«Ich bin bodenlos enttäuscht vom Bundesrat»

Der Bundesrat will die Serafe-Gebühren für private Haushaltungen von 335 auf 300 Franken pro Jahr reduzieren, während dem Journalismus das Geld ausgeht. In einem Interview mit dem «Beobachter» führe ich aus, weshalb ich dies für den falschen Weg halte.

Mark Balsiger, in den letzten Wochen kündigten mehrere grosse Medienhäuser Sparrunden an. Wie tief steckt die Medienbranche in der Krise? 

Die Abwärtsspirale dreht seit vielen Jahren. In den letzten Wochen hat sich das mit dem angekündigten Stellenabbau bei den Medienkonzernen CH-Media und TX Group nochmals verschärft. Hinzu kommt die Halbierungsinitiative, die die Serafe-Gebühren kürzen will und bei einem Ja des Stimmvolks die SRG ausbluten liesse. Die breite Bevölkerung ist sich der dramatischen Situation nicht bewusst, weil dieser Umbruch nicht auf einen Schlag passiert. Es ist ein schleichender Prozess.

Viele Medienschaffende blicken mit Sorge auf diese Entwicklungen. Inwiefern betreffen die Sparprogramme auch die breite Bevölkerung?

Die mediale Grundversorgung mit Information ist in Gefahr. Den Medienhäusern geht das Geld aus, also reduzieren sie ihr Angebot immer mehr. Für Ressorts wie nationale Politik, Wirtschaft oder Sport wurden Stellen und Kosten markant heruntergefahren. Bei CH-Media beispielsweise beliefert eine Handvoll Medienschaffende aus dem Bundeshaus 17 Zeitungen und Newsportale mit demselben Stoff. Die so wichtige Vielfalt der Blickpunkte geht verloren. Im Lokaljournalismus ist ein solches Abbauen nicht möglich. Dort verlieren die Medien ihre Informations- und Wächterfunktion, wenn sie keine Journalisten mehr vor Ort haben. Sie verpassen relevante Themen und Entscheide, die uns alle betreffen.

Warum geht dem Lokaljournalismus das Geld aus?

Das Problem der Schweizer Medienhäuser ist, dass heute über zwei Milliarden der Werbeeinnahmen an die Tech-Giganten in den USA fliessen. Das Werbemodell von Google und Meta ist für die Werbewirtschaft attraktiver, als bei einer Lokalzeitung Banner zu schalten. Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr, mit dem man Geld verdienen kann. Zudem sind viele Leute nicht mehr bereit, Geld für ein Magazin oder eine Zeitung auszugeben.

Warum eigentlich?

Die Erbsünde der Medienhäuser ist es, dass sie zu Beginn des Internetzeitalters ihre Inhalte gratis publizierten. Erst sehr spät zogen sie teilweise die Bezahlschranken hoch. Das Umdenken beim Publikum, dass Journalismus etwas kostet, findet nur langsam statt. Dabei hätten journalistische Inhalte nie gratis sein dürfen. Genauso wie wir für Kafi und Gipfeli bezahlen, müssten wir auch für Berichte auf Newsportalen bezahlen.

Gleichzeitig wird qualitativ guter Journalismus immer wichtiger angesichts der Komplexität der Welt und der Falschmeldungen, die sich in Windeseile verbreiten können.

Das sehe ich auch so. Die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel. Es gab zwar eine laute Minderheit, die an der Glaubwürdigkeit der Medien und der politischen Institutionen zweifelte. Insgesamt ist der Medienkonsum aber in die Höhe geschnellt und das Vertrauen in die Medien gewachsen. Besonders bei den qualitativ hochwertigen Plattformen. Doch wenn die Ressourcen fehlen, sinkt diese Qualität. Dabei ist kein Land verwundbarer als die Schweiz. Alle drei Monate müssen wir über Sachvorlagen abstimmen. Dafür braucht es eine systematische Berichterstattung, kritischen und sachgerechten Journalismus. Denn schlecht informierte Menschen können keine weisen Entscheidungen treffen. Desinformation und Fake News warten gleich um die Ecke. Das ist gefährlich.

Die SVP will mit der Halbierungsinitiative der SRG den Beitrag kürzen. Neu sollen wir nur noch 200 Franken Serafe-Gebühren zahlen. Erste Umfragen zeigen, dass die Initiative gut ankommt. Verstehen Sie den Unmut der Leute, die nicht mehr so viel zahlen wollen?

Einzelne Gruppierungen und Medien machen gezielt Stimmung gegen die SRG. Dabei ist diese Initiative widersinnig, nachdem das Volk erst vor fünf Jahren «No Billag» mit 70 Prozent Nein versenkt hat. Ausgerechnet jetzt, wo es den privaten Medienhäusern schlecht geht, wollen Libertäre den öffentlichen Rundfunk drastisch schwächen. Dabei ist die SRG nicht schuld daran, dass den Privaten das Geld ausgeht. Die libertäre Argumentation, man wolle nur für die Angebote zahlen, die man konsumiere, höre ich seit vielen Jahren. Mit der gleichen Begründung könnte man fordern, dass Kinderlose kein Geld mehr für die Schulen zahlen müssen. Eine funktionierende Medienlandschaft ist genauso essenziell wie ein gutes Bildungssystem.

Der Bundesrat schlägt eine Reduktion von 335 auf 300 Franken vor. Ein guter Kompromiss?

Ich bin bodenlos enttäuscht, dass der Bundesrat die Initiative nicht ohne Wenn und Aber ablehnt. Der Versuch Albert Röstis, dem Initiativkomitee den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat kaum Wirkung. Die Reduktion macht gerade mal drei Franken pro Monat aus. Ich hatte die Hoffnung, der Bundesrat sei weise genug, den Service public zu stärken.

Was stimmt Sie optimistisch im Kampf für die Medienvielfalt?

