Berner Spesenaffäre: Bei simplen Fällen gelingt das Aussitzen nicht

Die Berner Spesenaffäre wäre nie zu einer solchen geworden, wenn der Regierungsrat den «Kassensturz»-Auftritt genutzt und erklärt hätte, worum es wirklich geht. Stattdessen schwieg er. Als die Medienwelle rollte, war das Eindämmen über die Plattform X (früher Twitter) chancenlos. Eine Dekonstruktion.

Dank der Berner Kantonsregierung weiss inzwischen die halbe Nation, dass eine Banane unter Umständen bloss 20 Rappen kostet. Die Spesenaffäre sorgt für Kopfschütteln oder Erheiterung, und sie liefert ein dankbares Sujet für die Schnitzelbänkler. Ausserdem zeigt sie exemplarisch, was passiert, wenn ein Akteur einen simplen Fall aussitzen will.

Rückblende: Der «Kassensturz» des Schweizer Fernsehens SRF recherchierte 2023 über die Spesenkultur der sieben Berner Regierungsrätinnen und Regierungsräte. Die Redaktion hatte Einsicht in die Spesenabrechnungen verlangt, was die Staatskanzlei des Kantons Bern zunächst ablehnte, später aber doch Hand bot und alle Dokumente von 2018 bis 2021 herausgab.

Spätestens zu jenem Zeitpunkt hätten der Regierung und ihren Kommunikationsfachleuten klar sein müssen, dass irgendeinmal über dieses Thema berichtet wird. Sie hätten mehrere Monate Zeit gehabt, die Medienlogik zu antizipieren und die Reaktion in Ruhe vorzubereiten.

Die Einladung des «Kassensturz», an der Theke Auskunft zu geben, wollte kein Regierungsmitglied wahrnehmen. Das war ein folgenschwerer Fehler. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Sache zu erklären: Zunächst – natürlich! – eine Entschuldigung für die wenigen Fehlbuchungen aus den Jahren 2018 und 2019 mit geringen Beträgen (wie der Banane für 20 Rappen). Dann der Hinweis, dass die Spesenverordnung 2021 überarbeitet worden war. Anhand dieses Dokuments kann man aufzeigen, welche Spesen zur Pauschale gehören und welche einzeln abgerechnet werden. Mit anderen Worten: Die Abrechnungspraxis ist transparent und rechtens, moralinsaures Nachhaken wäre abgeprallt. Schliesslich hätte ein rhetorisch fitter Regierungsrat während des Live-Interviews erwähnen können, dass man in der Spesenverordnung neu einen Minimalbetrag festlegen will. (Just das hat der Regierungsrat am Mittwoch nun entschieden.)

Stattdessen schwieg die Gesamtregierung, während Regierungspräsident Philippe Müller die Plattform X und eine Parteiversammlung nutzte, um sich zu erklären, was prompt in die Medien schwappte. Als die Medienwelle schon am Rollen war, versuchte der Kommunikationsdienst des Kantons, sie mit Tweets zu dämmen. Nur ein Beispiel: «Es gibt kein Regierungsmitglied, das Kleinstbeträge als Spesen abrechnet – erst recht nicht systematisch.»

Passiert ist das vor Jahren in ein paar Einzelfällen eben doch – dumm gelaufen, ungeschickt und kakophonisch kommuniziert.

Die Story war viel zu süffig, um nicht sofort einzuschlagen. Im Zeitalter des Clickbait-Journalismus ist sie ein Geschenk. Praktisch alle anderen Medien sprangen auf, viele Beiträge haben einen spöttischen Unterton.

Machen wir zwei Schritte zurück: Dieser Fall ist Pipifax und die Story ist bei Lichte betrachtet dünn. Ein «Mea Culpa» im «Kassensturz», gefolgt von einer Einbettung an der Theke (das hat nicht mit einer Rechtfertigung zu tun) – so hätte sich kein Krisenherd entzündet. Nur das defensive Vorgehen der Regierung und die lamentable Kommunikation haben diesen Fall zur Spesenaffäre gemacht. Der Imageschaden ist angerichtet, und weil die Story so simpel ist, bleibt sie uns weit über die Fasnacht hinaus in Erinnerung.

Dieser Beitrag ist zuerst beim Online-Magazin «Persönlich» erschienen.

NACHTRAG: In der Kommentarspalte wird ergänzend ein Gast-Kommentar von Adrian Ritz, Professor für Public Management, sowie der FDP des Kantons Bern aufgeschaltet.

Prognosen für die Ständeratswahlen in den Kantonen Aargau, Bern, Solothurn und Zürich

Der Wahltag ist da, für die Beteiligten beginnt das lange Warten. Ich habe mein Prognosemodell, das in den letzten Jahren fast immer zuverlässig war, angeworfen. Es funktioniert nur für Majorzwahlen. Ich konzentrierte mich auf die Ständeratswahlen in vier Kantonen.

Zunächst, natürlich, der Aargau – meine alte Heimat: Hier schafft es der bisherige FDP-Ständerat Thierry Burkart im ersten Wahlgang.

Im Kanton Bern ist die Ausgangslage offener. Laut meinem Prognosemodell zersplittern sich die Stimmen wegen den vielen guten Kandidaturen stark. Folglich schafft es auch der Bisherige Werner Salzmann nicht im ersten Wahlgang.

Im Kanton Solothurn tritt der langjährige SP-Mann Roberto Zanetti zurück. Seit 1999 konnte die SP dieses Sitz für sich beanspruchen, zuerst mit Ernst «Aschi» Leuenberger, nach dessen frühen Tod 2010 mit Zanetti. Die besten Karten, seinen Sitz zu erobern, hat FDP-Regierungsrat Remo Ankli. Laut Modell schafft der Bisherige Pirmin Bischoff, immerhin seit 2011 Ständerat, dieses Mal die Wiederwahl nicht im ersten Anlauf.

Wegen Ruedi Nosers (FDP) Rücktritt ist die Ausgangslage im Kanton Zürich offen und sehr spannend. Hier richtig zu rechnen, war noch anspruchsvoller als anderswo.


