Prognosen für die Ständeratswahlen in den Kantonen Aargau, Bern, Solothurn und Zürich

Der Wahltag ist da, für die Beteiligten beginnt das lange Warten. Ich habe mein Prognosemodell, das in den letzten Jahren fast immer zuverlässig war, angeworfen. Es funktioniert nur für Majorzwahlen. Ich konzentrierte mich auf die Ständeratswahlen in vier Kantonen.

Zunächst, natürlich, der Aargau – meine alte Heimat: Hier schafft es der bisherige FDP-Ständerat Thierry Burkart im ersten Wahlgang.

Im Kanton Bern ist die Ausgangslage offener. Laut meinem Prognosemodell zersplittern sich die Stimmen wegen den vielen guten Kandidaturen stark. Folglich schafft es auch der Bisherige Werner Salzmann nicht im ersten Wahlgang.

Im Kanton Solothurn tritt der langjährige SP-Mann Roberto Zanetti zurück. Seit 1999 konnte die SP dieses Sitz für sich beanspruchen, zuerst mit Ernst «Aschi» Leuenberger, nach dessen frühen Tod 2010 mit Zanetti. Die besten Karten, seinen Sitz zu erobern, hat FDP-Regierungsrat Remo Ankli. Laut Modell schafft der Bisherige Pirmin Bischoff, immerhin seit 2011 Ständerat, dieses Mal die Wiederwahl nicht im ersten Anlauf.

Wegen Ruedi Nosers (FDP) Rücktritt ist die Ausgangslage im Kanton Zürich offen und sehr spannend. Hier richtig zu rechnen, war noch anspruchsvoller als anderswo.


Mein Prognosemodell berücksichtigt die Parteistärke, den Support von «Alliierten» sowie den Bekanntheitsgrad. Die Gewichtung bleibt mein Geheimnis.

Weshalb Natalie Rickli nicht für den Bundesrat kandidieren wird

Die letzten 24 Stunden sind ein paar Medienanfragen zur Nachfolge von Bundesrat Ueli Maurer eingegangen. Alle Journalisten nennen den Namen der Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli, laut Tamedia hat sie «auf dem Papier das beste Anforderungsprofil». In der Tat war Rickli von 2007 bis 2019 Nationalrätin, ehe sie im Frühling 2019 in den Regierungsrat gewählt wurde. Als einzige der bislang genannten Personen hat sie also Erfahrung auf nationaler Ebene und in einer kantonalen Exekutive.

Dennoch glaube ich nicht daran, dass sie für den Bundesrat kandidieren wird. In diesem Blogposting führe ich aus, wieso.

Rickli und Ernst Stocker wurden am 13. April 2022 von ihrer Partei wieder für den Regierungsrat nominiert. Stocker ist mit 67 Jahren bereits im Pensionsalter. Er wurde bekniet, nochmals anzutreten, weil sonst weit und breit kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stand, der den zweiten SVP-Sitz in der siebenköpfigen Regierung souverän hätte verteidigen können. Also muss Stocker nochmals ran.

Die Gesamterneuerungswahlen im Kanton Zürich finden am 12. Februar 2023 statt. Sie haben eine übergeordnete Bedeutung, weil ihre Resultate als Vorboten für den Ausgang der eidgenössischen Wahlen im Oktober 2023 gedeutet werden. Deshalb gilt für jede Partei: verlieren verboten!

Rickli ist wohlgelitten im Entscheidungszirkel rund um Übervater Christoph Blocher, bei der SVP weiss man, was man an ihr hat. Eine Bundesrätin Natalie Rickli, im November wird sie 46-jährig, würde der Partei ein junges und frisches Aushängeschild bescheren. Selbstverständlich wird sie nun hinter den Kulissen bearbeitet.

Allerdings stimmt das Timing nicht für sie. Die Maurer-Nachfolge wird am 7. Dezember unter der Bundeshauskuppel entschieden. Von der SVP wird ein Zweiervorschlag erwartet. Alles andere wäre ein Affront gegenüber den anderen Fraktionen, die deswegen eine wilde Kandidatur vorziehen könnten. Die Dynamik sollte man nicht unterschätzen, zumal Bundesratswahlen geheim sind.

Nehmen wir an, dass Rickli für den Bundesrat kandidiert. In einem solchen Fall steht die SVP-Kantonalsektion vor der Herausforderung, einen Ersatz für Rickli aus dem Hut zu zaubern, der realistische Wahlchancen für die Zürcher Regierung hat. Doch wer ist dieser Mister oder Miss X? Wenn vor Jahresfrist kein Nachfolger für Stocker gefunden werden konnte, wäre die Suche in den nächsten Wochen kaum einfacher. Wer will im Ernst zu einem derart späten Zeitpunkt ins Rennen steigen und sich verheizen lassen?

Im mit Abstand bevölkerungsreichsten Kanton will die stärkste Partei ihren zweiten Regierungssitz gewiss nicht verlieren. Das wäre Sand im Getriebe während des eidgenössischen Wahljahres.

Das Risiko ist auch für Rickli gross. Zweifellos würde sie es auf das Zweierticket der Fraktion schaffen, beispielsweise zusammen mit Albert Rösti (BE), Esther Friedli (SG) oder Alt-Parteipräsident  Toni Brunner (SG). Was aber am Wahltag  geschieht, ist komplett offen. Wenn sie den Sprung in den Bundesrat nicht schafft, kann sie nur schwerlich zurück zu Plan A schwenken, der Wiederwahl für den Zürcher Regierungsrat. Das Volk würde ein solches Hüscht und hott kaum goutieren.

Natalie Rickli ist mediengewandt wie nur wenige Spitzenfiguren in der Schweizer Politik. Sie wird es schaffen, vorläufig als Bundesratskandidatin im Gespräch zu bleiben. Rechtzeitig entscheidet sie sich dann aber für ihre angestammte Position. Das wird dann etwa so klingen: «Es ist eine Ehre, für eine Bundesratskandidatur angefragt zu werden. Nach reiflichen Überlegungen bin ich zum Schluss gekommen, dass in Zürich noch ein paar wichtige Aufgaben auf mich warten.»