Es gibt zum Glück Unentwegte, die neue Medienprojekte lancieren, und das mit einem neuen Ansatz. Ihre Online-Portale sind werbefrei und publikumsfinanziert. Die «Republik» ist das bekannteste Beispiel dafür und kann sich hoffentlich stabilisieren, ja verbessern. Auch die «Hauptstadt» in Bern zähle ich dazu. Es braucht einen langen Atem, und es braucht nicht nur Goodwill, sondern halt auch Geld in Form von Abos und Spenden.

Interview: Miriam Weber, 24. November 2023

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Zur Person
Mark Balsiger ist selbständiger Politikberater und Medientrainer. Er engagiert sich ehrenamtlich für unabhängige Medien. So führte er 2008/2009 das Rettungskomitee zugunsten der Traditionszeitung «Der Bund» und initiierte Anfang 2022 die Allianz Pro Medienvielfalt, die sich gegen die Halbierungsinitiative stemmt.

Ein Appell zum «zäme Schnurre»

Ein Plus von drei Prozentpunkten und neun Sitzen im Nationalrat ist in der Schweiz ein Erdrutsch. (Korrektur vom 25. Oktober: Weil das Bundesamt für Statistik die Parteistärken am Wahltag falsch zählte, beträgt das Plus der SVP jetzt nur noch 2.3 Prozent). Für progressive, liberale und linke Kreise ist der Wahlerfolg der SVP schwer zu verdauen. Sie hadern. Ein Blick zurück würde ihnen helfen, um dieselben Fehler nicht immer zu wiederholen.

Bis Ende der Achtzigerjahre war die SVP eine biedere 10-Prozent-Partei. 1992 pflügte die Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Parteienlandschaft um. Das knappe Nein war ein Triumph für die national-konservativen Kräfte, der rasante Aufstieg der neuen SVP begann.

Das Land war damals verzagt und kämpfte gegen eine hartnäckige Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit plagte die Menschen. Erst ab 1998, also noch vor dem Inkrafttreten der Bilateralen Verträge, begann die Wirtschaft wieder zu wachsen.

Seit 20 Jahren ist die SVP mit Abstand die grösste Partei. Ihre Wählerstärke hat sich inzwischen bei 25 bis 29 Prozentpunkten eingependelt. Das ist nicht gottgegeben.

Wer SVP wählt, wünscht sich die Schweiz von früher zurück. Wer SVP wählt, hat Angst vor der Zukunft. Dass viele Leute die Zuwanderung als bedrohlich empfinden, ist offensichtlich. Die SVP Schweiz spielte in ihrer Wahlkampagne erneut die Karte «Ausländer raus!» und duldet Brandstifter in den eigenen Reihen. Sie bewirtschaftet Probleme, steht aber abseits, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu erarbeiten.

Wer der SVP einen Teil ihrer Wählerschaft wieder abluchsen will, muss besser sein, sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren und überzeugend kommunizieren. In meiner Beobachtung passiert zumindest im städtischen Raum etwas anderes: SVP-Wähler werden belächelt, ausgegrenzt und nicht selten dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, eine braune Gesinnung zu haben. Die Schlagworte sind oftmals genauso dumpfbackig wie diejenigen der Volkspartei.

Vor wenigen Wochen kam ich im Politforum Bern mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er sei, gestand er mir im Flüsterton, Mitglied der SVP. Das dürfe er nicht laut sagen, sonst werde er sofort an den Pranger gestellt.

Auf Twitter lärmt seit Jahren ein Mob, der sich an Reizfiguren wie Andreas Glarner oder Roger Köppel abarbeitet. Das generiert viele Likes und peitscht andere an, ins gleiche Horn zu stossen. Die SVP’ler, zahlenmässig deutlich schwächer, schlagen zurück. Der Kurznachrichtendienst setzt den Ton, der in alle anderen Kanäle und Medien schwappt. Das Klima wird noch giftiger.

In progressiven, liberalen und linken Bubbles wurde es zum Volkssport, alle SVP-Mitglieder pauschal auszugrenzen und mit Gülle zu überschütten. Das halte ich für kontraproduktiv. Genauso wie es ein Fehler war, Christoph Blocher 2007 die Wiederwahl im Bundesrat zu verweigern. Das ist bis heute ein Trauma für die Partei.

Ein Sprichwort aus China sagt: «Die Hand, die du nicht abhacken kannst, solltest du schütteln.» Statt sich stets nur in den eigenen Kreisen zu bewegen und Andersdenkende zu diffamieren, müsste man auf SVP-Wähler zugehen und den Dialog mit ihnen suchen. «Zäme schnurre» ist die Voraussetzung, um Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Ein nächster Schritt könnte sein, dass einzelne SVP-Wähler sich von ihrer Partei abwenden.

Wächst die Fundamentalopposition noch weiter, droht der Stillstand, aber das können wir uns angesichts der ungelösten Probleme nicht leisten.

Zusammen mit K. die 50-Prozent-Marke knacken

Letzte Woche war ich bei einer Bekannten zum Nachtessen eingeladen. Auf ihrem Altpapier entdeckte ich dick, unauffällig und mausgrau das Wahlcouvert der Eidgenossenschaft. Ungeöffnet. Meine linke Augenbraue zuckte nach oben. K. setzte zu einer Entschuldigung an: Irgendetwas mit zu viel zu tun, sie wähle sonst fast immer, aber dieses Mal sei die Auswahl erschlagend gross.

Ich versuchte mich mit einem staatspolitischen Exkurs, der schliesslich Wirkung zeigte: K. fischte das graue Couvert aus dem Altpapier, riss es auf, setzte sich mit mir an den Tisch, studierte den Inhalt und warf den Compi an. Fünfzehn Minuten später hatte sie ihre Wahl getroffen, unterschrieben und das Couvert zugeklebt. High five – geht doch!

