So wird das nichts mit dem Angriff auf den zweiten FDP-Sitz

 

Ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, Bundesrat Ignazio Cassis kündigt in ein paar Monaten seinen Rücktritt an, weil er gesundheitlich angeschlagen ist. Cassis nahm im Herbst 2017 Einsitz in der Landesregierung und deshalb ist allen klar, dass er nicht mehr fünf oder sechs Jahre bleiben wird. Wer bei der FDP seinen Sitz erben möchte, hat sich längst in Stellung gebracht.

Kaum hat sich also Cassis erklärt, so unser Gedankenspiel, prescht die Spitze der Mitte-Partei vor und meldet: «Wir greifen den FDP-Sitz an!» Nach all dem, was die letzten Wochen passiert ist, könnten sich Journalistinnen und Parteistrategen ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. Die Glaubwürdigkeit hat arg gelitten, die Partei wirkt wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt, man nimmt sie seit ihrer verzweifelten Suche nach Kandidierenden nicht mehr ernst.

Martin Pfister, Regierungsrat aus dem Kanton Zug, ist also der zweite Kandidat neben Bauernpräsident Markus Ritter. Am Montagmittag, als die Anmeldefrist ablief, fand man auf seiner Website gerade einmal vier Sätze zu seiner Bundesratskandidatur. Im Verlaufe des Nachmittags war diese dann längere Zeit offline. Eine Medienkonferenz gibt es laut Pfisters Website noch nicht, für Fragen der Journalisten steht er nicht zur Verfügung. Auf der Website der Mitte-Kantonalpartei wiederum findet man sechs Sätze und – inzwischen – einen Medientermin. Am Donnerstag um 10 Uhr lädt sie nach Baar ein.

Mit Verlaub, aber diese Ankündigung ist ein Fehlstart, Martin Pfister muss damit rechnen, als  «last minute Martin» etikettiert zu werden. Er wollte seine Partei vor einer Schmach bewahren, das ehrt ihn. Jetzt wird er verheizt.

Vor 20 Jahren habe ich Martin Pfister, als er noch nicht einmal im Kantonsparlament sass, kennengelernt. Er ist integer, ein guter Kopf. Zweimal wurde er mit dem besten Resultat als Regierungsrat wiedergewählt. Er mache einen «sehr soliden Job», sagen meine Vertrauenspersonen – keine Mitte-Parteigänger – im Kanton Zug.

Mit leeren Händen stehen die Frauen da. Niemand aus ihrem Kreis wollte kandidieren. Dies nachdem die Präsidentin der Mitte-Frauen unmittelbar nach Viola Amherds Rücktrittsankündigung Anspruch auf einen Platz auf dem Ticket angemeldet hatte.

Dass Amherds Rücktritt kommen wird, war seit zwei Jahren klar. Man hätte sich darauf vorbereiten können. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Die Mitte konnte bei den eidgenössischen Wahlen 2023 leicht zulegen. Sie kommt bis auf 0,2 Prozentpunkte an die FDP heran und hat diese in Sitzen sogar überholt. Die Lust, dem früheren Feind aus Kulturkampf-Zeiten den zweiten Sitz im Bundesrat abzujagen, war lange spürbar.

Mit dem neuen Parteinamen, obschon weiterhin CVP drin ist, will die Mitte das Mittelland von St. Gallen bis Genf erobern, dort, wo heute die Mehrheit der Menschen lebt. Und jetzt spottet das halbe Land über die sie. So wird das nichts mit dem zweiten Bundesratssitz.

Die nächsten Wochen bis zur Bundesrats-Ersatzwahl werden nicht einfacher. Ob sich die peinliche Phase sogar elektoral niederschlägt, werden die kantonalen Wahlen im Wallis vom 2. März und eine Woche später in Solothurn zeigen.

Es geht nichts über geschicktes Timing

Viele Medien zeigten sich überrascht, als Gerhard Pfister (im Bild rechts) seinen Rücktritt als Parteipräsident auf Mitte Jahr bekanntgab. Das überrascht mich, weil der Zeitpunkt ideal ist für beide: die Partei und Pfister.

➡️ Die Vorbereitungen für eidgenössische Wahlen beginnen inzwischen zwei Jahre vor dem Wahltermin. Es macht also Sinn, wenn schon im Sommer dieses Jahres eine neue Kraft die Führung der Partei übernimmt.