So geht Wahlkampf – für den Termin im Februar 2023. Zugleich empfiehlt sich Rickli für die Nachfolge von Bundesrat Guy Parmelin (63), der seit 2015 im Amt ist, also vermutlich noch drei Jahre macht. Oder sie kandidiert 2027 für den Ständerat. Dann wird Daniel Jositsch (SP) nach 12 Jahren im Stöckli und insgesamt 16 Jahren in Bundesbern vermutlich abtreten. Die Chancen stehen für Rickli gut, wenn sie in ihrer zweiten Legislaturperiode als Regierungsrätin keine grossen Fehler macht. Ist sie erst einmal im Ständerat, kann auch der Sprung in die Landesregierung klappen, siehe Karin Keller-Sutter, die eine vergleichbare Karriere hinter sich hat.

Foto: Tages-Anzeiger

«Jede Partei möchte Prominente auf der Liste, die den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden»

Quereinsteiger gibt es schon lange immer wieder: In der Regel sind es Unternehmerinnen und Unternehmer, die den Sprung in die Bundespolitik versuchen, aber auch Medienleute und ehemalige Spitzensportler. Viele scheiterten dabei, anderen glückte es, etwa Johann Schneider-Ammann (1999, FDP), Matthias Aebischer (2011, SP) oder Roger Köppel (2015, SVP). Mit Tamy Glauser setzt ein Model zum Sprung in den Nationalrat an. «Blick» hat mir zu dieser Kandidatur ein paar Fragen gestellt. Das ganze Interview gibt’s aber nur hier.

Den Grünen ist ein Coup gelungen: Tamy Glauser, ein international erfolgreiches Model, kandidiert in Zürich für den Nationalrat. Was sagen Sie dazu, dass die Grünen sie zur Kandidatin nominiert haben?

Mark Balsiger: Am Anfang war es ein Flirt. Er wird seit Tamy Glauser bei den Bundesratswahlen im letzten Dezember dabei war medial begleitet. Mit ihrer Nomination ist die Sache nun ernster. Jede Partei wünscht sich, auf ihrer Nationalratsliste Quersteigerinnen und Quereinsteiger präsentieren zu können. Am liebsten solche, die zusätzliche Stimmen für die Liste holen, den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden.

Tamy Glauser ist eine klassische Quereinsteigerin in der Politik, sie hat nicht die Ochsentour von der Baukommission in einer Gemeinde bis in ein kantonales Parlament hinter sich, sondern will gleich auf Bundesebene einsteigen. Ist das ein Nachteil, oder ein Vorteil für Glauser?

Wählerinnen und Wählern gewichten politische Erfahrung stark. Das kann Tamy Glauser nicht bieten und dieser Malus wiegt schwer. Ein anderer Punkt: Gerade den Grünen ist es wichtig, dass Leute belohnt werden, die sich jahrelang mit grossem Engagement für die Partei eingesetzt haben. Deshalb erntet Glausers Kandidatur an der Basis der Grünen nicht nur Applaus, sondern wird auch skeptisch beurteilt. Einige Parteigängerinnen und Parteigänger werden ihren Namen auf der Liste streichen.

Ist ihr Status als Prominente ein Vor- oder ein Nachteil?

Erhebungen zeigen, dass ein grosser Bekanntheitsgrad zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren bei Wahlen gehören. Prominente generiert die Aufmerksamkeit der Medien, und Glauser bringt Glamour in den Wahlkampf der Grünen. Aber das alleine reicht noch lange nicht für die Wahl in den Nationalrat. Sie muss als kompetent wahrgenommen werden.

Was muss Tamy Glauser nun machen, um reale Chancen zu haben, im Herbst als Nationalrätin der Grünen gewählt zu werden?

Wenn sie sich sofort in die Politik kniet, in den wichtigsten Themen der Grünen sattelfest wird, ein schlagkräftiges Wahlkampfteam zusammenstellt und eine professionelle Kampagne fährt, wird ihre Kandidatur ernst genommen. Das schafft sie nur, wenn sie die nächsten fünf Monate voll auf die Karte Politik und Wahlen setzt. Das wird sie nicht tun. Ein anderer Aspekt: Glauser kriegte den Listenplatz 10 – eine clevere Entscheidung der Parteileitung. Von dort aus hat sie faktisch keine Wahlchancen, kann aber der Partei und deren Themen als öffentliche Figur zu mehr Publizität verhelfen.  

Kann oder soll sie weiter als Model, DJane und Teil von «Tamynique» auftreten?

Natürlich, Medienverleger, Gymnasiastinnen und Bauern kandidieren ja auch für den Nationalrat und bei ihnen stellen wir diese Frage nicht. Klar, Glauser stejt unter besonderer Beobachtung: Für viele Leute ist schon der Gedanke herausfordernd, dass ein Model politisieren will.

Tamy Glauser am Montagabend an der Nominationsversammlung der Grünen Zürich.

Inwiefern profitieren die Grünen nun von Tamy Glauser als Nationalratskandidatin – ihre Kandidatur ruft ja auch viele Kritiker auf den Plan?

Glauser ist eine glaubwürdige Vertreterin der LGBT-Community und sie kämpft gegen die Klimakrise. Davon können die Grünen profitieren. Zudem ist sie zusammen mit den beiden bisherigen Nationalräten Bastien Girod und Balthasar Glättli die bekannteste Figur auf der Liste. Das hilft der Partei, aber der ökologische Fussabdruck der Vielfliegerin ist problematisch. Und ja, sie polarisiert. Glauser versteht sich als Aktivistin, nicht als «Schätzeli der Nation».

Wie und auf welche Art muss die Partei nun Glauser bei ihrer Kandidatur unterstützen, was ist in den nächsten Monaten besonders wichtig?

Am besten wäre es, wenn sie Glauser eine «Gotte» zur Seite stellt, die selber keine Ambitionen hat und die Mechanismen der Politik und des Wahlkampfs kennt. Auch Skifahren lernt man nicht von einem Tag auf den anderen. Die Zürcher Grünen werden im Herbst einen, allenfalls sogar zwei zusätzliche Sitze gewinnen. Im Idealfall kämpfen alle Kandidierenden für die gemeinsame Sache. Der Regelfall ist allerdings ein anderer: Das Gerangel ist oft unsportlich, die grössten Feinde sind immer in derselben Partei.