Mein Prognosemodell berücksichtigt die Parteistärke, den Support von «Alliierten» sowie den Bekanntheitsgrad. Die Gewichtung bleibt mein Geheimnis.

Was sie macht, macht sie mit Herzblut und Haltung

Dreissig Jahre lang war Regula Rytz in der aktiven Politik – im Kantonsparlament, in der Regierung der Stadt Bern, 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, kurze Zeit später übernahm sie das Präsidium der Grünen Schweiz. Gestern kündigte sie ihren Rücktritt an – eine persönliche Würdigung.

 

Ein milder Sonntagabend im Frühsommer 2007. Wir finden uns an einer lauschigen Stätte ein. Die Gäste freuen sich über das Ja des Stimmvolks zu Tram Bern West, dessen Abstimmungskampagne mein Team 2006 und 2007 konzipiert hatte. Es gibt Salzgebäck, kalte Getränke und gegenseitiges Schulterklopfen – endlich kann Bümpliz an das städtische Tramnetz angeschlossen werden.

Ein bekannter Politiker, der schon vorher viel Alkohol getrunken hatte, wird in seiner Ansprache ausschweifend, seine Zunge immer schwerer. Im Publikum werfen wir uns versteckte Blicke zu: «Es ist gut jetzt!», sagen sie.

Zunächst unbemerkt hat sich Regula Rytz, damals die städtische Verkehrs- und Tiefbaudirektorin, ganz in die Nähe des Redners hingestellt. Als dieser nach Worten sucht, übernimmt sie fliegend und charmant, verdankt ihn, drei Minuten später ist der offizielle Teil vorbei.

Was wie einstudiert wirkte, war eine geschickte Ad-hoc-Intervention: Der Alkoholisierte wurde vor sich selber geschützt, Peinlichkeiten blieben aus, das Publikum reagierte erleichtert. Rytz hatte die Situation mit ihrem feinen Sensorium gerettet.

Eine andere Anekdote: Während eines kalten Wintermonats kam ich ins Gespräch mit Angestellten des Tiefbauamts, die im Schichtbetrieb die Strassen rund um den Bahnhof Bern sanieren mussten. Sie erzählten mir, wie Rytz eines Morgens mit einer Thermoskanne aufgetaucht sei und ihnen heissen Kaffee ausgeschenkt habe. Andere Exekutivpolitiker machen dasselbe, allerdings mit den Medien im Schlepptau.

Seit nunmehr 20 Jahre beobachte ich Regula Rytz, gelegentlich hatten wir auch beruflich miteinander zu tun. Etwa in der Phase 2018/2019, als wir zusammen mit anderen für den SRF-Radiostandort Bern und gegen die Zentralisierung in Zürich kämpften.

Sie war tief in die Medienpolitik eingetaucht und dossiersicher, an die Sitzungen kam sie gut vorbereitet. Während derjenige, der sich mit diesem Thema hätte profilieren können, wenig Ahnung und keinen Plan hatte, moderierte sie Ausgangslage und Optionen. Er schenkte seinem Smartphone viel Aufmerksamkeit, sie steuerte die Veranstaltung, ohne zu dominieren.

2012 erfolgte der Wechsel auf die nationale Bühne

Rytz mag die Menschen. Sie hört ihnen zu und nimmt sie ernst. Sie engagiert sich mit Herzblut und Haltung. Zugleich hat sie verinnerlicht, dass man in diesem Land nur mit solidem Know-how und einem pragmatischen Vorgehen etwas bewegen kann. Laut und moralinsauer wird sie nie. Seit 2012 steht sie als Nationalrätin und Parteipräsidentin (bis Sommer 2020) immer wieder auf der grossen, grell ausgeleuchteten Bühne, bleibt aber stets sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Es geht ihr immer um die Sache, inhaltlich sind unsere Positionen oft nicht deckungsgleich.

Die Höhenflüge und brutal einsamen Momente der Politik kennt sie. Als die Grünen bei den eidgenössischen Wahlen 2015 verloren, musste sie, die ehemalige Gewerkschafterin, im Generalsekretariat Stellen abbauen. Vier Jahre später folgte der grösste Triumph, den eine Partei in der Schweiz je erreicht hat: ein Zuwachs von 6.1 Prozentpunkten. Rytz ist eine der Architektinnen dieses Erfolgs.

Auch nach 30 Jahren politisiert sie immer noch lustvoll. Dass sie sich im Frühling aus dem Nationalrat verabschiedet, überrascht mich nicht. Rytz spürt immer rechtzeitig, wenn es Zeit ist für ein neues Kapitel. Sie kehrt der Politik nicht den Rücken, sondern wird künftig hinter den Kulissen tätig sein. Eine Konstante bleibt, da bin ich mir sicher: Was sie macht, macht sie richtig.


Transparenz:

In den 20 Jahren meiner Selbständigkeit gab es einmal ein Auftragsverhältnis zwischen Regula Rytz und meiner Firma: Im Frühjahr 2013 bereiteten wir zusammen ihren Auftritt in der «Arena» vor.

 

Ergänzend: Was die «SonntagsZeitung» am 3. April 2022 über den Rücktritt von Regula Rytz schrieb:

Die ungekrönte Königin der Grünen tritt ab (PDF)

Fehr war der falsche Kandidat

Keine 2000 Kilometer östlich der Schweiz tobt seit Ende Februar ein Krieg. Das schlägt sich bei Wahlen nieder, das Volk zieht es in Krisenzeiten vor, beim Bewährten zu bleiben. Das ist eine Erkenntnis, die auf Erhebungen basiert und bei den Deutungen zum Ausgang der Regierungsratswahlen in Bern prominent genannt wird. So bleiben die Kräfteverhältnisse im siebenköpfigen Regierungsrat gleich: Vier Bürgerliche stehen drei Rotgrünen gegenüber, der vakante Sitz von Beatrice Simon (Die Mitte, früher BDP) übernimmt Parteikollegin Astrid Bärtschi.