➡️ Gerhard Pfister werden schon seit Jahren Bundesrats-Ambitionen nachgesagt. Die letzten neun Jahre haben gezeigt, dass er Parteipräsident kann. Der logische – und letzte – Karriereschritt wäre: Bundesrat. Der ausgebuffte Stratege hat sich für die Nachfolge von Viola Amherd (links) in eine ausgezeichnete Position gebracht. Es geht nichts über geschicktes Timing.

🟧 Amherd wurde im Dezember 2018 gewählt, ist also seit sechs Jahren im Amt. Sie erkämpfte ein Volks-Ja zu neuen Kampfjets (2020), schuf das neue Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (2023), holte sich bei der Ausrichtung der Bürgenstock-Konferenz gute Noten (2024) und kann sich während der Fussball-EM der Frauen im Juli den Medien und Massen volksnah zeigen. Kaum jemand im Bundeshausperimeter glaubt, dass sie die Legislatur beenden wird, also bis Ende 2027 bleibt. Naheliegend ist vielmehr, dass Sie auf Ende dieses oder nächsten Jahres aufhört.

Bei Bundesratswahlen ist Standard, dass Fraktionen Zweiertickets präsentieren. Ob dieses oder nächstes Jahr: Die Mitte-Fraktion wird nicht darum herumkommen, Pfister zu nominieren. Seine Verdienste für die Partei sind gross, und sie sind breit anerkannt. Ihm gelang es zusammen mit Generalsekretärin Gianna Luzio, seiner wichtigsten Vertrauten, die Partei zu stabilisieren, mit der BDP zu fusionieren und ihr einen neuen Namen zu verpassen.

Das «C» ist weg, nachdem sich das katholische Milieu schon zuvor aufgelöst hatte, und damit wird Die Mitte auch im urbanen Mittelland wählbar. Die CVP hätte übrigens bereits 1970 die Chance gehabt, einen Namen ohne «C» zu wählen: Zur Auswahl stand damals u.a. Schweizerische Volkspartei (SVP). Die heutige SVP hiess damals noch Bauern-Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) und notierte bei 10 Prozentpunkten. Die Parteienlandschaft sähe heute anders aus, wenn die Katholisch-Konservativen am entscheidenden Parteitag in Solothurn den Mut gehabt hätten, über ihren Schatten zu springen.

Doch zurück zu Pfister. Wenn er will, steht sein Name dereinst auf dem Zweierticket. Als Parteipräsident wäre das deutlich schwieriger. Die Wetten laufen.

Foto: Die Mitte (Website)

Die Volksinitiative braucht ein Update

Wir sind stolz auf sie. Seit ihrer Einführung im Jahr 1891 konnte das Schweizer Stimmvolk 234 Mal über eine Volksinitiative befinden, im Durchschnitt also etwa zwei Mal pro Jahr. Sie brachten immer wieder lange, intensive, manchmal auch gehässige Debatten in die Stuben und Sääle. Das ist ein wichtiger Teil. 

Diese Woche hat der Ständerat die ersten Weichen gestellt, damit Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden digital gesammelt werden können. Dieser Entscheid steht unter dem Eindruck des Skandals, der im September bekannt worden war. Kommerzielle Sammler hatten mutmasslich Tausende von Unterschriften gefälscht. Das ist Gift für das Vertrauen in die Demokratie.

Die Skepsis gegenüber dem digitalen Sammeln von Unterschriften ist weiterhin gross. Doch es geht nicht nur um Sicherheit und Datenschutz. Das Sammeln würde einfacher, was zu noch mehr Volksinitiativen führen kann. Unter den Strich wäre das positiv, wenn die Begehren echte Debatten anstossen und die Demokratie so revitalisiert wird. Die kritische Betrachtung: Volksinitiativen treiben das Parlament und das Volk vor sich hin, was zu Politik-Müdigkeit führt.

Zu Beginn war die Volksinitiative das Instrument der Opposition, also der SP und der Katholisch-Konservativen. Sie brachten regelmässig Grundsatzfragen aufs Tapet. In den Neunzigerjahren begann sich der Charakter der Volksinitiative zu verändern. Inzwischen ist sie oft ein Marketing-Vehikel, listig formuliert und emotional aufladbar. Es geht um Aufmerksamkeit, Spenden und Mitgliederwerbung. Zuweilen wird sie verwendet als Druckmittel oder Drohkulisse. Die Vordenker des modernen Bundesstaats würden sich im Grab umdrehen, wenn sie mitbekämen, was aus ihrer Volksinitiative geworden ist.

