Die „NZZ am Sonntag“, ein SVP-Twitterer und die Kristallnacht
Publiziert am 16. Juni 2015
Seit vielen Jahren führt die „NZZ am Sonntag“ (NZZaS) eine Rubrik namens „Classe politique“. In diesen kurzen Texten kriegen normalerweise Einzelpersonen ihr Fett weg, mal witzig, mal süffisant, gelegentlich auch gesucht. Für Recherchen reicht es in der Regel nicht.
In den letzten beiden Ausgaben der NZZaS wurde ich in dieser Rubrik erwähnt. Richtig ist, dass ich in einen Rechtshändel verwickelt wurde. Unschön ist der Spin dieser Zeilen. So hat das Blatt ein entscheidendes Faktum geflissentlich ausgeblendet: Bei der Person, die gegen mich klagte, handelt es sich um den (ehemaligen) SVP-Schulpfleger aus der Stadt Zürich, der vor drei Jahren den längst berühmten Kristallnacht-Tweet veröffentlicht hatte. Die Glaubwürdigkeit des Kristallnacht-Twitterers ist derart angeschlagen, dass seine Nennung dem Text die Würze genommen hätte.
Wie der Stein ins Rollen kam: Ende Juni 2012 analysierte ich den Fall des Kristallnacht-Twitterers auf meinem Blog. Auf seine Forderung, seinen Namen zu anonymisieren oder diesen Text gar vom Netz zu nehmen, trat ich zunächst nicht ein – aus zwei Gründen:
- Als gewählter Schulpfleger ist er eine öffentliche Person;
- Die Dimension dieses Falles und der grosse Bekanntheitsgrad des damaligen SVP-Mannes im Netz machen ihn zu einer relativen Person der Zeitgeschichte.
Das Bezirksgericht Uster sah das anders. Ich muss Schadenersatz in der Höhe von 1735 Franken sowie 60 Prozent der Gerichtskosten (3000 Franken) bezahlen. Dieses Urteil focht ich nicht an, weil ich beruflich komplett ausgelastet war und keinen Sinn darin sah, mich weiter mit dieser Person, die nach eigenen Angaben gegen rund 20 Medienhäuser und Einzelpersonen prozessiert, auseinanderzusetzen. Der Kristallnacht-Twitterer wiederum zog das Urteil weiter, weil er eine grössere Summe wollte. Das Zürcher Obergericht lehnte dies im Frühling ab, das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.
Der Kristallnacht-Twitterer darf wieder namentlich genannt werden
Unschön ist die Rolle, welche die NZZaS in meinem Fall spielt: Sie verstösst meiner Meinung nach gegen die Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten. So dechiffrierte sie das anonymisierte Gerichtsurteil und fütterte die Rubrik „Classe politique“ mit meinem Namen und Foto – ein spannender Fall für Medienrechtler. Wenn sich solche profilieren möchten, feel free. (E-Mail an mich.)
Inzwischen hat das Zürcher Obergericht in einem anderen Fall entschieden, dass der Kristallnacht-Twitterer namentlich wieder genannt werden darf. Er sei eine relative Person der Zeitgeschichte – Bingo! Die doppelte Ironie der Geschichte: Bei den Gegnern des Kristallnacht-Twitterers, die vor Gericht diesen Erfolg errungen haben, handelt es sich um den „Tages-Anzeiger“ und… die NZZ.
Nebenbei: Dieser Gerichtsfall ist für mich eine Première, ich wurde zuvor noch nie mit einer Klage eingedeckt.
Zur Abrundung veröffentliche ich hier erneut mein Blogposting über den Kristallnacht-Twitterer vom 26. Juni 2012 – anonymisiert. Sonst flattert womöglich wieder eine Klage ins Haus.
Der Fall des Kristallnacht-Twitterers – Blogposting 2012 (PDF)
Mark Balsiger
Die NZZ hat den Fall des Kristallnacht-Twitterers in den letzten drei Jahren auf hohem Niveau journalistisch beurteilt. Das gilt auch für meinen Rechtshändel mit dem ehemaligen SVP-Mann:
http://bit.ly/1GsC657
[…] Schaffen wir Klarheit: Die Hintergründe zu diesem Fall können Sie hier nachlesen. […]
Das Bundesgericht bezeichnet den Tweet des Kristallnacht-Twitterers als “Hassrede”. Dessen Weiterzug lehnte es ab. Diese Entscheidung hat eine eminente Bedeutung. Der Bericht der NZZ vom 2. Dezember 2015:
http://www.nzz.ch/zuerich/journalisten-zu-unrecht-an-die-kandare-genommen-1.18656009
Und wieder ein Gerichtsurteil über den Kristallnacht-Twitter. Sein voller Name dürfe genannt werden, entschied das Zürcher Obergericht. Der gesamte Artikel der sda:
http://www.persoenlich.com/medien/obergericht-weist-beschwerde-des-twitterers-ab