Zugegeben, Politiker nerven gelegentlich. Manchmal gilt das sogar für Politikerinnen. Gerade in dieser Phase mit zahllosen Instagram-Stories, Standaktionen mit den obligaten Öpfeli, Schöggeli und Kugelschriiberli (Merke: immer Diminutiv!), Newsletter und penetranten «Wählt-mich!-Wählt-mich!»-Appellen gilt das erst recht. Aber: Alle diejenigen, die sich echt bemühen und etwas bewegen wollen, und glaubt mir, das sind einige, haben unsere Aufmerksamkeit und unsere Stimmen verdient. Man findet sie in allen Parteien.

Meine Bitte: Macht es wie K., nehmt an den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober teil!

Ich lebte in Ländern, die keine demokratischen Traditionen kennen. Die Menschen dort staunten, wenn ich ihnen unser politisches System erklärte. Sie staunten erst recht, dass die Wahlbeteiligung bei uns in der Regel die 50-Prozent-Marke nicht knackt.

Remember: Das Stimm- und Wahlrecht mussten unsere Vorfahren hart erkämpfen, erst vor 175 (1848) bzw. 52 Jahre (1971) wurde es eingeführt. Wählen zu dürfen ist gleichsam ein Privileg wie eine Pflicht.

Wählt Schwefelgelb, Himbeerirot, Fiordilatteweiss oder Himmelblau – aber wählt, bitte! Gute Dienste leisten die Wahlhilfe smartvote, ch.ch, easyvote und vimentis. Wenn es kompliziert bleiben sollte, etwa mit den Auswirkungen von Listenverbindungen oder so: Mark anrufen! Er sei vom Fach, sagen Sachverständige. (Ich habe noch nie in der dritten Person Singular geschrieben, Ehrenwort!) Item, ich helfe gerne.

«Es ist richtig, wenn eine Partei auf Themen setzt, die sie schon lange bewirtschaftet»

Gestern stellte die SP Schweiz ihre Dachkampagne für die nationalen Wahlen im Oktober vor. Unterstützt wurde die Partei vom mehrfach preisgekrönten Werber Dennis Lück, der auch schon bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz mitwirkte. Auf Anfrage des Online-Magazins «Persönlich» habe ich die aktuelle Kampagne beurteilt. Das Fazit ist mehrheitlich positiv, nachdem ich vor Jahren die damaligen Arbeiten hart kritisiert hatte. 


Mark Balsiger, was ist Ihr erster Eindruck der SP-Kampagne für die Parlamentswahlen im Herbst?

Politische Werbung erzielt Wirkung, wenn sie die Kernanliegen einer Partei auf ein Visual und eine Botschaft eindampfen kann. Es geht um die maximale Reduktion. Das gelingt der SP mit dem Slogan «Wir ergreifen Partei» und den drei Themen Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft sehr gut.

Wie wirken die visuellen Elemente der Kampagne auf Sie?

Mir gefallen die Schwarz-Weiss-Bilder. Die Visuals sind klassisch und kommen aufgeräumt und ohne Schnickschnack daher. Ich finde es schade, dass man weiterhin Grossbuchstaben verwendet. Damit leidet die Lesbarkeit. Das zeigen auch Erhebungen. Wenn der Text über drei oder vier Zeilen läuft, dann wirken Grossbuchstaben klobig.

Inhaltlich setzt die SP im Wahlkampf auf Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft. Sind das die richtigen Themen?

Die Themenkonjunktur spielt für die SP. Die soziale Sicherheit ist bei der Bevölkerung wieder wichtiger als früher. Zudem setzt die SP auf Themen, die sie schon lange bewirtschaftet. Damit hat sie sich schon Resonanzräume erarbeitet und muss jetzt nur noch hineinrufen. Das Echo kommt sofort, weil die SP mit Recht sagen kann, dass sie die Gleichstellungspartei sei und die schwindende Kaufkraft vielen Menschen Sorgen bereitet.

«Das Thema Klimaschutz kann die SP im Wahlkampf nicht den Grünen überlassen»

Mit dem Thema Klimaschutz tritt die SP aber ins Gärtchen der Grünen. Ist das für den Wahlkampf eine Chance oder ein Risiko?

Dass die Grünen vor vier Jahren satte 6,1 Prozentpunkte zulegen konnten, machte viele SP-Mitglieder muff, weil sie ja Klimaschutz genauso engagiert propagiert hatten. Die Nachwahlbefragung zeigte dann, dass ein Teil der SP-Wählerinnen zu den Grünen übergelaufen waren und dass die Grünen überdurchschnittlich viele Junge und Erstwähler abholen konnten. Klimaschutz zählt laut Umfragen weiterhin zu den drei wichtigsten Themen, also kann es sich die SP schlicht nicht erlauben, ihn im Wahlkampf links liegen zu lassen.

Andere Themen, die andere Parteien stark besetzen, etwa die Migrationspolitik, lässt sie im Wahlkampf links, respektive rechts, liegen. Ist das klug, hier das Feld der SVP zu überlassen?

Mit diesem Thema wäre kein Blumentopf zu gewinnen, was übrigens für alle Parteien ausser der SVP gilt. Also wird es dethematisiert, eine übliche Strategie. Migration ist eine ausgesprochen komplexe Herausforderung, und langfristig werden die Parteien nicht darum herumkommen, eigene Ansätze zu entwickeln. Slogans wie «Es kommen die falschen Ausländer!» bringen uns allerdings auch nicht weiter.

«Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse»


Mit dem Slogan «Klimaerwärmung stoppen. Bevor alles in Schutt und Aeschi liegt.» stichelt die SP gegen SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Könnte da der Schuss nach hinten losgehen?

Gewisse Leute freuen sich über diesen Dreh, andere finden ihn plump. Ich musste beim erstmaligen Lesen schmunzeln – für etwa zwei Sekunden. Aber klar: Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse, und die Klickmedien werden willfährig mitmachen.

Werber Dennis Lück, der die Kampagne für die Schweizer SP erarbeitet hat, war für die SPD in Deutschland tätig, als Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Lässt sich Erfolg über die Landesgrenzen hinweg kopieren?

