Seit vielen Monaten ist die SVP Schweiz auf der Suche nach einem neuen Präsidenten oder einer Präsidentin. Die Ankündigung des bisherigen Amtshabers Albert Rösti hat die Partei offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Die Suche verläuft schleppend, die allermeisten Angefragten winkten ab.
Übrig blieben schliesslich die beiden Nationalräte Andreas Glarner (AG) und Fredi Heer (ZH). Bis gestern Abend, als die Findungskommission einen neuen Namen präsentierte: Marco Chiesa. Der Tessiner ist seit 2015 in Bundesbern, zuerst als Nationalrat, im letzten Herbst wurde er in den Ständerat gewählt. Er wird der Delegiertenversammlung vom 22. August vorgeschlagen. «20-Minuten»-Redaktor Claudius Seemann stellte mir zu Chiesa ein paar Fragen. Nachfolgend wird dieses Interview integral übernommen.
Herr Balsiger, der Tessiner Ständerat Marco Chiesa soll auf SVP-Chef Albert Rösti folgen. Hätten Sie mit Chiesa als Favorit gerechnet?
Mark Balsiger: Aus Deutschschweizer Sicht ist die Nomination überraschend – vor allem, weil Chiesa bisher kein bekannter Kopf in der Partei war. Auch ist er bei einem zentralen Geschäft noch nicht als Schlüsselfigur der SVP-Fraktion in Erscheinung getreten. Ich sehe die Nomination aber vor allem als Misstrauensvotum gegenüber Alfred Heer und Andreas Glarner.
Warum?
Die Kandidaturen von Heer und Glarner sind parteiintern nicht auf überbordende Begeisterung gestossen. Die Findungskommission hat deshalb einige andere Exponenten vermutlich sogar mehrfach angefragt. Doch die Wunschkandidaten haben alle abgesagt. Nun schlägt sie Chiesa vor, obwohl er eine Kandidatur im Februar noch abgelehnt hatte.
Marco Chiesa ist den meisten Deutschschweizern kaum ein Begriff. Warum hat die SVP an ihm den Narren gefressen?
Chiesa hat dank der Wahlen im letzten Herbst das Image eines Winners: So wurde er überraschend zum Tessiner Ständerat gewählt und hat CVP-Urgestein Filippo Lombardi verdrängt. Das war auch insofern überraschend, weil das rechte politische Spektrum im Tessin seit bald 40 Jahren von der Lega geprägt wird –die SVP ist eine Kleinpartei mit einem Wähleranteil zwischen fünf und zehn Prozentpunkten. Mit Chiesa hat die SVP zudem einen Kandidaten, der dreisprachig ist.
Hat die SVP mehr als andere Parteien einen Winnertyp nötig?
Albert Rösti ist ein kluger Kopf und «gmögig», aber als Parteipräsident startete er nicht durch. An der SVP-Basis sehnt man sich nach einem neuen Toni Brunner, der den harten Hund markiert, wenn es drauf ankommt, sonst aber gerne das «Chalb» macht. Die SVP hat eine klare Hierarchie, die Basis ist disziplinierter als bei anderen Parteien – deshalb ist die Rolle des Präsidenten wichtiger als anderswo.
Marco Chiesa gilt als Hardliner, fiel aber bisher nicht gross auf. Wird er den Schalter als Parteipräsident plötzlich kippen?
Was ich von ihm bisher wahrgenommen habe, ist, dass er weitgehend linientreu politisiert und eine umgängliche Art hat. Er scheint mir nicht eine Person zu sein, die verbal draufhaut. Doch das könnte sich ändern, wenn er an der Parteispitze steht und Verantwortung übernehmen muss. Schliesslich muss er seine Basis bei Laune halten, die Partei will wieder zulegen.
Welche Rolle spielt seine Tessiner Herkunft für die Partei?
Die Herkunft des Parteipräsidenten kann durchaus einen Einfluss haben. Mit einer Tessiner Kandidatur erhofft sich die SVP sicher auch, in der lateinischen Schweiz zuzulegen. Auf diese Karte setzte man bereits 2015 nach der Wahl von Guy Parmelin in den Bundesrat. Doch damals blieb ein Effekt aus.
Was kommt jetzt auf Chiesa zu?
Für ihn gilt es nun, die Basis in den Kantonen zu besuchen und von sich zu überzeugen. Chiesa ist mit seinen 45 Jahren auch noch jung und muss nicht nur an Bekanntheit, sondern auch an Statur und Präsenz gewinnen. Das ist ein Knochenjob. Denn die graue Eminenz der Partei – also Christoph Blocher – muss auch von ihm überzeugt sein. Welche Verbindungen Chiesa zu Herrliberg hat, kann ich nicht beurteilen.
Die SVP hat bei den letzten Wahlen Wählerprozente verloren, was ein Rücktrittsgrund von Albert Rösti war. Kann Chiesa die SVP wieder auf Kurs bringen?
Der Erfolg einer Partei lässt sich nicht nur am Präsidenten festmachen. Natürlich braucht es eine Führungsfigur, und diese wünscht man sich gerade bei der SVP. Doch der Erfolg einer Partei hängt auch davon ab, welche Themen die Leute gerade beschäftigen: Die Hauptthemen der SVP – Ausländer, Asyl und Migration – sind in den letzten Jahren jedoch in den Hintergrund gerückt.