Welche Rolle spielt Glausers Partnerin Dominique Rinderknecht in Bezug auf Glausers Wahlchancen? Was muss, sollte Rinderknecht in den nächsten Monaten tun?

Wenn Rinderknecht voll hinter diesem Projekt steht, ist das sehr wertvoll für Glauser. Wahlkampf braucht sehr viel Zeit und noch mehr Energie. Da hilft es, wenn man regelmässig tanken kann. 

Für aufstrebende Politiker ist Facebook eine unverzichtbare Plattform

schmid_federer_306_topelementDie Facebook-Page von Barbara Schmid-Federer zählte im Hochsommer 5200 Fans. Tausende von anderen Milizpolitikern wagen nicht einmal, von einer so grossen „Community“ zu träumen. Inzwischen hat die Zürcher CVP-Nationalrätin ihre Page vom Netz genommen. „Facebook ist nicht mehr das richtige Tool für den Wahlkampf“, erklärte sie gegenüber „Persönlich“, dem Online-Portal der Kommunikationsbranche. Beim Lesen dieses Interviews schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen: „Oh my God, Barbara!“ Ich kritisiere nicht ihre Entscheidung, sondern das Signal an andere Politiker, das sie damit medienwirksam aussandte.

Schmid-Federer ist eine begabte Wahlkämpferin. Auch weil sie früh und geschickt auf Social Media setzte, schaffte sie 2007 den Sprung in das nationale Parlament. Es ist ihre freie Entscheidung, dass sie Facebook nach zehn Jahren den Rücken kehrte. Sie ist etabliert, bewirtschaftet ihre Themen systematisch und pflegt gute Kontakte zu Journalistinnen und Journalisten. Dank dieser soliden Basis braucht sie den blauen Riesen nicht mehr, sie konzentriert sie lieber auf ihr Twitter-Konto. Auch dort wird sie wahrgenommen. Das gelingt ihr, weil sie bekannt ist und dieses Tool beherrscht.

Auf Twitter sind vor allem Multiplikatoren und Meinungsmacherinnen präsent – Werber, PR-Beraterinnen, Prominente und, seit Mitte 2011, auch viele Medienschaffende. Politiker bezeichnen den Microblogging-Dienst oft „als Gesprächsangebot für Journalisten“. Tatsache ist, dass sich in der Twitter-„Bubble“, die nicht mehr als rund 200’000 Aktive umfasst, eine knallharte Hierarchie herausgebildet hat. Wer auf kommunaler oder kantonaler Ebene politisiert, wird ignoriert. Entsprechend wächst bei solchen Nutzern die Anzahl „Follower“ nur schleppend. Nur wer jahrelang hartnäckig dranbleibt und Vieles richtig macht, wird schliesslich eine Liga aufsteigen. Tatsache ist aber auch, dass auf Twitter kein Wählerpotenzial schlummert.

mark_zuckerberg_306Facebook ist seit der Gründung im Jahr 2004 ein „Föteli-Stream“. Zur Erinnerung: Mark Zuckerbergs Plattform hiess zuerst „Hot or not“, auf der seine Kommilitoninnen der Universität Harvard bewertet wurden. Ich teile Schmid-Federers Kritik, dass Politisierende auf Facebook immer mehr ihr Privatleben inszenieren – Hinz und Kunz übrigens auch. Die Grenzen werden verwischt und irgendeinmal ist alles Private öffentlich. Diese Entwicklung zeigt sich exemplarisch bei der „Fotomanie“ rund um die eigenen Kinder. Von der Geburt bis zum Schulabschluss werden die Sprösslinge im Bild präsentiert, ja vermarktet – bei jedem Sprung ins Planschbecken, jedem neuen Zahn, jedem Bienenstich und jedem Tor am Grümpelturnier. Es geht vielen Eltern um die Aufmerksamkeitsprämie, Kinder generieren mehr „Likes“ und „Jöö“-Kommentare als Katzen-Content. Sie blenden aus, dass Fotos und Videosequenzen, die auf Facebook hochgeladen wurden, für immer der Datenkrake gehören.

Bei den Jungen gilt Facebook schon seit Jahren als voll uncool und langweilig, und deshalb haben sich viele abgesetzt. Sie tummeln sich lieber auf Whatsapp, Instagram und Snapchat. Die Abwanderung der Jungen wurde aber von den über 50-Jährigen kompensiert. Insgesamt gibt es in der Schweiz 3,5 Millionen Facebook-Nutzer, davon sind ungefähr 2,5 Millionen wahlberechtigt. Die Forschung zeigt: Von der Alterskategorie der bis 25-Jährigen nimmt bei Nationalratswahlen jeder Vierte teil, bei den 50- bis 55-Jährigen ist es jeder Zweite.

Wo die potenziellen Wählerinnen und Wähler sind, sollten auch die Politiker nicht fehlen. Facebook ist zwar ein unsympathischer Konzern, der dank unserer Naivität und unserem Narzissmus Daten à discrétion sammeln kann. Für aufstrebende Politikerinnen und Politiker ist diese Plattform aber trotzdem unverzichtbar. Natürlich wüten dort Trolls. Natürlich ist die Bereitschaft, „Likes“ zu vergeben, drastisch gesunken. Natürlich sind auf die Schnelle keine grossen Sprünge mehr möglich, auch wenn man Werbung schaltet (so genannte Ads) und die Reichweiten mit bezahlten Postings erhöht. Keine Wirkung erzielt das Absondern von Parolen, „Wählt mich, wählt mich“-Schreie und Kurzbeiträge im Stil von „Spannende Debatte an der Delegiertenversammlung“. Wer aber über Jahre hinweg Diskussionen anstösst, Fragen stellt, Geschichten erzählt und einen glaubwürdigen Dialog führt, wird einmal in die Fussstapfen von Barbara Schmid-Federer treten können. Die Erfolgsformel, die ich kreierte, heisst „i-hasi“ – in Anlehnung an die mobilen Geräte aus dem Hause Apple. „i-hasi“ steht für:
ihasi_erfolgsformel_612

Mark Balsiger

Dieses Posting erschien zuerst bei “Persönlich”, dem Online-Portal der Schweizer Kommunikationsbranche.