Olaf Scholz wurde gewählt, weil er am glaubwürdigsten wirkte. Daran hatte die Kampagne ihren Anteil. Aber diese Fokussierung auf einen einzigen Kopf gibt es in der Schweiz nicht. Der Wahlkampf hierzulande gleicht einem Jekami. Ich gehe in diesem Jahr von rund 5000 Kandidatinnen und Kandidaten aus für die nationalen Wahlen.

Welche Rolle spielt eine nationale Dachkampagne für den Erfolg bei Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden?

Ich bin weder Defätist noch Zyniker, aber die Durchschlagskraft von nationalen Parteikampagnen ist sehr, sehr bescheiden. Machen wir die Milchbüchleinrechnung: Vom Wahlkampfbudget der SP in Höhe von 1,6 Millionen Franken geht etwa ein Drittel in die französischsprachige Schweiz, bleibt also noch etwa eine Million für die Deutschschweiz, und das für eine Zeitspanne von rund zwei Monaten. Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Grossverteiler, Mobilfunkanbieter, Lebensmittelhersteller, Kleidermarken haben x-fach grössere Budgets als die Parteien.

«Die Kampagne der nationalen Partei wirkt auch gegen innen»


Wenn die Wirkung so bescheiden wäre, wie Sie behaupten, warum setzen die nationalen Parteien dennoch auf so aufwendige Kampagnen?

Die geringe Durchschlagskraft betrifft die breite Werbewirkung. Aber eine solche Kampagne wirkt natürlich auch gegen innen. Die nationale Partei geht voran und leistet Vorarbeit für die kantonalen und kommunalen Parteien, welche die Kampagnenelemente übernehmen und auch für ihren Wahlkampf verwenden können.

Das meint also Dennis Lück, wenn er sagt: «Eine Partei ist eine Marke, die überall gleich auftreten muss»?

Genau. Aber das gilt auch für den Inhalt einer Kampagne. Wenn eine Partei radikal auf den Kern ihrer Marke setzt und nur jene Themen systematisch bewirtschaftet, bei denen sie von den Leuten als kompetent eingestuft wird, hat sie Chancen, zuzulegen. Aber in einer föderalistischen, von unten gewachsenen Parteienlandschaft wird sich ein Markenbewusstsein nie komplett durchsetzen.

Dieses Interview erschient zuerst und (in einer leicht kürzeren Version) im Online-Magazin «Persönlich». Die Fragen stellte Nick Lüthi. 

Was Kantonsbilanz, aktuelle Form und die Zürcher Wahlen für die «Eidgenössischen» bedeuten können


Dieselbe Grafik zum Herunterladen: Kantonsbilanz (PDF)

Die kantonalen Wahlen sind durch. (In AR konnte am 16. April ein Sitz im Kantonsrat noch nicht vergeben werden. Es kommt am 14. Mai zu einem zweiten Wahlgang. Konkret geht es um den Wahlkreis Rehetobel. Gewählt wird dort nach Majorz.) Die eidgenössischen Wahlen werden in rund sechseinhalb Monaten stattfinden. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um eine Einschätzung vorzunehmen. Als Basis dienen

– die Kantonsbilanz (siehe oben);
– die aktuelle Form;
– die Umfragen;
– der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen.

Ein zentraler Aspekt, der bei fast jeder Einschätzung vergessen geht, wird ganz am Schluss angeschnitten.


A) Die Kantonsbilanz

Nach 25 Kantonalwahlen konnte die GLP am meisten an Sitzen zulegen, gefolgt von den Grünen. FDP, Die Mitte und SP verloren alle mehr als 40 Sitze. Gewichtet man die Resultate nach der Grösse des jeweiligen Kantons wird das Bild klarer: Die GLP legt um rund 2.5 Prozentpunkte zu, die Grünen um etwa 1.2 Prozentpunkte. Die FDP und Die Mitte verlieren je etwa 1 Prozentpunkt, die SP büsst 2 Prozentpunkte ein.

Zusammenstellung: Tamedia. Leider fehlen die Resultate des Kantons Tessin, die ich hier nachliefere:
SVP: +3.4%, SP: -1.2%, FDP: -1.5%, Mitte: -0.1; Grüne: -1.2%, GLP: +1.6. 


B) Die aktuelle Form

Nach einer langen Baisse präsentiert sich die SVP in einer ausgezeichneten Verfassung: Bei fünf von sechs kantonalen Wahlen in diesem Jahr konnte sie zulegen, in Genf, Luzern und im Tessin um je 3.4 Prozentpunkte. Positiv fällt die Frühlingsbilanz auch für die GLP aus. Einzig in Zürich, dort, wo die Wiege dieser Partei steht, hat sie 0.2 Prozentpunkte verloren. Auf der anderen Seite der Skala stehen die Grünen, die überall Federn lassen mussten. Die grüne Welle begann 2017 in der Westschweiz und ebbte im letzten Jahr ab, allerdings ist der Rückgang in Prozentpunkten nie so markant wie der Zugewinn, den die Partei vor vier Jahren praktisch in allen Kantonen machen konnte.

Die Frühlingsbilanz in Sitzen:
– SVP: + 13 Sitze
– GLP: + 8
– Die Mitte: +/- 0
– SP: +/- 0
– Grüne: -9
– FDP: -11 Sitze

Berücksichtigt wurden dafür die Kantone ZH, BL, GE, LU, TI und AR, wo seit Februar kantonalen Wahlen stattfanden. 


C) Die Umfragen

Es muss wieder einmal erwähnt werden: Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Prognosen. Was seit geraumer Zeit auffällt: Sie werden von grossen Medienhäusern intensiver genutzt und von vielen Medien überinterpretiert. Tatsache ist, dass die meisten Abweichungen innerhalb des statistischen Fehlerbereichs – auch Stichprobenfehler genannt – liegen.

D) Der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen

Die Sehnsucht, den Ausgang der eidgenössischen Wahlen weit im Voraus «lesen» zu können, ist schon lange gross. Das Interpretieren ersetzt die anspruchsvollere Auseinandersetzung mit politischen Themen und ist für die Medien attraktiver. Der Fachbegriff dazu lautet «Horse Race Journalism».