Ursprünglich brauchte es für das Zustandekommen 7,6 Prozent der Stimmberechtigten, inzwischen weniger als 2 Prozent. Diese Hürde ist tief – zu tief, finde ich. Doch die Diskussion darüber wollen die Akteure nicht führen, weil niemand als «Abbauer der Volksrechte» gebrandmarkt werden will. Vor zehn Jahren regte ich in einem Gastbeitrag in der «Handelszeitung» an, die Unterschriftenzahl moderat zu erhöhen. Anstelle der statischen Zahl 100‘000, die in der Bundesverfassung steht, würde man besser eine dynamische Zahl verwenden, zum Beispiel 2,5 Prozent. Bei 2,5 Prozent der Stimmberechtigten bräuchte es zurzeit 137‘000 gültige Unterschriften, bei 3 Prozent wären es 165‘000 Unterschriften. Die Schweiz mutierte deswegen nicht zur Plutokratie, es geht um ein pragmatisches Update.

Die Volksinitiative ist das wertvollste Instrument der Schweizer Politik. Wird es inflationär genutzt, verliert es einen Teil seines Wertes.

Ergänzend, zum Thema «Initiativenflut», eine Grafik von Swissinfo. Sie zeigt, dass im Jahr 2011 insgesamt 24 Volksinitiativen ergriffen wurden – bislang ein Rekordwert.

Foto: Stefan Lanz/20 Minuten

«Ich bin bodenlos enttäuscht vom Bundesrat»

Der Bundesrat will die Serafe-Gebühren für private Haushaltungen von 335 auf 300 Franken pro Jahr reduzieren, während dem Journalismus das Geld ausgeht. In einem Interview mit dem «Beobachter» führe ich aus, weshalb ich dies für den falschen Weg halte.

Mark Balsiger, in den letzten Wochen kündigten mehrere grosse Medienhäuser Sparrunden an. Wie tief steckt die Medienbranche in der Krise? 

Die Abwärtsspirale dreht seit vielen Jahren. In den letzten Wochen hat sich das mit dem angekündigten Stellenabbau bei den Medienkonzernen CH-Media und TX Group nochmals verschärft. Hinzu kommt die Halbierungsinitiative, die die Serafe-Gebühren kürzen will und bei einem Ja des Stimmvolks die SRG ausbluten liesse. Die breite Bevölkerung ist sich der dramatischen Situation nicht bewusst, weil dieser Umbruch nicht auf einen Schlag passiert. Es ist ein schleichender Prozess.

Viele Medienschaffende blicken mit Sorge auf diese Entwicklungen. Inwiefern betreffen die Sparprogramme auch die breite Bevölkerung?

Die mediale Grundversorgung mit Information ist in Gefahr. Den Medienhäusern geht das Geld aus, also reduzieren sie ihr Angebot immer mehr. Für Ressorts wie nationale Politik, Wirtschaft oder Sport wurden Stellen und Kosten markant heruntergefahren. Bei CH-Media beispielsweise beliefert eine Handvoll Medienschaffende aus dem Bundeshaus 17 Zeitungen und Newsportale mit demselben Stoff. Die so wichtige Vielfalt der Blickpunkte geht verloren. Im Lokaljournalismus ist ein solches Abbauen nicht möglich. Dort verlieren die Medien ihre Informations- und Wächterfunktion, wenn sie keine Journalisten mehr vor Ort haben. Sie verpassen relevante Themen und Entscheide, die uns alle betreffen.

Warum geht dem Lokaljournalismus das Geld aus?

Das Problem der Schweizer Medienhäuser ist, dass heute über zwei Milliarden der Werbeeinnahmen an die Tech-Giganten in den USA fliessen. Das Werbemodell von Google und Meta ist für die Werbewirtschaft attraktiver, als bei einer Lokalzeitung Banner zu schalten. Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr, mit dem man Geld verdienen kann. Zudem sind viele Leute nicht mehr bereit, Geld für ein Magazin oder eine Zeitung auszugeben.

Warum eigentlich?

Die Erbsünde der Medienhäuser ist es, dass sie zu Beginn des Internetzeitalters ihre Inhalte gratis publizierten. Erst sehr spät zogen sie teilweise die Bezahlschranken hoch. Das Umdenken beim Publikum, dass Journalismus etwas kostet, findet nur langsam statt. Dabei hätten journalistische Inhalte nie gratis sein dürfen. Genauso wie wir für Kafi und Gipfeli bezahlen, müssten wir auch für Berichte auf Newsportalen bezahlen.