Es gibt andere Gründe, weshalb der Versuch von Rotgrün, die Regierungsmehrheit zu kippen, deutlich scheiterte. Kampfkandidat Erich Fehr (SP) ist zwar seit zehn Jahren ein solider Stadtpräsident in Biel, als Wahlkämpfer überzeugte er nicht, er wirkt steif und angestrengt. Ihm geht die Strahlkraft seines Vorgängers Hans Stöckli ab, die Massen kann Fehr nicht von den Stühlen reissen. Es gibt Kandidaten, die drehen die letzten Monate vor einem Wahltermin auf, werden immer besser, bei Fehr beobachteten wir diese Steigerung nicht.

Weil die Pandemie den persönlichen Kontakt mit dem Volk zuweilen erschwerte, hätte es von Anfang viel Engagement im Netz gebraucht. Doch das zeigte Fehr und sein Team nicht. Er war im Mai 2021 nominiert worden, doch noch Ende Oktober, also fünf Monate später, schlummerte seine Website vor sich hin. Der aktuellste Beitrag stammte damals vom 27. September 2020, war also mehr als ein Jahr alt.

Diese Nichtbeachtung hatte ich am 26. Oktober 2021 auf Twitter thematisiert, wie der nachfolgende Printscreen zeigt:

Mit einem solchen Wahlkampf schafft man es als Herausforderer nicht, gewählt zu werden. Es ist auch gut möglich, dass sich potenzielle Supporter veräppelt fühlten. Bis Ende Februar dachte ich, dass Fehr womöglich die ganze Energie auf ein fulminantes Feuerwerk am Schluss spart – inhaltlich und werberisch. Es zündete nicht. Die eigene Partei hat ihm überdies Fesseln angelegt: Er durfte nicht mehr als 20’000 Franken in den persönlichen Wahlkampf investieren.

Tatsache ist: Erich Fehr fuhr ein schlechtes Resultat ein, liegt er doch fast 22’000 Stimmen hinter Bärtschi.

Aussagekräftig ist ein Vergleich: Fehrs Name steht auf 38.04 Prozent aller gültigen Wahlzettel. Vor vier Jahren erreichte der damalige Kampfkandidat der SP, Christophe Gagnebin, ein weitgehend unbekannter Ex-Grossrat aus dem Berner Jura, einen nur unwesentlich schlechteren Wert, nämlich 35.17 Prozent. Gagnebin war ein Pro-Forma-Kandidat, Fehr hätte laut seiner Partei die Wende hinbringen müssen.

Im Verwaltungskreis Biel und in der Stadt Biel, seinen beiden «Home Grounds», kam Fehr nur je als Dritter ins Ziel.

Ein weiterer Faktor: Erich Fehr hat das falsche Geschlecht, die Musik in seiner Partei spielt nicht bei den Männern. Die SP hat sich im Verlauf der letzten Jahre hin zu einer Frauenpartei entwickelt. Das trifft auf die Leute in den Schlüsselpositionen zu, aber auch auf die Wählerschaft. Wäre anstelle von Fehr eine profilierte und populäre Nationalrätin der SP angetreten, namentlich Flavia Wasserfallen oder Nadine Masshardt, hätte es von Anfang an Dampf im Kessel und einen echten Wahlkampf gegeben – mit offenem Ausgang. Der Wahlkampf sollte ein Wettstreit um bessere Ideen sein. Bern und den beiden grossen politischen Blöcken hätte das gutgetan.

 

Foto Erich Fehr: Adrian Moser/«Der Bund»

Die «Aufrechten» stehen vor hohen Hürden

Im Verlauf der Pandemie sind neue Gruppierungen entstanden, die gegen die Coronapolitik der Behörden opponieren. Es sind mehr als ein halbes Dutzend an der Zahl, von «mass-voll» über das «Aktionsbündnis Urkantone» bis zu den «Freiheitstrychlern». Die «Freude der Verfassung» zählen nach eigenen Angaben 25’000 Mitglieder und sind damit grösser als die Grünen oder die Grünliberale Partei.

Mehreren Gruppierungen haben inzwischen die Plattform «Aufrecht Schweiz» gegründet. Erklärte Absicht dieser Dachorganisation ist es, bei kommunalen und kantonalen Wahlen eigene Leute ins Rennen zu schicken. Die nächsten möglichen Termine sind die Wahlen in der Stadt Zürich (13. Februar 2022), sowie die kantonalen Wahlen in Nidwalden (13. März 2022) und Bern (27. März 2022).

Inzwischen steht auf der Website von «Aufrecht Schweiz». «Die Wahlen im Kanton Bern sind die perfekte Gelegenheit, um Erfahrungen für die nationalen Wahlen zu sammeln und auch auf kantonaler Ebene Einfluss zu gewinnen.» (Nachtrag vom 10. Januar 2022, die Red.)

Was sind die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» im Kanton Bern?

Als Rechenbeispiel drängt sich der Verwaltungs- bzw. Wahlkreis Jura bernois auf. Aus mehreren Gründen:

1.  Er ist deckungsgleich, Vergleiche zwischen den Covid-19-Abstimmungen mit den letzten Parlamentswahlen 2018 (Grosser Rat) sind also auf einfache Weise möglich.

2.  Die Nein-Stimmen-Anteile zum Covid-19-Gesetz waren dort zweimal überdurchschnittlich hoch. Entsprechend ist die Skepsis gegenüber der offiziellen Coronapolitik und den Behörden als überdurchschnittlich hoch zu werten. Das macht diesen Wahlkreis zu einem guten Boden für Massnahmen-Kritiker.

3.  Der Jura bernois gehört zum «Bible Belt», der sich über das Emmental bis ins Oberland erstreckt. Es gibt dort überdurchschnittlich viele Freikirchler und Sekten, die wiederum eine Nähe zu den massnahmen-kritischen Gruppierungen haben oder Teil davon sind.

Dieselbe Zusammenstellung gibt es hier als PDF zum Herunterladen.