Blocher will Medienmacht im Kanton Zürich

Die Katze kann das Mausen nicht lassen. Das war mein ersten Gedanke, als ich von Christoph Blochers Projekt hörte, sonntags eine Gratiszeitung unter die Leute zu bringen. Diese wird es kaum je gehen, der Sonntagsmarkt ist übersättigt. Aber der SVP-Übervater will mehr Medienmacht – im Kanton Zürich, weil seine „Basler Zeitung“ gescheitert ist.

Die erste Version dieses Postings trug den Titel: Neue Blocher-Zeitung – „Zimmi“-Recherche – Sommer-Theater. Nachdem ich mit einer Journalistin über Kurt W. „Zimmi“ Zimmermanns Story im „Schweizer Journalist“ gesprochen hatte, dachte ich nochmals nach – und begann von vorne mit Schreiben. Die wahre Absicht Bloches ist eine andere. Der Reihe nach.

 

In der deutschen Schweiz gibt es derzeit sechs Sonntagstitel, nämlich: „SonntagsBlick“ (Ringier), „NZZ am Sonntag“, „Ostschweiz am Sonntag“ (NZZ), „Schweiz am Sonntag“ (AZ Medien), SonntagsZeitung (Tamedia), Zentralschweiz am Sonntag (NZZ). Der Sonntagsausgabe der „Basler Zeitung“ ging schon nach wenigen Monaten der Schnauf aus, die „Südostschweiz am Sonntag“ wiederum schlüpfte unter die Fittiche des „Sonntag“, was zu einem Rebranding in „Schweiz am Sonntag“ führte.

Der Sonntagsmarkt hat sich also bereits ein erstes Mal bereinigt. Die Auflagen sämtlicher Titel sind rückläufig, es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Zeitungen fusionieren oder verschwinden werden. Das weiss auch Christoph Blocher. Der clevere Geschäftsmann investiert kaum 100 Millionen Franken in ein neues Sonntagsblatt, das auch gratis keine Chance hat. (Eine grosse Herausforderung wäre zum Beispiel die Distribution, zumal die Kioske kaum infrage kämen.) Mit dem Verlust des Geldes könnte er umgehen, die Schmach nach dem Aus würde ihn ungleich mehr schmerzen.

Der Vergleich mit dem erfolgreichen „Mattino della Domenica“ im Kanton Tessin hinkt. Diese Zeitung wurde 1990 lanciert und von Giugliano Bignasca finanziert. Sie war und ist das Sprachrohr der Lega dei Ticinesi, der Protestpartei, die damals gerade durchstartete. Im Minimarkt der Sonnenstube hatte es der „Mattino“ ungleich einfacher, die verschnarchten Parteiblätter von CVP und FDP herauszufordern. Die SVP ist aber keine reine Protestpartei, auch wenn sie immer wieder Lärm produziert, zudem sind die für gedruckten Zeitungen goldenen Neunzigerjahre längst vorbei.

baz_somm_612_image_span12Blocher muss zum Schluss gekommen sein, dass seine „Basler Zeitung“ unter Chefredaktor Markus Somm (Bild) nicht reüssiert hat. Die Auflage sank in den letzten sechs Jahren um etwa 40 Prozent, die Regierung des Stadtkantons ist noch immer rot-grün dominiert und auch als nationale Stimme konnte sich die Zeitung nicht durchsetzen. Das Dreiländereck mag ein guter Boden sein, um Basler Läckerli zu produzieren und in die halbe Welt zu exportieren, eine nationalkonservative Zeitung zu etablieren klappt aber offensichtlich nicht.

Basel-Stadt ist kein sicherer Wert für die SVP, ganz im Gegensatz zum Kanton Zürich. Das ist die Bastion der Partei um Blocher. Also will er dort seine Medienmacht ausbauen. Dazu bietet sich der Verbund der Zürcher Regionalzeitungen an („Zürichsee-Zeitung“, „Der Unterländer“, „Der Oberländer“ sowie „Der Landbote“ aus Winterthur), die mit einem identischen Mantel (alle überregionalen Ressorts) erscheinen und der Tamedia gehören. Die Gratis-Zeitung am Sonntag dient Blocher als Drohkulisse, um seine wahren Plänen umsetzen zu können.

Tamedia-Chef Pietro Supino hat keine Berührungsängste mit Blocher, ganz im Gegensatz zu anderen Mitgliedern des weitverzweigten und mächtigen Coninx-Clans. Setzt er sich durch, kommt es zu einem Abtausch zwischen den Zürcher Landzeitungen und der „Basler Zeitung“. Damit hätte Supino die drei grossen Städte in der deutschen Schweiz, Zürich, Basel und Bern, endlich erobert. Die Folgen wären absehbar: Der „Tages-Anzeiger“ würde den Content ans Rheinknie und an die Aareschlaufe liefern, in Basel und Bern müssten noch zwei Schrumpfredaktionen die lokalen Seiten füllen. Auf dem Platz Bern gäbe es in letzter Konsequenz nur noch eine Tageszeitung – Bonjour Tristesse.

Mark Balsiger

Die „NZZ am Sonntag“, ein SVP-Twitterer und die Kristallnacht

kristallnachttweet_nachgebaut_NZZAS_classe_politique
Seit vielen Jahren führt die „NZZ am Sonntag“ (NZZaS) eine Rubrik namens „Classe politique“. In diesen kurzen Texten kriegen normalerweise Einzelpersonen ihr Fett weg, mal witzig, mal süffisant, gelegentlich auch gesucht. Für Recherchen reicht es in der Regel nicht.