Gleichzeitig wird qualitativ guter Journalismus immer wichtiger angesichts der Komplexität der Welt und der Falschmeldungen, die sich in Windeseile verbreiten können.

Das sehe ich auch so. Die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel. Es gab zwar eine laute Minderheit, die an der Glaubwürdigkeit der Medien und der politischen Institutionen zweifelte. Insgesamt ist der Medienkonsum aber in die Höhe geschnellt und das Vertrauen in die Medien gewachsen. Besonders bei den qualitativ hochwertigen Plattformen. Doch wenn die Ressourcen fehlen, sinkt diese Qualität. Dabei ist kein Land verwundbarer als die Schweiz. Alle drei Monate müssen wir über Sachvorlagen abstimmen. Dafür braucht es eine systematische Berichterstattung, kritischen und sachgerechten Journalismus. Denn schlecht informierte Menschen können keine weisen Entscheidungen treffen. Desinformation und Fake News warten gleich um die Ecke. Das ist gefährlich.

Die SVP will mit der Halbierungsinitiative der SRG den Beitrag kürzen. Neu sollen wir nur noch 200 Franken Serafe-Gebühren zahlen. Erste Umfragen zeigen, dass die Initiative gut ankommt. Verstehen Sie den Unmut der Leute, die nicht mehr so viel zahlen wollen?

Einzelne Gruppierungen und Medien machen gezielt Stimmung gegen die SRG. Dabei ist diese Initiative widersinnig, nachdem das Volk erst vor fünf Jahren «No Billag» mit 70 Prozent Nein versenkt hat. Ausgerechnet jetzt, wo es den privaten Medienhäusern schlecht geht, wollen Libertäre den öffentlichen Rundfunk drastisch schwächen. Dabei ist die SRG nicht schuld daran, dass den Privaten das Geld ausgeht. Die libertäre Argumentation, man wolle nur für die Angebote zahlen, die man konsumiere, höre ich seit vielen Jahren. Mit der gleichen Begründung könnte man fordern, dass Kinderlose kein Geld mehr für die Schulen zahlen müssen. Eine funktionierende Medienlandschaft ist genauso essenziell wie ein gutes Bildungssystem.

Der Bundesrat schlägt eine Reduktion von 335 auf 300 Franken vor. Ein guter Kompromiss?

Ich bin bodenlos enttäuscht, dass der Bundesrat die Initiative nicht ohne Wenn und Aber ablehnt. Der Versuch Albert Röstis, dem Initiativkomitee den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat kaum Wirkung. Die Reduktion macht gerade mal drei Franken pro Monat aus. Ich hatte die Hoffnung, der Bundesrat sei weise genug, den Service public zu stärken.

Was stimmt Sie optimistisch im Kampf für die Medienvielfalt?

Es gibt zum Glück Unentwegte, die neue Medienprojekte lancieren, und das mit einem neuen Ansatz. Ihre Online-Portale sind werbefrei und publikumsfinanziert. Die «Republik» ist das bekannteste Beispiel dafür und kann sich hoffentlich stabilisieren, ja verbessern. Auch die «Hauptstadt» in Bern zähle ich dazu. Es braucht einen langen Atem, und es braucht nicht nur Goodwill, sondern halt auch Geld in Form von Abos und Spenden.

Interview: Miriam Weber, 24. November 2023

***
Zur Person
Mark Balsiger ist selbständiger Politikberater und Medientrainer. Er engagiert sich ehrenamtlich für unabhängige Medien. So führte er 2008/2009 das Rettungskomitee zugunsten der Traditionszeitung «Der Bund» und initiierte Anfang 2022 die Allianz Pro Medienvielfalt, die sich gegen die Halbierungsinitiative stemmt.

Ein Appell zum «zäme Schnurre»

Ein Plus von drei Prozentpunkten und neun Sitzen im Nationalrat ist in der Schweiz ein Erdrutsch. (Korrektur vom 25. Oktober: Weil das Bundesamt für Statistik die Parteistärken am Wahltag falsch zählte, beträgt das Plus der SVP jetzt nur noch 2.3 Prozent). Für progressive, liberale und linke Kreise ist der Wahlerfolg der SVP schwer zu verdauen. Sie hadern. Ein Blick zurück würde ihnen helfen, um dieselben Fehler nicht immer zu wiederholen.