Dieses Rechenbeispiel zeigt, dass im Jura bernois die Hürden für das Erringen eines einzelnen Sitzes im Kantonsparlament ziemlich hoch sind.

Wenn bei den Parlamentswahlen im März 2022 mehr Listen und mehr Kandidierende als 2018 zur Verfügung stehen, ist die Konkurrenz noch stärker, was die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» weiter schmälert. Natürlich ist es möglich, dass sie eine Listenverbindung anstreben, um so ihre Chancen zu verbessern. Als natürliche Partnerin könnte die EDU betrachtet werden. Diese wird, so meine Hypothese, nur dann ein Mitmachen in Betracht ziehen, wenn sie sicher ist, besser als die «Aufrechten» abzuschneiden und mit deren Hilfe selber ein Grossratsmandat zu erringen. So würde die EDU allerdings die EVP düpieren und diese ihren Sitz im Kantonsparlament verlieren.

Fazit: In jedem Fall ist es positiv zu werten, dass «Aufrecht Schweiz» den demokratischen Weg einschlägt, um in der Politik mitzuwirken. Noch im November äusserte sich Michael Bubendorf, der Sprecher der «Freunde der Verfassung» deutlich anders: Es sprach davon, die Nase voll zu haben von den «Faschos» und lieber ein neues System mit eigenen Strukturen aufbauen möchte.

Die Massnahmen-kritischen Gruppierungen brachten es ohne Erfahrung zweimal problemlos hin, mehr als genügend Unterschriften für die beiden Covid-19-Referenden einzureichen. Das verdient Respekt. Sie verschafften sich die letzten eineinhalb Jahre viel Publizität und generierten so viele Mitglieder und Spenden. Jetzt im Winter in den rauhen Wind von Wahlen zu stehen, gegen viele grosse und kleine etablierte Parteien, ist anspruchsvoll. Der Wahlkampf bis Ende März ist dabei nur die erste Etappe.

Wieso es im Kanton Bern zur rot-grünen Wende kommen könnte

Die Ausgangslage für die Regierungsratswahlen 2022 im Kanton Bern hat sich inzwischen geklärt, die allermeisten Kandidaturen sind bekannt. Wegen des ordentlichen Rücktritts von Finanzministerin Beatrice Simon (Die Mitte, früher BDP) ist der Kampf um den siebten Sitz und damit die Mehrheit in der Regierung entbrannt. Anders als bei früheren Wahlen entscheidet also nicht der garantierte Sitz für den Berner Jura über die Mehrheitsverhältnisse. Mit der Kampfkandidatur der SP, die nebst ihren beiden zwei Bisherigen den Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr ins Rennen schickt, präsentiert sich der Ausgang deutlich offener als sonst. 

«Bund»-Redaktorin Brigitte Walser stellte mir zur Ausgangslage und zum Wahlkampf ein paar Fragen, die in diesem Posting zusammen mit meinen Antworten aufscheinen. Ihr Artikel ist am Schluss dieses Postings als PDF aufgeschaltet.

«Der Bund», Brigitte Walser: Denken Sie, dass die Linke die Mehrheit im Regierungsrat erreicht?

Mark Balsiger: Der Kanton Bern tickt zwar weiterhin bürgerlich, aber die Ausgangslage präsentiert sich offener als bei früheren Wahlen. Ein Grund dafür ist der mit Abstand grösste Verwaltungskreis Bern-Mittelland, wo inzwischen 39 von 100 Stimmberechtigen leben (292’000 von 745’000. Aber Achtung: Dieser Verwaltungskreis ist nicht mit den Wahlkreisen identisch, sondern besteht im Wesentlichen aus dem Grossraum Bern.). Er hat sich schrittweise in eine rotgrüne Hochburg verwandelt. Nehmen wir die nationale Abstimmung zum CO2-Gesetz vom 13. Juni als Beispiel: Im gesamten Kanton Bern und in der Schweiz wurde diese Vorlage mit je 51,5 Prozent Nein abgelehnt. Im Verwaltungskreis Bern-Mittelland hingegen erreichte sie einen Ja-Anteil von 59.5 Prozent. Ein zweites Beispiel: Bei den Ständeratswahlen 2019 holten Hans Stöckli (SP, bisher) und Regula Rytz (Grüne) im ersten Wahlgang die ersten beiden Plätzeeine veritable Sensation. Ihren Vorsprung auf Werner Salzmann (SVP), Beatrice Simon (BDP), Christa Markwalder (FDP) usw. hatte das rotgrüne Duo insbesondere im Verwaltungskreis Bern-Mittelland erkämpft. (Notabene auch dank einer Wahlbeteiligung, die um satte 5 Prozent höher lag als im gesamten Kanton.)

Hat die Linke bisher alles richtig gemacht, um dieses Ziel zu erreichen (Vierer- statt Fünferticket, Kandidat Erich Fehr kommt aus Biel)?

Vor vier Jahren rannte Rotgrün kopflos an; ein ehemaliger SP-Grossrat hätte dem Bisherigen Pierre Alain Schnegg (SVP) den garantierten Jurasitz abluchsen sollen – ein Unterfangen, das von Anfang an hoffnungslos war. Wer die Mehrheitsverhältnisse einer Regierung kippen will, muss in drei «P»-Faktoren investieren: Programm, Personal, Plan. Die SP hat mit der Lancierung des Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr im Frühling die Grünen vor vollendete Tatsachen gestellt – das war gerissene Machtpolitik. Inzwischen haben die Grünen ihre Kampfkandidatin Moussia von Wattenwyl aus dem Berner Jura murrend zurückgezogen. Die Stadt Biel ist die zweite rotgrüne Hochburg neben Bern-Mittelland. Das stärkt den Herausforderer Fehr. Mit einem Vierer-Ticket anzutreten ist richtig, weil fünf Namen auf der Liste als arrogant wahrgenommen würde und zudem die Stimmkraft stärker zersplitterte. Die Faktoren Personal und Plan löst Rotgrün also ein.

