollen die Akteure nicht führen, weil niemand als «Abbauer der Volksrechte» gebrandmarkt werden will. Vor zehn Jahren regte ich in einem Gastbeitrag in der «Handelszeitung» an, die Unterschriftenzahl moderat zu erhöhen. Anstelle der statischen Zahl 100‘000, die in der Bundesverfassung steht, würde man besser eine dynamische Zahl verwenden, zum Beispiel 2,5 Prozent. Bei 2,5 Prozent der Stimmberechtigten bräuchte es zurzeit 137‘000 gültige Unterschriften, bei 3 Prozent wären es 165‘000 Unterschriften. Die Schweiz mutierte deswegen nicht zur Plutokratie, es geht um ein pragmatisches Update.

Die Volksinitiative ist das wertvollste Instrument der Schweizer Politik. Wird es inflationär genutzt, verliert es einen Teil seines Wertes.

Ergänzend, zum Thema «Initiativenflut», eine Grafik von Swissinfo. Sie zeigt, dass im Jahr 2011 insgesamt 24 Volksinitiativen ergriffen wurden – bislang ein Rekordwert.

Foto: Stefan Lanz/20 Minuten

Only in Switzerland

Die politisch interessierte Welt blickt in die USA. Trump oder Harris – too close to call. Viele US-Amerikanerinnen und -Amerikaner werden heute stundenlang in einer Schlange stehen müssen, um ihr Wahlrecht wahrzunehmen.

Vor wenigen Tagen sagte Bundesrat Albert Rösti an einer Veranstaltung in einer Basler Schule, dass er «eher zu Trump tendiere». Prompt sorgt diese Aussage für Wirbel. Auf der Bundesgasse stellt mir Urs Leuthard für die Sendung 10vor10 ein paar Fragen.

Nach dem Interview will ich so schnell als möglich zurück ins warme Büro. Vor dem Bundeshaus kommt mir ein Gestalt entgegen, in etwa gleich gross wie ich, aber besser gekleidet. Ich erkenne ihn. Mein Atem stockt.

«Grüessech, Herr Bundesrat!», sage ich.

Albert Rösti stoppt und schüttelt mir die Hand. Ein Wort gibt das andere. Ich warne ihn vor, dass er im «Staatssender» flach herauskommen werde und zwinkere mit den Augen. Er lächelt. Wir verabschieden uns, ich verzichte auf das Beweis-Selfie,  und er marschiert davon. Es ist weit und breit kein Bodyguard in Sicht.

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PS:
Die aktuelle Sendung von 10vor10 ist hier abrufbar, der Beitrag über Bundesrat Rösti kommt an zweiter Stelle.

PPS:
Ich tendiere übrigens zu Harris. Die Welt kann sich vier weitere Chaos-Jahre wie von 2017 bis 2020 schlicht nicht erlauben.

Nemo ist nicht Bundesrätin Keller-Sutter

Seit Monaten hat sich ein Mob auf Nemo eingeschossen. Aus dem Nichts kommt das nicht. Dennoch sollten Medien und PR-Leute verantwortungsvoller mit dem Star aus Biel umgehen. Der Abbruch eines Interviews mit ihm schadet letztlich allen.

Direkt nach dem Auftritt am Lakelive Festival sprach Nemo mit dem «Bieler Tagblatt». Als die Journalistin eine Frage zum «politisch aufgeladenen ESC» in Malmö stellte, intervenierte die Presseverantwortliche des Stars. Schliesslich brach Nemo das Gespräch ab, weil «sich jede Frage wie eine Provokation anfühlt». Am Samstag wurde das Rumpf-Interview publiziert und schlägt seither Wellen.  (Es ist hier als PDF verlinkt.)

Natürlich, es gehört zum Job der Journalistinnen und Journalisten, Fragen zu stellen. Natürlich, Interviews sollen kritisch sein. Tatsache ist, dass sie es in den Bereichen Sport, Kultur und Showbusiness oftmals nicht sind, weil den Medienschaffenden die Distanz fehlt oder sie sogar Fans sind. Selbst Roger Schawinski, der härteste Talker der Nation, stellte keine harten Fragen mehr, als er Emil zu Gast in seiner Sendung hatte.

Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Sängerinnen wollen alle dasselbe: in den Medien gut herüberkommen. Vor, während und nach Interviews tun sie und ihre Entouragen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollen die Bedingungen diktieren, Redaktionen lassen sich nicht selten darauf ein, weil sie Prominenz und Exklusivität hoch gewichten. Das Resultat sind glattgebügelte Interviews, die uns beim Lesen langweilen.

Ich habe früher oft über Musik geschrieben und viele Interviews geführt, etwa mit Marla Glen, Kuno Lauener, 4 Non Blondes oder Gianna Nannini. Das war manchmal beglückend und manchmal zäh. Und manchmal sagten die Stars Dinge, die sie in die Bredouille gebracht hätten. Ich liess allzu Provokatives oder Unreflektiertes stets weg – zuweilen müssen Künstlerinnen und Künstler vor sich selbst geschützt werden.

Der Fall von Nemo ist anders gelagert: Das Talent aus Biel wird seit Monaten im grossen Stil mit Bösartigkeiten und Hass eingedeckt: Zum einen, weil es nicht-binär ist und ein drittes Geschlecht propagiert, zum anderen, weil es beim ESC den Boykottaufruf gegen Israel mitgetragen haben soll.

Nemo zu den Vorgängen in Malmö keine kritischen Fragen zu stellen, wäre unjournalistisch, natürlich, aber die Medien haben auch eine Verantwortung, nicht unnötig Öl ins Feuer zu giessen. Was im «Bieler Tagblatt» seinen Anfang nahm, hat den Mob sofort mobilisiert.

Keine überzeugende Rolle spielte Nemos Management: Zunächst legte es schriftlich fest, dass die Journalistin auf politische Fragen verzichten solle, rückte aber später wieder davon ab. Zudem verzichtete es darauf, das Interview zurückzuziehen.

Was wir nicht vergessen sollten: Nemo ist gerade einmal 25 Jahre alt und erst seit dem letzten Mai auf der Weltbühne. Im eigenen Lager ist Nemo eine Ikone, für andere eine Hassfigur, allein der Name triggert enorm. Das legt nahe, einen anderen Massstab anzuwenden, als beispielsweise bei Karin Keller-Sutter, die seit 24 Jahren Berufspolitikerin ist.


Nachtrag vom 6. August 2024: 

Heute reagiert der Co-Chefredaktor der «Bieler Tagblatt» (BT) mit einem Leitartikel. Er schreibt, dass Nemo der Sache mit dem Interview-Abbruch schade. Sein Ansatz ist durchdacht, klar formuliert, was dieser schwierigen Debatte hilft. Der Leitartikel ist hier verlinkt (vor der Bezahlschranke).

 

Foto: Benjamin Ramsauer, SRF

Dieser Beitrag ist zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche, erschienen.