Es ist tatsächlich so, dass die Resultate der Kantonswahlen in Zürich, die jeweils zwischen sechs und acht Monate vor den «Eidgenössischen» stattfinden, ein guter Gradmesser sind. Sie nehmen die Tendenz vorneweg, nicht aber das Ausmass, wie diese Zusammenstellung zeigt:


Die Resultate der kantonalen Wahlen in Zürich vom 12. Februar zeigen, dass sich die Parteistärken zwischen +0.45 und -0.33 Prozentpunkten veränderten, also im MicroMü-Bereich. Die einzige Ausnahme sind die Grünen, die ein Minus von 1.48 Prozentpunkten hinnehmen mussten.

Von den Grünen ausgenommen, taugen die «Trends» der Zürcher Wahlen 2023 also kaum.


Fazit

Wo stehen also die Parteien Mitte April? Der SVP wird am 22. Oktober ein Erstarken zugetraut, nachdem sie vor vier Jahren 3.8 Prozentpunkte verloren hatte. Ihr kommt entgegen, dass das Thema Ausländer/Migration schon seit Monaten hoch gehängt wird. Das mobilisiert ihr Lager weit überdurchschnittlich. Bei allen anderen Parteien wäre eine Prognose sehr mutig.

Wenn es einen Hitzesommer gibt, drehen die Grünen vermutlich ihren Negativtrend, den sie in diesem Frühling einfingen, wieder ins Plus. Jedes andere Mega-Thema hat die Kraft, das Wahljahr 2023 aufzumischen.

Und damit zu einem zentralen Punkt, den die meisten Journalistinnen und Beobachter vergessen: die Ständeratswahlen. Umfragen werden jeweils schweizweit gemacht, es geht aber lediglich um Parteistärken. Was im Kampf um die Sitze der kleinen Kammer passiert, wird nicht abgebildet. Dabei wiegt ein Sitz im Ständerat vier Sitze im Nationalrat auf, Verschiebungen haben es also in sich.

In diesem Wahljahr ist die Ausgangslage vorab für die SP herausfordernd: Es ist gut möglich, dass sie ihre Ständeratssitze in den Kantonen Bern (bislang: Hans Stöckli), Solothurn (Roberto Zanetti), Tessin (Marina Carrobio) und St. Gallen (Paul Rechsteiner) verliert. Ein Zugewinn dürfte es hingegen in der Waadt geben: Dort kandidiert SGB-Präsident und Nationalrat Pierre-Yves Maillard, währenddem die beiden Bisherigen, Adèle Thorens (Grüne) und Olivier Français (FDP) aufhören.

 

Das_neue_Bundespalament_2023_12 by_LeTemps

Ein Sieg für die Satire

Gestern hat die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) einen wichtigen Fall entschieden: Sie wies eine Beschwerde gegen die SRF-«Late-Night-Show» von Dominic Deville vom 22. November letzten Jahres ab.

Damals setzte sich die Sendung praktisch über die ganze Länge mit den Gegnern der Konzernverantwortungsinitiative auseinander. Deville sparte nicht mit irren Übertreibungen und beissendem Spott – Satire eben.

Eine Woche vor der Abstimmung war deren Ausgang offen, die Nerven lagen blank, beide Lager hatten sich schon seit Monaten eine wüste Abnützungsschlacht geliefert. Devilles Satire-Sendung lieferte neue Munition.

Die Gegner schossen aus allen Rohren, SRF erhielt eingeschriebene Briefe, man wollte die Chefs im «Leutschenbach» an die Kandare nehmen und Satire reglementieren, jawohl, reglementieren! Der Fernsehfabrik am Stadtrand Zürichs drohte noch mehr Bürokratie.

Die «Late-Night-Show» sei Propaganda und werde das Abstimmungsergebnis beeinflussen, wurde wütend proklamiert. Das ist absurd: Zum einen ist das Publikum am Sonntagabend mündig, um dieses Satire-Format richtig einschätzen zu können. Zum anderen ist der Meinungsbildungsprozess bei Abstimmungsvorlagen ausgesprochen komplex – ein paar derbe Nummern bringen die Leute nicht dazu, statt einem Nein ein Ja auf ihren Stimmzettel zu schreiben. Zudem ist Dominic Deville eine Kunstfigur, wie jetzt auch die UBI feststellte, und kein Journalist, der ein News- oder Hintergrundformat moderiert.

Satire darf nicht alles, klar. Sie muss aber weder sachgerecht, noch ausgewogen sein. Vielmehr muss sie wehtun – richtig wehtun. Ihr kennt den Schmerz, wenn man mit Merfen eine offene Wunde desinfiziert. Genau so.

Es geht bei der Beurteilung nicht darum, ob man Dominic Deville und seine Sendungen gut oder schlecht findet. Es geht auch nicht darum, ob man für oder gegen die Konzernverantwortungsinitiative war. Es geht lediglich um diese eine Sendung. Punkt.

Die einstimmige Entscheidung der achtköpfigen UBI ist ein Sieg für die Satire. Sie stärkt Deville und andere Satiriker in diesem Land. Dass Realsatire die Satire längst überholt hat, ist eine andere Geschichte.

Zum Nachschauen: Die Sendung vom 22. November 2020.

Die Wahlen im Aargau als erster Formtest

Politisch Interessierte blicken am Sonntag gespannt auf den Kanton Aargau: Er bildet im Kleinen die Schweiz ab. Die Parteistärken im Aargau korrelieren mit denjenigen auf nationaler Ebene. Das macht die Parlamentswahlen (Grosser Rat) zum ersten grossen Formtest für die Parteien. Unter besonderer Beobachtung ist die CVP: Sie tritt mit dem Zusatz «Die Mitte» an und hat prominente Ex-BDP’ler auf ihren Listen. Damit nimmt sie die Fusion der beiden Parteien, die auf nationaler Ebene erfolgen soll, vorweg.