Haben die Bürgerlichen die richtige Ausgangslage gewählt (die neue Kandidatin Astrid Bärtschi kommt aus Ostermundigen)?

Die neu fusionierte Partei Die Mitte hat sich frühzeitig darauf geeinigt, zusammen mit der SVP und der FDP in die Wahlen zu ziehen. Das hilft jetzt ihrer Kandidatin Astrid Bärtschi, die von den drei Bisherigen Schnegg, Neuhaus (beide SVP) und Müller (FDP) mitgezogen wird. Wichtig für sie ist es, dass sie sich in allen Regionen bei der bürgerlichen Wählerschaft zeigt und diese überzeugt. Das ist zeitintensiv. Es braucht eine gute Kondition, während Monaten fast jeden Abend unterwegs zu sein, ist zugleich aber ein Trainingslager für die Arbeit im Regierungsrat.

Haben GLP und EVP mit ihren zwei Kandidierenden irgendeine Chance?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt es schonungslos: Nein. Selbst frühere profilierte Figuren wie Marc Jost, Barbara Mühlheim oder Michael Köpfli waren stets weit vom absoluten Mehr entfernt. Daran wird sich auch 2022 nichts ändern mit den neuen Köpfen, also Casimir von Arx (GLP, Köniz) und Christine Grogg (EVP, Bützberg, Oberaargau). Die sieben Sitze gehen an die beiden grossen Blöcke, also die Bürgerlichen und Rotgrün. Die Ausgangslage verändert sich erst dann, wenn eine dritte Partei zu GLP und EVP stösst – oder aber wenn es eine Allianz gibt mit SP, Grünen, GLP und EVP. Diese würde die Bürgerlichen jedes Mal aufs Neue herauszufordern und sie hätte das Potential, die Regierungsmehrheit zu holen.

 

Zum «Bund»-Artikel – online hinter der Bezahlschranke – und als PDF:

Wieso es zur rot-grünen Wende kommen könnte («Bund», 24. August 2021, PDF)

Karikatur: Orlando / «Der Bund»

«Die Zukunft des Journalismus entwickelt sich fernab der klickgesteuerten Medienkonzerne»

Mit dem publizistischen Wettbewerb auf dem Platz Bern ist bald Schluss: Die beiden Tamedia-Produkte «Bund» und «Berner Zeitung» werden künftig auch im Lokalen und Regionalen von einer Einheitsredaktion beliefert. Die Antwort darauf muss ein neues Medium sein, das nicht auf Klicks und hohe Renditen fokussiert, sondern Journalismus. Die entscheidende Frage lautet: Was muss ein Online-Magazin bieten, damit die Menschen es wertschätzen? Die Umfrage dazu hat die Bewegung Courage Civil lanciert. Das Medienecho war beachtlich. Der «Kleinreport» stellte mir schriftlich ein paar Fragen, die ich hier zusammen mit den Antworten publiziere.

Kleinreport: Sie führen eine eigene Kommunikationsagentur. Wie bringen Sie sich bei Civil Courage konkret ein?

Mark Balsiger: Von Herbst 2017 bis im März 2018 war ich damit beschäftigt, eine grosse Abstimmungskampagne gegen die No-Billag-Initiative zu führen. Während dieser Phase rauften sich viele Gleichgesinnte zusammen. Daraufhin initiierte ich die Bewegung Courage Civil. Dies im Wissen darum, dass Akteure aus der Zivilgesellschaft glaubwürdige Anker sind. In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, braucht es Orientierungshilfen. Wir arbeiten daran, sind aber weiterhin selber im Aufbau.

Was ist Ihre Rolle bei dem Online-Projekt? Was wollen Sie erreichen damit?

Vor 12 Jahren initiierte und führte ich das Komitee «Rettet den Bund», weil Tamedia schon damals plante, «Bund» und «Berner Zeitung» zu fusionieren. Dieses Komitee mit seinen mehr als 16’000 Mitgliedern war einer der Gründe, weshalb Tamedia die Fusion schliesslich sein liess. In jener Phase hat sich mein Bewusstsein weiter geschärft, wie wichtig unabhängige Medien sind. Jetzt, wo die Vollfusion beschlossene Sache ist, fühle ich mich gegenüber dem Komitee von damals verpflichtet, beim Ausloten von neuen Möglichkeiten mitzuwirken.

Civil Courage wurde 2018 im Abstimmungskampf um «No Billag» gegründet. Was hat der Verein seither getan? Was ist seine Message?

Die Bewegung Courage Civil ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, bei der drei verschiedene Generationen mitmachen. Sie ist seit Herbst 2018 operativ und fokussiert auf drei verschiedene Bereiche: Unabhängige Medien, eine offene Schweiz sowie Grundrechte, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit. Seit der Gründung 2018 haben wir eine Abstimmungskampagne gegen die Selbstbestimmungsinitiative (2018) und gegen die Begrenzungsinitiative (2020) geführt. Zudem weisen wir unverdrossen darauf hin, dass Diskussionen online und offline von Anstand und Respekt geprägt sein sollte. Die Verrohung hat sich während der Pandemie nochmals verstärkt, aber aufgeben ist keine Option. Sie dürfen uns nun Gutmenschen nennen, wohlan!

Etwas überrascht waren wir ehrlich gesagt schon vom Vorgehen von Courage Civil. In der Regel wird erst dann so ausführlich über ein Projekt kommuniziert, wenn es in den Startlöchern steht oder wenn zum Crowdfunding aufgerufen wird – und nicht schon dann, wenn abgeklärt wird, ob es überhaupt eine Nachfrage auf dem Markt gibt. Selbst die SDA hat es aufgegriffen. 

