Ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, Bundesrat Ignazio Cassis kündigt in ein paar Monaten seinen Rücktritt an, weil er gesundheitlich angeschlagen ist. Cassis nahm im Herbst 2017 Einsitz in der Landesregierung und deshalb ist allen klar, dass er nicht mehr fünf oder sechs Jahre bleiben wird. Wer bei der FDP seinen Sitz erben möchte, hat sich längst in Stellung gebracht.
Kaum hat sich also Cassis erklärt, so unser Gedankenspiel, prescht die Spitze der Mitte-Partei vor und meldet: «Wir greifen den FDP-Sitz an!» Nach all dem, was die letzten Wochen passiert ist, könnten sich Journalistinnen und Parteistrategen ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. Die Glaubwürdigkeit hat arg gelitten, die Partei wirkt wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt, man nimmt sie seit ihrer verzweifelten Suche nach Kandidierenden nicht mehr ernst.
Martin Pfister, Regierungsrat aus dem Kanton Zug, ist also der zweite Kandidat neben Bauernpräsident Markus Ritter. Am Montagmittag, als die Anmeldefrist ablief, fand man auf seiner Website gerade einmal vier Sätze zu seiner Bundesratskandidatur. Im Verlaufe des Nachmittags war diese dann längere Zeit offline. Eine Medienkonferenz gibt es laut Pfisters Website noch nicht, für Fragen der Journalisten steht er nicht zur Verfügung. Auf der Website der Mitte-Kantonalpartei wiederum findet man sechs Sätze und – inzwischen – einen Medientermin. Am Donnerstag um 10 Uhr lädt sie nach Baar ein.
Mit Verlaub, aber diese Ankündigung ist ein Fehlstart, Martin Pfister muss damit rechnen, als «last minute Martin» etikettiert zu werden. Er wollte seine Partei vor einer Schmach bewahren, das ehrt ihn. Jetzt wird er verheizt.
Vor 20 Jahren habe ich Martin Pfister, als er noch nicht einmal im Kantonsparlament sass, kennengelernt. Er ist integer, ein guter Kopf. Zweimal wurde er mit dem besten Resultat als Regierungsrat wiedergewählt. Er mache einen «sehr soliden Job», sagen meine Vertrauenspersonen – keine Mitte-Parteigänger – im Kanton Zug.
Mit leeren Händen stehen die Frauen da. Niemand aus ihrem Kreis wollte kandidieren. Dies nachdem die Präsidentin der Mitte-Frauen unmittelbar nach Viola Amherds Rücktrittsankündigung Anspruch auf einen Platz auf dem Ticket angemeldet hatte.
Dass Amherds Rücktritt kommen wird, war seit zwei Jahren klar. Man hätte sich darauf vorbereiten können. Hätte, hätte, Fahrradkette.
Die Mitte konnte bei den eidgenössischen Wahlen 2023 leicht zulegen. Sie kommt bis auf 0,2 Prozentpunkte an die FDP heran und hat diese in Sitzen sogar überholt. Die Lust, dem früheren Feind aus Kulturkampf-Zeiten den zweiten Sitz im Bundesrat abzujagen, war lange spürbar.
Mit dem neuen Parteinamen, obschon weiterhin CVP drin ist, will die Mitte das Mittelland von St. Gallen bis Genf erobern, dort, wo heute die Mehrheit der Menschen lebt. Und jetzt spottet das halbe Land über die sie. So wird das nichts mit dem zweiten Bundesratssitz.
Die nächsten Wochen bis zur Bundesrats-Ersatzwahl werden nicht einfacher. Ob sich die peinliche Phase sogar elektoral niederschlägt, werden die kantonalen Wahlen im Wallis vom 2. März und eine Woche später in Solothurn zeigen.