Laut einer Faustregel hallen die Ergebnisse der Nationalratswahlen jeweils rund ein Jahr nach. Die Ausgabe vom 20. Oktober 2019 gilt als ist historisch, weil die Grünen nicht weniger als 6.1 Prozentpunkte zulegen konnten. Auch der Zuwachs der Grünliberalen um 3.2 Prozent ist spektakulär, während auf der Verliererseite die SVP mit einem Minus von 3.8 Prozent ins Auge sticht.

In diesem Jahr fanden bislang kantonalen Wahlen in St. Gallen, Thurgau, Schwyz, Uri und Schaffhausen statt. Damit bestätigt sich die «Nachhallen»-These, wie die Grafik von schlemihl.org zeigt:

Die Grossratswahlen im viertgrössten Kanton werden also erneut zum ersten grossen Formtest für alle Parteien. Viel Aufmerksamkeit zieht wie gewohnt die SVP auf sich. Sie sei eine ganz normale Partei geworden, bilanzieren einzelne Beobachter nach der Abstimmungsschlappe gegen die Begrenzungsinitiative von Ende September. Übersetzt heisst das: Im Aargau könnte sie erstmals seit 20 Jahren wieder unter die 30-Prozent-Marke fallen. Die Tamedia-Zeitungen sprechen von einer «Angstwahl» für die SVP und ihren Präsidenten, Nationalrat Andreas Glarner (siehe auch Grafik von Tamedia).

Nach elf Jahren streicht die BDP die Segel. Die Partei, die in ihrer besten Phase rund 6 Prozentpunkte und Fraktionsstärke erreicht hatte, tritt bei den Grossratswahlen nicht mehr an. Von ihren vier aktuellen Grossratsmitgliedern wechselten zwei im Frühling zur CVP: Maya Bally (Hendschiken, Bezirk Lenzburg) und Michael Notter (Niederrohrdorf, Bezirk Baden). Die beiden anderen (Marcel Bruggisser und Fabian Hauser) beenden die Legislatur in der angestammten EVP-BDP-Fraktion.

Für die CVP bedeutet der Zuwachs um zwei BDP’ler eine Herausforderung. Sie will ihre 19 Sitze «halten», wie Parteipräsidentin Marianne Binder bei einem «Tele-M1»-Talk erklärte.

Die Aargauer Kantonalsektion nimmt im Prinzip vorweg, was auf nationaler Ebene aufgegleist ist: die Fusion mit der BDP. Die neue Partei namens «Die Mitte» soll breitere Kreise ansprechen und so zu einem Wachstum führen. Ein gutes Abschneiden der CVP-Die Mitte im Aargau würde diesem Projekt Schub verleihen.

Abschliessend die Entwicklung der Parteistärken seit 2012:

Dieselbe Grafik gibt es zum Herunterladen: Aargau: Vergleiche Grossrats- und Nationalratswahlen (PDF)

«Marco Chiesa hat ein Winner-Image»

Seit vielen Monaten ist die SVP Schweiz auf der Suche nach einem neuen Präsidenten oder einer Präsidentin. Die Ankündigung des bisherigen Amtshabers Albert Rösti hat die Partei offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Die Suche verläuft schleppend, die allermeisten Angefragten winkten ab.

Übrig blieben schliesslich die beiden Nationalräte Andreas Glarner (AG) und Fredi Heer (ZH). Bis gestern Abend, als die Findungskommission einen neuen Namen präsentierte: Marco Chiesa. Der Tessiner ist seit 2015 in Bundesbern, zuerst als Nationalrat, im letzten Herbst wurde er in den Ständerat gewählt. Er wird der Delegiertenversammlung vom 22. August vorgeschlagen. «20-Minuten»-Redaktor Claudius Seemann stellte mir zu Chiesa ein paar Fragen. Nachfolgend wird dieses Interview integral übernommen.

Herr Balsiger, der Tessiner Ständerat Marco Chiesa soll auf SVP-Chef Albert Rösti folgen. Hätten Sie mit Chiesa als Favorit gerechnet?

Mark Balsiger: Aus Deutschschweizer Sicht ist die Nomination überraschend – vor allem, weil Chiesa bisher kein bekannter Kopf in der Partei war. Auch ist er bei einem zentralen Geschäft noch nicht als Schlüsselfigur der SVP-Fraktion in Erscheinung getreten. Ich sehe die Nomination aber vor allem als Misstrauensvotum gegenüber Alfred Heer und Andreas Glarner.

Warum?

Die Kandidaturen von Heer und Glarner sind parteiintern nicht auf überbordende Begeisterung gestossen. Die Findungskommission hat deshalb einige andere Exponenten vermutlich sogar mehrfach angefragt. Doch die Wunschkandidaten haben alle abgesagt. Nun schlägt sie Chiesa vor, obwohl er eine Kandidatur im Februar noch abgelehnt hatte.

Marco Chiesa ist den meisten Deutschschweizern kaum ein Begriff. Warum hat die SVP an ihm den Narren gefressen?

Chiesa hat dank der Wahlen im letzten Herbst das Image eines Winners: So wurde er überraschend zum Tessiner Ständerat gewählt und hat CVP-Urgestein Filippo Lombardi verdrängt. Das war auch insofern überraschend, weil das rechte politische Spektrum im Tessin seit bald 40 Jahren von der Lega geprägt wird –die SVP ist eine Kleinpartei mit einem Wähleranteil zwischen fünf und zehn Prozentpunkten. Mit Chiesa hat die SVP zudem einen Kandidaten, der dreisprachig ist.

Hat die SVP mehr als andere Parteien einen Winnertyp nötig?

Albert Rösti ist ein kluger Kopf und «gmögig», aber als Parteipräsident startete er nicht durch. An der SVP-Basis sehnt man sich nach einem neuen Toni Brunner, der den harten Hund markiert, wenn es drauf ankommt, sonst aber gerne das «Chalb» macht. Die SVP hat eine klare Hierarchie, die Basis ist disziplinierter als bei anderen Parteien – deshalb ist die Rolle des Präsidenten wichtiger als anderswo.