In den letzten beiden Ausgaben der NZZaS wurde ich in dieser Rubrik erwähnt. Richtig ist, dass ich in einen Rechtshändel verwickelt wurde. Unschön ist der Spin dieser Zeilen. So hat das Blatt ein entscheidendes Faktum geflissentlich ausgeblendet: Bei der Person, die gegen mich klagte, handelt es sich um den (ehemaligen) SVP-Schulpfleger aus der Stadt Zürich, der vor drei Jahren den längst berühmten Kristallnacht-Tweet veröffentlicht hatte. Die Glaubwürdigkeit des Kristallnacht-Twitterers ist derart angeschlagen, dass seine Nennung dem Text die Würze genommen hätte.

Wie der Stein ins Rollen kam: Ende Juni 2012 analysierte ich den Fall des Kristallnacht-Twitterers auf meinem Blog. Auf seine Forderung, seinen Namen zu anonymisieren oder diesen Text gar vom Netz zu nehmen, trat ich zunächst nicht ein – aus zwei Gründen:

  1.  Als gewählter Schulpfleger ist er eine öffentliche Person;
  2.  Die Dimension dieses Falles und der grosse Bekanntheitsgrad des damaligen SVP-Mannes im Netz machen ihn zu einer relativen Person der Zeitgeschichte.

Das Bezirksgericht Uster sah das anders. Ich muss Schadenersatz in der Höhe von 1735 Franken sowie 60 Prozent der Gerichtskosten (3000 Franken) bezahlen. Dieses Urteil focht ich nicht an, weil ich beruflich komplett ausgelastet war und keinen Sinn darin sah, mich weiter mit dieser Person, die nach eigenen Angaben gegen rund 20 Medienhäuser und Einzelpersonen prozessiert, auseinanderzusetzen. Der Kristallnacht-Twitterer wiederum zog das Urteil weiter, weil er eine grössere Summe wollte. Das Zürcher Obergericht lehnte dies im Frühling ab, das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.

Der Kristallnacht-Twitterer darf wieder namentlich genannt werden

Unschön ist die Rolle, welche die NZZaS in meinem Fall spielt: Sie verstösst meiner Meinung nach gegen die Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten. So dechiffrierte sie das anonymisierte Gerichtsurteil und fütterte die Rubrik „Classe politique“ mit meinem Namen und Foto – ein spannender Fall für Medienrechtler. Wenn sich solche profilieren möchten, feel free. (E-Mail an mich.)

Inzwischen hat das Zürcher Obergericht in einem anderen Fall entschieden, dass der Kristallnacht-Twitterer namentlich wieder genannt werden darf. Er sei eine relative Person der Zeitgeschichte – Bingo! Die doppelte Ironie der Geschichte: Bei den Gegnern des Kristallnacht-Twitterers, die vor Gericht diesen Erfolg errungen haben, handelt es sich um den „Tages-Anzeiger“ und… die NZZ.

Nebenbei: Dieser Gerichtsfall ist für mich eine Première, ich wurde zuvor noch nie mit einer Klage eingedeckt.

Zur Abrundung veröffentliche ich hier erneut mein Blogposting über den Kristallnacht-Twitterer vom 26. Juni 2012 – anonymisiert. Sonst flattert womöglich wieder eine Klage ins Haus.

Der Fall des Kristallnacht-Twitterers – Blogposting 2012 (PDF)


Mark Balsiger

Die Bilanz nach 23 kantonalen Wahlen: SVP, SP, GLP und BDP sind im Plus

In Zürich ist der Böögg für einmal einen Tag zu früh explodiert – so zumindest sieht es der Karikaturist Felix Schaad im heutigen “Tages-Anzeiger”:

böögg_schaad_tagesanzeiger_580_FotoFür die Grünen ist das eine böse Schlappe: Minus 3.4 Prozentpunkte bei den Kantonsratswahlen und die Abwahl ihres Regierungsrats Martin Graf schmerzen doppelt.

Nach den kantonalen Wahlen in Baselland, Luzern und Zürich im Frühjahr sieht es zappenduster aus für die Echtgrünen. Auf der anderen Seite triumphiert der Freisinn nach einem zwei Jahrzehnte andauernden Sinkflug und kann mit viel Selbstvertrauen in den nationalen Wahlkampf steigen. Für Tagi-Leitartikler Hannes Nussbaumer ist klar, dass die FDP “auch im Herbst gewinnen wird”.

Dass sie aufgrund ihrer Positionierung zulegen konnte, halte ich für eine gewagte These. Die FDP ist schon seit Fulvio Pellis Zeiten homogen und rechts der Mitte positioniert, ergo hätte sie bereits im letzten Jahr in Glarus und Zug, zwei durch und durch bürgerlichen Kantonen mit solider FDP-Tradition, zulegen müssen. Das gelang ihr aber nicht.

Doch zurück in den Kanton Zürich: In der Tat war es in den letzten Jahren mehrfach so, dass die Resultate der Zürcher Parlamentswahlen im Frühling diejenigen des Landes im Oktober vorweggenommen haben. Der Blick in die Statistik fördert dies zutage.

Die Grünen sind im Jammertal, die FDP legt zu – die ersten Trends 2015 sind gesetzt. Gut unterwegs sind aber auch die SVP und, mit etwas weniger Wind in den Segeln, die SP.

Die fünf letzten Kantonswahlen seit Oktober 2014 deuten an, wohin die Reise gehen könnte:

kantonsbilanz_ausschnitt_ 2015-04-13 um 20.35.15

Die vollständige Tabelle mit den ungewichteten Resultaten aller Kantonswahlen, die von November 2011 bis gestern (Zürich) stattgefunden haben, gibt es als PDF zum Downloaden. Aufgeführt werden nur diejenigen Parteien, die auf nationaler Ebene derzeit Fraktionsstärke haben. Bei aller Sympathie für die Kleinparteien macht eine Ausdehnung dieser Tabelle keinen Sinn. (Tipp an die Kritiker: Selber eine Tabelle erarbeiten.)