Auf dem Medienplatz Bern gärt es schon seit Langem. Der Gärungsprozess hat sich beschleunigt, seit die Tamedia-Manager im letzten Herbst ankündigten, «Berner Zeitung» und «Bund» komplett zu fusionieren. Bislang gab es im Grossraum Bern noch publizistische Konkurrenz; diese fällt mit der Einheitsredaktion dahin. Das «Berner Modell», das der legendäre Verleger Charles von Graffenried 2003 lancierte, ist tot. Demokratiepolitisch ist diese Monopolsituation bedenklich, das Unbehagen gross. Deshalb haben wir jetzt eine Umfrage lanciert, die zum Glück von der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, wie sie ja seit 2018 heisst, aufgegriffen und verbreitet wurde.

Was werden die nächsten konkreten Schritte nach der Umfrage sein?

Mit unserer Umfrage loten wir aus, ob es ein Bedürfnis nach einem neuen unabhängigen Online-Magazin gibt. Wenn es weitere Medienprojekte für den Grossraum Bern geben sollte, ist es jetzt wichtig, dass sich die Leute, die dahinterstehen, regelmässig austauschen. Es hat nur Platz für ein neues Medium im Grossraum Bern. Beginnen zwei oder drei Start-ups gleichzeitig, gewinnt der Platzhirsch, und dieser heisst auch mit der Einheitsredaktion weiterhin Tamedia.

Wie wollen Sie ein neues Medium auf dem ausgetrockneten Medienmarkt finanziell stemmen?

Andere Medien-Start-ups wie zum Beispiel die «Republik», «bajour» in Basel oder «tsüri» zeigen, dass es ein Bedürfnis gibt. Ob sie sich auf die Dauer finanzieren können, werden wir sehen. Die Zukunft des Journalismus ist lokal und regional – und er entwickelt sich fernab der Medienkonzerne, die primär auf Klicks und grosse Renditen aus sind. Wenn die Kleinen aus verschiedenen Ballungsräumen kooperieren, bringt das allen etwas, gerade auch der Leserschaft.

Im fünfköpfigen Vorstand von Courage Civil findet sich laut Website keine einzige Journalistin/Journalist. Wie kann das sein, dass ein Verein ein journalistisches Produkt auf den Medienmarkt bringen will, in dessen Führungsgremium die journalistische Expertise nicht vertreten ist?

In unserer Medienmitteilung thematisieren wir den ersten Schritt, eben diese Umfrage. Weitere Schritte folgen, wenn die Beteiligung gross ist und alle Interessen gebündelt werden können. Wenn Courage Civil auch bei den weiteren Schritten dabei sein sollte, können wir uns auf das Knowhow einiger Mitglieder abstützen, die sehr viel Erfahrung im Medienbereich haben. Wo nötig, ziehen wir die Expertise von weiteren Fachleuten bei. Das Bedürfnis nach unabhängigem Journalismus ist am Wachsen. Davon können hoffentlich alle neuen Projekte profitieren.

Was der «Kleinreport» aus diesem Rohstoff machte, lesen Sie hier.

«Bund» und «Berner Zeitung» verschmelzen komplett

Der grösste Medienkonzern der Schweiz, die TX Group, will in Bern nun also auch noch die bislang eigenständigen Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» komplett verschmelzen. Der identische Inhalt soll in beiden Titeln in ihren altbekannten Layouts verbreitet werden. Der Fusionsprozess beginnt im April nächsten Jahres. Auf dem Medienplatz Bern entsteht damit ein Monopol. Demokratiepolitisch ist das problematisch.

Zunächst ein paar Fakten und Zusammenhänge:

– In den letzten fünf Jahren hat die TX Group (früher Tamedia) einen Reingewinn von 852 Millionen Franken erwirtschaftet (Geschäftsjahre 2015 bis 2019). Das freute die Aktionäre und das Management, welches zum Teil fette Boni erhielt. In die Stärkung der Zeitungen, die seit Jahrzenten (und immer noch) Gewinne machen, wird hingegen nicht investiert.

– Im Frühling beantragte TX Group Kurzarbeit. Trotz Kritik im Vorfeld der GV wurde an einer Dividende in derselbe Höhe wie in den Vorjahren festgehalten. Auf nationaler Ebene ist seit Jahren ein intensives Lobbying für staatliche Unterstützung der grossen Medienhäuser im Gang.

– In den letzten Jahren wurde die ohnehin schon schwach dotierten Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» weiter schleichend ausgedünnt (z.B. werden Abgänge teilweise nicht mehr ersetzt). Schon vor drei Jahren hatte ich vor der kompletten Fusion gewarnt.

– Eine Befragung von 4000 Abonnentinnen und Abonnenten, die wir 2009 seitens des Komitees «Rettet den Bund» durchgeführt hatten, zeigte auf, dass das Ressort Bern für sie am wichtigsten ist (zusammen mit dem Ressort Inland). Die Konzernspitze foutierte sich um diesen klaren Befund.

– Dass es sich lohnt, in Personal und Qualität zu investieren zeigt das Beispiel der «Zeit». Die Wochenzeitung aus Hamburg hat heute eine grössere Auflage als vor 20 Jahren. In unserem Land konnte dieser Qualitätstitel seine Abonnentenzahl in den letzten zehn Jahren massiv erhöhen – auch dank drei Schweiz-Seiten pro Ausgabe. Guter Journalismus ist gefragt. Er darf etwas kosten und rentiert.

– Vor vier Wochen gratulierte Verwaltungsratspräsident Pietro Supino in einem Gastbeitrag dem «Bund» zu seinem 170-Jahre-Jubiläum. Er sei stolz, diesen Titel in seinem Portfolio zu haben. Zugleich drohte er der Politik unverhohlen: Wenn das Medienförderungsgesetz nicht in seinem Sinne ausgestaltet werde, sei der Fortbestand des «Berner Modells» (beide Zeitungen werden unter einem Dach herausgegeben, bleiben aber publizistisch unabhängig) nicht mehr gesichert.

Meine Einschätzung: Die beinharten Medienmanager interessieren sich nicht für Publizistik. Es geht ihnen nur um Rendite. Sie glauben daran, dass diese mit knalligen Storys, vielen Clicks und direkt verknüpfter Werbung eingefahren wird. Unternehmungen sollen Gewinn machen, keine Frage. Allerdings zweifle ich daran, dass Journalismus gleich produziert und verkauft werden sollte wie Billig-Hundefutter.