Marco Chiesa gilt als Hardliner, fiel aber bisher nicht gross auf. Wird er den Schalter als Parteipräsident plötzlich kippen?

Was ich von ihm bisher wahrgenommen habe, ist, dass er weitgehend linientreu politisiert und eine umgängliche Art hat. Er scheint mir nicht eine Person zu sein, die verbal draufhaut. Doch das könnte sich ändern, wenn er an der Parteispitze steht und Verantwortung übernehmen muss. Schliesslich muss er seine Basis bei Laune halten, die Partei will wieder zulegen.

Welche Rolle spielt seine Tessiner Herkunft für die Partei?

Die Herkunft des Parteipräsidenten kann durchaus einen Einfluss haben. Mit einer Tessiner Kandidatur erhofft sich die SVP sicher auch, in der lateinischen Schweiz zuzulegen. Auf diese Karte setzte man bereits 2015 nach der Wahl von Guy Parmelin in den Bundesrat. Doch damals blieb ein Effekt aus.

Was kommt jetzt auf Chiesa zu?

Für ihn gilt es nun, die Basis in den Kantonen zu besuchen und von sich zu überzeugen. Chiesa ist mit seinen 45 Jahren auch noch jung und muss nicht nur an Bekanntheit, sondern auch an Statur und Präsenz gewinnen. Das ist ein Knochenjob. Denn die graue Eminenz der Partei – also Christoph Blocher – muss auch von ihm überzeugt sein. Welche Verbindungen Chiesa zu Herrliberg hat, kann ich nicht beurteilen.

Die SVP hat bei den letzten Wahlen Wählerprozente verloren, was ein Rücktrittsgrund von Albert Rösti war. Kann Chiesa die SVP wieder auf Kurs bringen?

Der Erfolg einer Partei lässt sich nicht nur am Präsidenten festmachen. Natürlich braucht es eine Führungsfigur, und diese wünscht man sich gerade bei der SVP. Doch der Erfolg einer Partei hängt auch davon ab, welche Themen die Leute gerade beschäftigen: Die Hauptthemen der SVP – Ausländer, Asyl und Migration – sind in den letzten Jahren jedoch in den Hintergrund gerückt.

Weshalb die CVP beim Rytz-Poker nicht mitmacht

Rund vier Wochen nach dem historischen Wahlerfolg herrscht Klarheit: Grünen-Präsidentin Regula Rytz kandidiert für den Bundesrat. Ihr erster Satz vor den Medien heute Nachmittag lautete: «Ich bin bereit.»

Zu ergänzen ist: Rytz musste bereit sein.

Ihre Partei legte am 20. Oktober um 6.1 Prozentpunkte zu, sie überholte die CVP und ist neu die viertstärkste Kraft. Das weckt Erwartungen. Der Anspruch ist legitim und so ist er nur logisch, dass jemand ins Bundesratsrennen steigt. Klar, dass es nach Möglichkeit eine Frau sein soll. Der Kreis an bekannten und profilierten Politikerinnen ist allerdings sehr klein.

Aus diesem Grund liegt die Kandidatur von Rytz auf der Hand. Sie repräsentiert die beiden grossen Themen dieses Jahres, den Klimawandel und den Frauenstreik. Sie ist das sympathische und glaubwürdige Gesicht der Grünen. Rytz hat massgeblichen Anteil am Wahlerfolg ihrer Partei und sie hätte das Zeug, um eine gute Bundesrätin zu werden. Sie verfügt über mehr Führungserfahrung als die meisten Mitglieder der Landesregierung, bevor diese gewählt wurden. Des Weiteren hat Rytz eine hohe Sozialkompetenz, sie ist klug, enorm fleissig und pragmatisch.

Solche Faktoren spielen bei Bundesratswahlen keine zentrale Rolle. Wichtig sind hingegen die Konstellation, das Parteibuch und die regionale Herkunft.

Rytz’ Kampfkandidatur richtet sich gegen Aussenminister Ignazio Cassis, den die Linken nicht mögen und andere hinter vorgehaltener Hand kritisieren. Seine Basis in der Vereinigten Bundesversammlung ist allerdings gross: FDP und SVP haben sich bislang 101 Sitze gesichert. (Am kommenden Sonntag finden noch zweite Wahlgänge in AG, BL und SZ statt; insgesamt sind noch vier Sitze zu vergeben.) Dazu kommt, dass die Abwahl eines amtierenden Bundesrats nicht zur Konsenskultur der Schweiz passt. In den letzten 171 Jahren wurden nur drei Bundesratsmitglieder nicht mehr gewählt (Ulrich Ochsenbein, 1854, Ruth Metzler, 2003, Christoph Blocher, 2007.) Die Verwerfungen von 2003 und 2007 sind bis heute spürbar, und das schreckt ab.

Für eine Wahl bräuchte Rytz eine solide Allianz von Grünen, SP, GLP sowie mindestens der Hälfte der CVP-EVP-BDP-Fraktion. Ob die Grünliberalen mitziehen, ist komplett offen. Bei der CVP könnten einige Mitglieder Gefallen daran finden, den Freisinnigen «einen hineinzubremsen» und noch mächtiger zu werden. Die CVP ist das Zünglein an der Waage im Ständerat und in der neuen Legislatur auch im Nationalrat. Mit einer grünen Bundesrätin wäre Viola Amherd die starke Figur in der Mitte, die fallweise mit links oder rechts umstrittenen Geschäften zum Durchbruch verhelfen könnte.

Die CVPler werden diesen Verlockungen aus guten Gründen widerstehen: Im Frühling 2020 finden in Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Uri kantonale Wahlen statt. In allen vier Kantonen hat die CVP kräftige Strukturen und viele Sitze zu verteidigen. Ein Schwenk der Bundeshausfraktion zur grünen Kandidatin würde in diesen konservativ-bürgerlich geprägten Kantonen zu einer Abstrafung an der Urne führen. Das kann sich Gerhard Pfisters Partei, die gerade noch 11.4 Prozentpunkte auf sich vereint, nicht leisten. Entsprechend macht die CVP beim Poker der Grünen nicht mit, die Kampfkandidatur der Grünen wird am 11. Dezember auflaufen.