Zwischenbilanz: Nach 23 kantonalen Wahlen (PDF)

Zum (angeblichen) Trendsetter Zürich: Natürlich sind Kantonsratswahlen dort der letzte Gradmesser in der deutschen Schweiz, und das ziemlich genau ein halbes Jahr vor den Nationalratswahlen. Kommt dazu, dass ungefähr jeder sechste Wähler im Kanton Zürich zu Hause ist. Die demografische Power wird von der Medienpower ergänzt – die Politik und deren Metathemen in der Medienhauptstadt des Landes kriegt viel mehr Aufmerksamkeit als anderswo.

Dass die Kantone Basellandschaft und Aargau ein präziseres Abbild der Schweizer Parteienlandschaft als Zürich vermitteln, wird ausgeblendet. So sind CVP und BDP in Zürich klar schwächer, dafür ist die GLP nirgendwo stärker. Kollege Daniel Bochsler nennt in der “NZZ am Sonntag” ein weiteres wichtiges Detail: “In Zürich begann die SVP in den Neunzigerjahren mit der Kehrtwende zur nationalkonservativen Partei – solche Voraussetzungen und Trends lassen sich kaum für die ganze Schweiz verallgemeinern.”

Insgesamt würde es nicht schaden, die jüngsten Veränderungen mit etwas mehr Vorsicht zu interpretieren. Diese Aussage ist durchaus auch Selbstkritik, zumal ich in diesem fiebrigen Zirkus ja auch mitmache.

Mark Balsiger

Zwischen kreativ und einschläfernd: Die Videoclips zu den Zürcher Wahlen

Schweizer Parteien und Politisierende versuchen sich seit Jahren mit Videos. Was 2006 mit verwackelten 1.-August-Reden, die im Netz von niemandem angeklickt wurden, anfing, kommt inzwischen deutlich professioneller daher. Doch auch heute tun sich Parteien und Protagonisten schwer mit der Kürze – und mit gelungenen Umsetzungen. Womit die Parteien und Kandidierenden für die Zürcher Wahlen überzeugen wollen, haben wir uns genauer angeschaut.



Die Grünen wagen sich aufs Glatteis, denn es birgt Absturzgefahr, in einem Video eine Story in Versform zu erzählen. Doch bei dieser „Saga“ passt der Text; sie ist kreativ umgesetzt und frech. Die wunden Punkte aus der Sicht der Grünen werden hervorgehoben und es blitzt sogar Selbstironie auf. Kein Wunder, dass dieser Clip bislang zehn- bis dreissig Mal öfter angeschaut wurde als die Produktionen der anderen Parteien.


Die SP nimmt es sich zu Herzen: Gelungene Parteivideos sind kurz, pointiert und witzig. Mit ihrer Dreierserie gelingt das nicht schlecht. Pro Clip wird ein Thema angerissen, die Comix sind animiert und bringen das Anliegen der Partei auf den Punkt. Der Plot überzeugt allerdings nur bei „Gerechte Steuern“.


AL-Kandidat Markus Bischoff besinnt sich auf die Anfänge der Wahlwerbungen fürs Fernsehen in den USA. In den 1950er-Jahre – damals noch in Schwarz-Weiss – waren es “Talking Heads”, Politkerköpfe, die zum Publikum sprachen. Genau das tut Bischoff auch – einfach in Farbe. Im Gegensatz zu US-Präsidentschaftskandidat Dwight Eisenhower und Co. ist Bischoff allerdings apolitisch. Wer ihm auf der Plattform „wemakeit“ Geld spendet, wird eingeladen – zum Sonntagsbraten, zu einer Bratwurstparty oder zu einer feinen Zigarre. Letzteres ist ein Fauxpax: Luxus-Zigarren haben etwas Dekadentes und passen deshalb nicht zur Alternativen Liste (AL).


Die FDP weiss, wie man einen Wahlzettel richtig ausfüllt. (Die anderen Parteien hoffentlich auch). Sie produzierte ein Lernvideo für „Dummies“: Die Sprache ist locker, die Musik passt und der Clip ist handwerklich überzeugend gemacht.


Die SVP ist mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht Fan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ob er gut küsst, ist nicht relevant. Wir können bloss hoffen, dass seine Küsse nicht so laut tönen wie das SVP-Produkt suggeriert. Dieser „Clip“ fokussiert stufenweise auf das bestbekannte Plakat – und sonst nichts. Das sei „ein bisschen billig“, lautet den auch prompt der bislang einzige Kommentar auf „Youtube“.


Bleibt noch das Video der “Top5 für Zürich”: Harter Schnitt, die Protagonisten von SVP, FDP und CVP werden stets nur mit einem Auge eingeblendet, der Beat treibt voran – das Intro ist gelungen. Doch die nachfolgenden sechseinhalb Minuten sind zum einschlafen: Die Protagonisten wirken steif, ihre Aussagen tönen abgelesen und sind zum Teil holprig aus dem Hochdeutschen übersetzt; mit Ausnahme von Carmen Walker Späh (FDP) kommt niemand authentisch rüber. Dieser Clip ist klinisch und die Kameraführung irritiert. Deshalb: leider nein.

Aline Clauss & Mark Balsiger


Nachtrag vom 27. März 2015:
In einer adaptierten Vesion wurde dieses Posting von “20Minuten” übernommen.

Frühere Postings zum selben Thema: 

Der “All-Time-Favorite” unter den Partei-Clips mit rund 130’000 Clicks: Die Baselbieter FDP-Sektion Reinach mit “Gäll du wählsch mi?” aus dem Jahr 2012. Unsere kurze Einschätzung über dieses Video, die wir gegenüber “20Minuten” gemacht hatten.

Köppel hat den Ehrgeiz, die neue Leaderfigur der SVP zu werden

Was SP-Nationalrat Cédric Wermuth für viele Rechte, ist “Weltwoche”-Chef Roger Köppel für viele Linke: eine Reizfigur par excellence. Jetzt geht Köppel in die Politik. Am Nachmittag gab er bekannt, dass er für die Zürcher SVP in den Nationalrat will. Ein veritabler Coup – Köppels Wahl ist sicher.

köppel_roger_20min_580_2015_02_26

Köppel ist eine Spielernatur und ein begabter Provokateur. Er mag es, wenn die Fetzen fliegen, und er liebt den öffentlichen Auftritt. Er erkannte gerade noch rechtzeitig, dass er jetzt in rasantem Tempo in der Schweizer Politik aufsteigen kann. Seine Wahl in den Nationalrat ist eine reine Formsache. Dass er vom Dezember an zu einem Arbeitsparlament gehört, dessen Mitglieder hinter den Kulissen um knochentrockene Details feilschen, weiss Köppel natürlich, ebenso um die bescheidenen Einflussmöglichkeiten dort. Was ihn reizt, ist eine andere Position: Er will zum neuen Leader der SVP werden, der im Scheinwerferlicht der politischen Arena eloquent das grosse Wort führt. Seine Chancen stehen auch dafür sehr gut. Offen ist, ob er Christoph Blocher ersetzen kann.