Ob in der Bundesstadt der Einheitsbrei goutiert wird, ist offen. Der «Bund» bedient ein urbanes Publikum, die «Berner Zeitung» ein ländliches.

Ich bin nicht Gewerkschafter, sondern ein besorgter Staatsbürger, der seine Augen nicht vor der Realität verschliesst: Im Mediengeschäft herrscht ein intensiver Verdrängungskampf, die Auflagen der gedruckten Zeitungen sinken, die Werbeeinnahmen brechen weg, Die vier Tech-Giganten Google, Amazon, Facebook und Apple – auch GAFA genannt – machen den grossen Reibach. Während Jahrzehnten bildeten die Rubrikeninserate für Immobilien, Autos, Stellen, käufliche und ewige Liebe das ökonomische Rückgrat für die Zeitungen. Inzwischen sind sie fast komplett ins Netz abgewandert, wo sie deutlich weniger abwerfen.

Nur: «Berner Zeitung» und «Bund» waren in den letzten Jahren wie alle anderen Titel im Tamedia-Portfolio profitabel, die Renditen gemäss Medienökonomen höher als während den goldenen Zeiten der Zeitungen ohne Internet. Einen Teil der Gewinne hätte man in die beiden Regionalredaktionen investieren können – nein, müssen! Stattdessen wurden beim «Bund» immer weiter Stellenprozente reduziert. Und bei der «Berner Zeitung» fiel die Wochenendbeilage «Zeitpunkt», während vieler Jahre ein leuchtendes Beispiel für Qualitätsjournalismus, dem Sparhammer zum Opfer.

Der Ausblick: Im Grossraum Bern mit seinen rund 350’000 Menschen hat es Platz für ein neues Online-Magazin, das unabhängigen Qualitätsjournalismus liefert. Nochmals auf Tamedia/TX Group zu setzen wäre falsch, es braucht ein Medium von Bern für Bern. Start-ups in anderen Ballungsräumen zeigen, dass das Interesse an einem anderen Journalismus vorhanden ist, etwa «Tsüri» (Zürich), «bajour» (Basel), «Die Ostschweiz» (St. Gallen) oder «ZentralPlus» (Zentralschweiz).

Was es jetzt braucht, sind Leute mit Knowhow, Zeit und Kapital, die ein neues Kapitel Berner Mediengeschichte schreiben wollen. Wenn es gewünscht sein sollte, koordiniere ich die ersten Schritte dafür. Vom Komitee «Rettet den Bund» her haben wir viele Adressen zur Verfügung. Das ist ein Start.

Nachtrag:
Eine ausgesprochen solide Zusammenfassung zu den Herausforderungen auf dem Medienplatz liefert Nick Lüthi in der «Medienwoche».
– Was ich Radio SRF4 News zu dieser Fusion sagte – das Interview von Medienredaktor Salvador Atasoy auf Soundcloud
(30. Oktober 2020)
– Meine E-Mail-Adresse: mark.balsiger@border-crossing.ch

Bern bevorzugt eine parteipolitische Balance

Vier Wochen lang träumten viele Linke im Kanton Bern von einem rot-grünen Ständeratstandem. Die Resultate im ersten Wahlgang liessen das zu: der Bisherige Hans Stöckli (Foto rechts) ging als erster über die Ziellinie, dicht hinter ihm folgte bereits die Grünen-Präsidentin Regula Rytz – eine riesige Überraschung.

Die Reaktion kam heute, und sie war deutlich: Das ländlich-konservative Bern mobilisierte im zweiten Wahlgang viel besser, das Ticket mit Christa Markwalder (FDP) und Werner Salzmann (SVP, Foto links) funktionierte gut. Die freisinnige Nationalrätin aus Burgdorf, selber chancenlos, weil sie eine zu kleine Hausmacht hat, machte Rytz viele Stimmen aus der politischen Mitte abspenstig.

Die Strategie von SVP und FDP mit dem bürgerlichen Ticket ging also auf. Wäre Salzmann alleine angetreten, hätte er die Wahl vermutlich nicht geschafft. Dass Markwalder letztlich Steigbügelhalterin für den SVP-Kantonalpräsidenten war, gehört zum Spiel und dürfte ihr von Anfang an klar gewesen sein.

Rytz konnte sich gegenüber dem ersten Wahlgang nur noch um 8.5 Prozentpunkte steigern, während die anderen rund 12 bzw. sogar 17 Prozentpunkte zulegten. Die grüne Kandidatin verlor zudem in den eigenen Reihen an Mobilisierungskraft: Im mit 290’000 Stimmberechtigten klar grössten Verwaltungskreis Bern-Mittelland, einer rot-grünen Hochburg, hatte sie Salzmann im ersten Wahlgang um fast 24’000 Stimmen distanziert. Heute waren es nur noch 18’000 Stimmen. Die Wahlbeteiligung sank dort von 52.2 auf 48.5 Prozent, was für einen rot-grünen Doppelerfolg nicht trivial ist. (Rytz holte nur noch 13.5 Prozent mehr Stimmen als beim ersten Wahlgang, Salzmann verbesserte sein Resultat hingegen um 36.7 Prozent.)

Das Berner Wahlvolk fungierte als Korrektiv auf die grüne Welle vom 20. Oktober. Es bevorzugt im Ständerat weiterhin eine parteipolitische Balance: Die Leute wollen einen Städter und einen Vertreter vom Land, einen moderaten Linken und einen strammen SVPler. Mit Stöckli und Salzmann sind die beiden grössten Parteien wieder im «Stöckli» vertreten. Das rotgrüne Lager kommt auf 30.9 Prozent, das nationalkonservative Lager mit SVP und EDU auf rund 32.5 Prozent. (Die Differenzen zwischen FDP und SVP sind beträchtlich. Gerade auf der nationalen Ebene heisst der Elefant im Raum: Europa.)