Die Kampfansage von Rytz ist allerdings für die Grünen und ihre Basis sehr wichtig. Das hält deren Themen im Gespräch und die Nichtwahl gibt ihnen in den kommenden vier Jahren die Möglichkeit, immer wieder Druck zu machen. Wenn sie bei den eidgenössischen Wahlen 2023 ihr Ergebnis bestätigen und ein Rücktritt aus dem Bundesrat vorliegt, wird es sehr schwierig werden, ihnen den Zugang in die Landesregierung zu verwehren.

Die SVP liebäugelt angeblich damit, Rytz anstelle von Simonetta Sommaruga zu wählen. Ein solches Manöver hat keine Chance, zumal Rytz bereits klarmachte, dass sie bei diesem Spiel die Wahl nicht annehmen würde. Dazu muss man die Reihenfolge der Bundesratswahlen am 11. Dezember in Betracht ziehen. Diese wird nach dem Amtsalter abgewickelt, dem sogenannten Ancienitätsprinzip:

– 1. Ueli Maurer (SVP)
– 2. Simonetta Sommaruga (SP)
– 3. Alain Berset (SP)
– 4. Guy Parmelin (SVP)
– 5. Ignazio Cassis (FDP) >>> Angriff Regula Rytz (Grüne)
– 6. Viola Amherd (CVP)
7. Karin Keller-Sutter (FDP)

Schliesslich: was sagt eigentlich die Bundesverfassung zu den «Ansprüchen» auf Bundesratssitze:

Bern bevorzugt eine parteipolitische Balance

Vier Wochen lang träumten viele Linke im Kanton Bern von einem rot-grünen Ständeratstandem. Die Resultate im ersten Wahlgang liessen das zu: der Bisherige Hans Stöckli (Foto rechts) ging als erster über die Ziellinie, dicht hinter ihm folgte bereits die Grünen-Präsidentin Regula Rytz – eine riesige Überraschung.

Die Reaktion kam heute, und sie war deutlich: Das ländlich-konservative Bern mobilisierte im zweiten Wahlgang viel besser, das Ticket mit Christa Markwalder (FDP) und Werner Salzmann (SVP, Foto links) funktionierte gut. Die freisinnige Nationalrätin aus Burgdorf, selber chancenlos, weil sie eine zu kleine Hausmacht hat, machte Rytz viele Stimmen aus der politischen Mitte abspenstig.

Die Strategie von SVP und FDP mit dem bürgerlichen Ticket ging also auf. Wäre Salzmann alleine angetreten, hätte er die Wahl vermutlich nicht geschafft. Dass Markwalder letztlich Steigbügelhalterin für den SVP-Kantonalpräsidenten war, gehört zum Spiel und dürfte ihr von Anfang an klar gewesen sein.

Rytz konnte sich gegenüber dem ersten Wahlgang nur noch um 8.5 Prozentpunkte steigern, während die anderen rund 12 bzw. sogar 17 Prozentpunkte zulegten. Die grüne Kandidatin verlor zudem in den eigenen Reihen an Mobilisierungskraft: Im mit 290’000 Stimmberechtigten klar grössten Verwaltungskreis Bern-Mittelland, einer rot-grünen Hochburg, hatte sie Salzmann im ersten Wahlgang um fast 24’000 Stimmen distanziert. Heute waren es nur noch 18’000 Stimmen. Die Wahlbeteiligung sank dort von 52.2 auf 48.5 Prozent, was für einen rot-grünen Doppelerfolg nicht trivial ist. (Rytz holte nur noch 13.5 Prozent mehr Stimmen als beim ersten Wahlgang, Salzmann verbesserte sein Resultat hingegen um 36.7 Prozent.)

Das Berner Wahlvolk fungierte als Korrektiv auf die grüne Welle vom 20. Oktober. Es bevorzugt im Ständerat weiterhin eine parteipolitische Balance: Die Leute wollen einen Städter und einen Vertreter vom Land, einen moderaten Linken und einen strammen SVPler. Mit Stöckli und Salzmann sind die beiden grössten Parteien wieder im «Stöckli» vertreten. Das rotgrüne Lager kommt auf 30.9 Prozent, das nationalkonservative Lager mit SVP und EDU auf rund 32.5 Prozent. (Die Differenzen zwischen FDP und SVP sind beträchtlich. Gerade auf der nationalen Ebene heisst der Elefant im Raum: Europa.)

Die Kantonalberner SP und Hans Stöckli konnten das Schreckensszenario «Abwahl» abwenden, das wochenlang herumgegeistert war. Stöckli wäre statt Ständeratspräsident in spe zum Rentner geworden. Im Vorfeld wurde spekuliert, dass Regula Rytz mit ihrem Lauf als grosse Siegerin Stöckli überholen könnte. Bei einem Duo Rytz/Salzmann wäre der Haussegen zwischen Roten und Grünen schief gehangen.

Schliesslich zu meinem neuen Prognosemodell (siehe unten): Der Zieleinlauf stimmt nach den Ständeratswahlen in Bern und Aargau vom 20. Oktober zum dritten Mal in Folge. Die prognostizierten Prozentzahlen weichen allerdings von den Resultaten deutlich ab. Das hat zwei Gründe: Ich ging, erstens, von einer deutlich tieferen Wahlbeteiligung aus. Zweitens war ich sicher, dass viele Leute aus taktischen Gründen nur einen Namen auf den Zettel schreiben würden. Die Analyse zeigt das Gegenteil: pro Wahlzettel wurden 1,73 Namen aufgeführt. Beim ersten Wahlgang waren es sogar 1,75 Namen gewesen.

Das Prognosemodell muss also verbessert werden. Der vierte Realitätscheck folgt am nächsten Sonntag im Kanton Aargau.