Ich gab heute Nachmittag “20Minuten”-Redaktorin Simona Marty ein Interview zu Nationalrat in spe Roger Köppel – hier:

Herr Balsiger, Roger Köppel hat vor den Medien seine Nationalratskandidatur für die SVP begründet. Wie hat Ihnen seine Rede gefallen?

Mark Balsiger: Er hat einen lustvollen Auftritt hingelegt, spitzbübisch und scharfzüngig zugleich. Und er schaffte es wie immer, komplizierte Inhalte auf den Punkt zu bringen. Zudem sprach er frei. Das ist eine Qualität, die wenige Politiker verinnerlicht haben. Positiv formuliert ist er ein Verdichter, negativ ausgedrückt ein Vereinfacher.

Seine Sätze wirkten fast wie abgelesen. War seine Rede einstudiert?

So etwas hat ein Roger Köppel nicht nötig. Durch seine zahlreichen öffentlichen Auftritte hat er viel Erfahrung gewonnen und weiss, wie er punkten und provozieren kann. Genau wie Roger de Weck spricht Köppel im sogenannten Baukastensystem: Da er immer wieder mit gleichen Themen konfrontiert ist, kann er sich auch immer wieder auf dieselben Elemente abstützen. Dadurch wirkt er sehr eloquent.

Scheint so, als wäre der SVP mit ihm ein geschickter Schachzug gelungen.

Ja, der SVP ist mit ihm sicher ein Coup gelungen und offenbar konnte auch Köppel dem süssen Gift der medialen Aufmerksamkeit nicht länger widerstehen. Im Parlament allerdings hat auch er nicht mehr als eine Stimme – und sein Einfluss wird in Bundesbern begrenzt sein. Es wird oftmals unterschätzt, dass der Nationalrat vor allem ein Arbeitsparlament ist. Das ist harte Knochenarbeit und die Gefahr besteht, dass Köppel davon zermürbt wird. Ich gehe davon aus, dass er ein Politiker für die Bühne wird.

Wie schätzen Sie denn die Chancen ein, dass er überhaupt gewählt wird?

Köppel ist definitiv gewählt. Das ist gar keine Diskussion bei einer Person mit solch einem Bekanntheitsgrad, die für die wählerstärkste Partei ins Rennen geht.

Bereits wird Roger Köppel als Nachfolger von Christoph Blocher gehandelt. Hat er das Potenzial, in seine Fussstapfen zu treten?

Roger Köppel hat ein enormes Potenzial. Er ist schnell, gerissen, belesen, und er kennt die Polit- und Medienlandschaft aus dem Effeff. Zudem ist er ein leidenschaftlicher Debattierer. Köppel hat den Ehrgeiz, bei der SVP die neue Leaderfigur zu werden. Ob er allerdings die Parteibasis mitreissen kann, wie Blocher dies schafft, bezweifle ich. Ebenso, ob er als Intellektueller auf dem Land vom Volk geliebt wird.

Als Unternehmer mit seinem Intellekt könnte er es aber schaffen, bei den FDP-Wählern zu punkten.

Auf Panaschierstimmen ist er nicht angewiesen. Er wird von der SVP einen guten Listenplatz bekommen, das ist wichtig. Aber klar, Roger Köppel kann mit seinem unternehmerischen Geist und seiner Art auch Nicht-SVP-Wähler abholen. Doch wo es Bewunderer gibt, gibt es auch immer Feinde. Und diese sind in seinem Fall ebenso zahlreich vorhanden. Roger Köppel ist in den letzten zehn Jahren auch zu einer der grössten Hassfiguren der Gegenwart geworden. Es gibt Leute, die kriegen einen roten Kopf, wenn sie nur schon seinen Namen hören.

 

Foto Roger Köppel: soaktuell.ch

 

Wahlen in der Stadt Zürich: Zwei Prognosen und die wahrscheinlichsten Szenarien

Vor Jahresfrist war bei den Ersatzwahlen für den langjährigen Stadtzürcher Finanzvorstands Martin Vollenwyder (fdp) Pfeffer drin: Im zweiten Wahlgang setzte sich Richard Wolff (AL) schliesslich gegen Marco Camin (fdp) mit knapp 700 Stimmen Vorsprung durch – eine Sensation. Der Kandidat der Alternative Liste, einer 4-Prozent-Partei, hatte dem einst stolzen Freisinn eine herbe Niederlage zugefügt.

Am 9. Februar ist die Ausgangslage bei den Gesamterneuerungswahlen weniger spannend als vor zehn Monaten. Für die 9 Sitze bewerben sich 14 Kandidierende, 11 davon haben Chancen, gewählt bzw. wiedergewählt zu werden. Ich wage zwei Prognosen und skizziere die wahrscheinlichsten Szenarien:

leutenegger_mauch_600_Bildschirmfoto 2014-02-03 um 15.10.44
Das Stadtpräsidium:

Filippo Leutenegger (links) entpuppte sich in den letzten Monaten als engagierter, eloquenter und lustvoller Wahlkämpfer, der allerdings nicht immer dossiersicher wirkte. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er überhaupt eine Auswahl ermöglichte. Allein: Das Stadtpräsidium holt er am nächsten Sonntag nicht, dafür strahlt er zu wenig in die politische Mitte aus. Amtsinhaberin Corine Mauch (rechts), früher als graue Maus verspottet, sitzt inzwischen sicher im Sattel. Gravierende Fehler kann man ihr nicht vorwerfen, zudem profitiert sie von der strukturellen Mehrheit des Elektorats, das rot-grün tickt.