Die Kantonalberner SP und Hans Stöckli konnten das Schreckensszenario «Abwahl» abwenden, das wochenlang herumgegeistert war. Stöckli wäre statt Ständeratspräsident in spe zum Rentner geworden. Im Vorfeld wurde spekuliert, dass Regula Rytz mit ihrem Lauf als grosse Siegerin Stöckli überholen könnte. Bei einem Duo Rytz/Salzmann wäre der Haussegen zwischen Roten und Grünen schief gehangen.

Schliesslich zu meinem neuen Prognosemodell (siehe unten): Der Zieleinlauf stimmt nach den Ständeratswahlen in Bern und Aargau vom 20. Oktober zum dritten Mal in Folge. Die prognostizierten Prozentzahlen weichen allerdings von den Resultaten deutlich ab. Das hat zwei Gründe: Ich ging, erstens, von einer deutlich tieferen Wahlbeteiligung aus. Zweitens war ich sicher, dass viele Leute aus taktischen Gründen nur einen Namen auf den Zettel schreiben würden. Die Analyse zeigt das Gegenteil: pro Wahlzettel wurden 1,73 Namen aufgeführt. Beim ersten Wahlgang waren es sogar 1,75 Namen gewesen.

Das Prognosemodell muss also verbessert werden. Der vierte Realitätscheck folgt am nächsten Sonntag im Kanton Aargau.

Weshalb die Grünen keinen Sitz im Bundesrat erobern werden

Keine Partei hat bei den kantonalen Wahlen seit Anfang 2016 ähnlich viele Sitze gewonnen wie die Grünen (42). Dieses robuste Wachstum wird seit geraumer Zeit auch im Wahlbarometer der SRG bestätigt. Gemäss der Umfrage, die gestern veröffentlicht wurde, erreichen sie 10.5 Prozentpunkte.

Das ist der Höchstwert der Grünen, die damit die CVP mit ihren 10.2% knapp hinter sich lässt. Reflexartig folgern nun viele Medien, dass nun eine grüne Vertretung im Bundesrat Tatsache werden könnte – etwa die Blätter von Tamedia:

Die Zauberformel, die seit 1959 (mit einer Pause zwischen 2008 und 2015) gilt, lautet, dass die drei grössten Parteien je zwei Sitze in der Landesregierung beanspruchen dürfen, die vierstärkste kriegt noch einen Sitz.

Ein Blick zurück zeigt, dass erstarkte Parteien nie sofort mit einem Bundesratssitz belohnt wurden:

– Bei den Nationalratswahlen 1999 wurde die SVP ex aequo mit der SP stärkste Partei (mit 22.5%), aber erst 2003 konnte sie sich den zweiten Sitz erkämpfen. Wir erinnern uns: Sprengkandidat Christoph Blocher verdrängte die bisherige CVP-Magistratin Ruth Metzler nach einem dramatischen Wahlherbst.

– Dank der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 konnte die SP ihre Sitzzahl im Nationalrat beinahe verdoppelt. Seit damals ist sie stets unter den drei grössten Parteien, aber erst 1943 wurde ihr der Einzug in den Bundesrat erlaubt (mit Ernst Nobs); sogar erst 1959 konnte sie sich einen zweiten Sitz ergattern.

– Die ersten Wahlen nach Proporz waren auch aus einem weiteren Grund revolutionär: Die Bauern- und Bürgerpartei, eine Abspaltung des Freisinns, erreichte 1919 auf Anhieb 15.3 Prozentpunkte und 30 Sitze im Nationalrat, war also auf einen Schlag die viertstärkste Partei im Land. Ihr Anführer war der legendäre Berner Rudolf Minger. Zehn Jahre später, also 1929, wurde Minger Bundesrat und seine Partei damit in der Landesregierung eingebunden. Im Verlaufe der Dreissigerjahre sammelten sich die verschiedenen kantonalen Bauern- und Bürgerparteien und einem neuen Namen: Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB; die BDP beruft sich gerne auf sie!). Er hatte bis 1971 Bestand, dann erfolgte die Umbenennung in Schweizerische Volkspartei (SVP).

Es gibt einen zweiten Grund, der gegen einen Grünen – oder eine Grüne – im Bundesrat spricht: Derzeit umfasst die grüne Fraktion (inkl. PdA) 13 Mitglieder. Sollte sie bei den eidgenössischen Wahlen zehn Sitze zulegen, was einem Erdrutsch gleich käme, hätte sie neu 23 Mitglieder. Die CVP-Fraktion (inkl. 2 EVP und 1 CSP) wiederum zählt zurzeit 43 Sitze. Verlöre sie zehn Sitze, käme sie noch auf 33 Sitze, wäre also immer noch deutlich stärker als die grüne Fraktion.

Selbst wenn die Grünen die CVP am 20. Oktober überholen sollten: Dass sich bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats im Dezember eine Mehrheit bildet, die den Grünen den Einzug in die Landesregierung ermöglicht, können wir ausschliessen. In seiner Konsequenz würde das bedeuten, dass die populäre Viola Amherd nach just einem Jahr bereits wieder weg wäre. Ausgerechnet sie, die einen guten Start hinlegte und im VBS kräftige Spuren zieht, was ihren beiden Vorgängern Ueli Maurer und Guy Parmelin nicht gelingen wollte. Freisinnige und SVP’ler wären für einen solchen Putsch nichts zu haben. Ihnen liegt Amherd – oder auch FDP-Cassis – viel näher als irgendjemand mit einem grünen Parteibuch.

Regula Rytz, die Parteipräsidentin der Grünen, weiss um die Gefahren und hält den Ball deshalb routiniert flach. Das Thema komme nach dem 20. Oktober aufs Tapet, vermeldete sie nüchtern.

Fazit: Der Wirbel um einen grünen Bundesratssitz haben die Medien entfacht. Möglich, dass die Grünen ab dem 20. Oktober mit dem Säbel rasseln werden. Aber am 11. Dezember wird die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung nicht ernsthaft zur Debatte stehen.