Prognose: Mauch distanziert Leutenegger deutlich und wird im ersten Wahlgang bestätigt.


Die Mehrheitsverhältnisse:

1990 holte sich Rot-Grün die Mehrheit in der Exekutive. Lange Zeit standen 5 Rot-Grüne 4 Bürgerlichen, später verschob sich das Kräfteverhältnis zu 6:3, seit April letzten Jahres sogar zu 7:2. Es ist möglich, dass diese Sitzverteilung am 9. Februar bestätigt wird. Auch möglich wäre ein 6:3 oder, mit bescheidenen Chancen, ein 6/1/2 oder ein 5/1/3.

Prognose: Der rot-grüne Block bildet mit Sicherheit auch in den nächsten vier Jahren die Mehrheit.


Die Chancenlosen:

Walter Wobmann (keine eigene Website) von den Schweizer Demokraten kandidiert primär, um seiner Partei Publizität für die Parlamentswahlen zu geben, für die Wahl in die Exekutive reicht es ihm nicht. Dasselbe gilt für das SVP-Duo Nina Fehr Düsel und Roland Scheck. Fehr gibt der Volkspartei zwar ein frisches unverbrauchtes Gesicht, ist aber politisch noch kaum in Erscheinung getreten und kämpft seit ihrem Wahlkampfauftakt mit dem wenig schmeichelhaften Etikett “Nina Wer?” Beide SVPler werden den Preis für den kompromisslosen Stil, den ihre Partei fast 20 Jahre lang pflegte, bezahlen und aussen vor bleiben. Das bürgerliche Ticket wirkt zwar erstmals seit vielen Jahren wieder einigermassen homogen, Streichaktionen wird es aber auch dieses Mal wieder geben. Die SVP ist seit 1990 nicht mehr in der Exekutive vertreten.

Nebst den 2 Sitzen, die durch die ordentlichen Demissionen von Ruth Genner (grüne) und Martin Waser (sp) frei werden, gibt es zwei Bisherige, die zittern müssen. Die Szenarien:


a) Status Quo:

knauss_Bildschirmfoto 2014-02-03 um 14.06.05golta_Bildschirmfoto 2014-02-03 um 14.06.38Im Wahlkampf ist der rot-grün-alternative Block als Einheit aufgetreten, öffentliche Gifteleien blieben aus. Wenn die Wählerschaft die Bisherigen belohnen will und findet, dass die Sitzverteilung gleich bleiben soll, erben Markus Knauss (grüne, links) und Raphael Golta (rechts) die frei werdenden Sitze. Also: 7:2.


b) Rechtskorrektur:

Aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades müsste Filippo Leutenegger die Wahl in den Stadtrat eigentlich schaffen, alles andere wäre eine persönliche Niederlage für ihn. Er könnte Richard Wolff aus dem Amt jagen. Also: 6:3.

Gegen dieses Szenario spricht Wolffs Bisherigen-Bonus und die rot-grüne Unterstützung, die er offiziell geniesst. Das Publikum hat sein Gesicht noch nicht vergessen, weil er vor einem Jahr schon einmal im Wahlkampf stand.


c) Auswechslung:

Filippo Leutenegger rein, Gerold Lauber (cvp) raus. Lauber hat mit seiner 5,5-Prozent-Partei in der Tat keinen einfachen Stand, er droht bei den Gesamterneuerungswahlen vergessen zu gehen. Auf Stufe Regierungsrat ereilte dieses Schicksal 2011 seinen Parteikollegen Hans Hollenstein. Also weiterhin 7:2. (Lauber könnte auch von Samuel Dubno verdrängt werden. Also: 7/1/1.


d) In dubio pro Dubno:

dubno_200_Bildschirmfoto 2014-02-03 um 16.39.57Der blockfreie Kandidat Samuel Dubno (glp; links) könnte einen der frei werdenden linken Sitz erobern oder Wolff ausbooten. Das würde bedingen, dass viele parteiunabhängige und linke Wähler wegen der massiven Übervertretung des rot-grün-alternativen Blocks Zweifel begonnen haben und korrigierend eingreifen. Also: 6/1/2.

Gegen dieses Szenario spricht, dass die Grünliberalen vor vier Jahren einen famosen Wahlsieg einfuhren. Sie legten damals bei den Gemeinderatswahlen 7,1 Prozentpunkte zu, was den Neid der anderen Parteien schürte und seither zu regelmässigen Angriffen von links und rechts führt. Beide Lager wollen verhindern, dass die GLP einen neuerlichen Erfolg feiern können.


e) Mitte-Rechts-Korrektur:

Samuel Dubno und Filippo Leutenegger erobern zwei linke Sitze – entweder die beiden, die frei werden, oder Wolff bleibt auf der Strecke. Also: 5/1/3.

Die Varianten a, b und c halte ich für realistisch, es gäbe aber selbstverständlich noch weitere Szenarien. In jedem Fall sind die Gemeinde- und Stadtratswahlen ein wichtiger Formtest für alle Parteien. In einem Jahr finden in Zürich bereits die kantonalen Wahlen statt, die wiederum einen Einfluss auf die eidgenössischen Wahlen im Oktober 2015 haben. Im Sog der Masseneinwanderungs-Initiative ist im Weiteren auch mit einer hohen Wahlbeteiligung zu rechnen. Dass einzelne Kandidatinnen und Kandidaten überdurchschnittlich davon profitieren werden, glaube ich nicht.

Mark Balsiger

P.S.   Eine weitere sichere Prognose gibt es in Bezug auf die Geschlechter: Der neu formierte Stadtrat wird aus 5 Männern und nur noch 2 Frauen (Mauch und Claudia Nielsen) bestehen. Ein Ärgernis, dass es nebst der SP keine Partei schaffte, frühzeitig chancenreiche Frauen aufzubauen. Und das in einer urbanen und weltoffenen Stadt.


Die Porträts aller Kandidierenden:

NZZ
Tages-Anzeiger


Fotos der Kandidierenden: tages-anzeiger.ch