Bis Ende der Achtzigerjahre war die SVP eine biedere 10-Prozent-Partei. 1992 pflügte die Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Parteienlandschaft um. Das knappe Nein war ein Triumph für die national-konservativen Kräfte, der rasante Aufstieg der neuen SVP begann.

Das Land war damals verzagt und kämpfte gegen eine hartnäckige Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit plagte die Menschen. Erst ab 1998, also noch vor dem Inkrafttreten der Bilateralen Verträge, begann die Wirtschaft wieder zu wachsen.

Seit 20 Jahren ist die SVP mit Abstand die grösste Partei. Ihre Wählerstärke hat sich inzwischen bei 25 bis 29 Prozentpunkten eingependelt. Das ist nicht gottgegeben.

Wer SVP wählt, wünscht sich die Schweiz von früher zurück. Wer SVP wählt, hat Angst vor der Zukunft. Dass viele Leute die Zuwanderung als bedrohlich empfinden, ist offensichtlich. Die SVP Schweiz spielte in ihrer Wahlkampagne erneut die Karte «Ausländer raus!» und duldet Brandstifter in den eigenen Reihen. Sie bewirtschaftet Probleme, steht aber abseits, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu erarbeiten.

Wer der SVP einen Teil ihrer Wählerschaft wieder abluchsen will, muss besser sein, sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren und überzeugend kommunizieren. In meiner Beobachtung passiert zumindest im städtischen Raum etwas anderes: SVP-Wähler werden belächelt, ausgegrenzt und nicht selten dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, eine braune Gesinnung zu haben. Die Schlagworte sind oftmals genauso dumpfbackig wie diejenigen der Volkspartei.

Vor wenigen Wochen kam ich im Politforum Bern mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er sei, gestand er mir im Flüsterton, Mitglied der SVP. Das dürfe er nicht laut sagen, sonst werde er sofort an den Pranger gestellt.

Auf Twitter lärmt seit Jahren ein Mob, der sich an Reizfiguren wie Andreas Glarner oder Roger Köppel abarbeitet. Das generiert viele Likes und peitscht andere an, ins gleiche Horn zu stossen. Die SVP’ler, zahlenmässig deutlich schwächer, schlagen zurück. Der Kurznachrichtendienst setzt den Ton, der in alle anderen Kanäle und Medien schwappt. Das Klima wird noch giftiger.

In progressiven, liberalen und linken Bubbles wurde es zum Volkssport, alle SVP-Mitglieder pauschal auszugrenzen und mit Gülle zu überschütten. Das halte ich für kontraproduktiv. Genauso wie es ein Fehler war, Christoph Blocher 2007 die Wiederwahl im Bundesrat zu verweigern. Das ist bis heute ein Trauma für die Partei.

Ein Sprichwort aus China sagt: «Die Hand, die du nicht abhacken kannst, solltest du schütteln.» Statt sich stets nur in den eigenen Kreisen zu bewegen und Andersdenkende zu diffamieren, müsste man auf SVP-Wähler zugehen und den Dialog mit ihnen suchen. «Zäme schnurre» ist die Voraussetzung, um Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Ein nächster Schritt könnte sein, dass einzelne SVP-Wähler sich von ihrer Partei abwenden.

Wächst die Fundamentalopposition noch weiter, droht der Stillstand, aber das können wir uns angesichts der ungelösten Probleme nicht leisten.

Zusammen mit K. die 50-Prozent-Marke knacken

Letzte Woche war ich bei einer Bekannten zum Nachtessen eingeladen. Auf ihrem Altpapier entdeckte ich dick, unauffällig und mausgrau das Wahlcouvert der Eidgenossenschaft. Ungeöffnet. Meine linke Augenbraue zuckte nach oben. K. setzte zu einer Entschuldigung an: Irgendetwas mit zu viel zu tun, sie wähle sonst fast immer, aber dieses Mal sei die Auswahl erschlagend gross.

Ich versuchte mich mit einem staatspolitischen Exkurs, der schliesslich Wirkung zeigte: K. fischte das graue Couvert aus dem Altpapier, riss es auf, setzte sich mit mir an den Tisch, studierte den Inhalt und warf den Compi an. Fünfzehn Minuten später hatte sie ihre Wahl getroffen, unterschrieben und das Couvert zugeklebt. High five – geht doch!

Zugegeben, Politiker nerven gelegentlich. Manchmal gilt das sogar für Politikerinnen. Gerade in dieser Phase mit zahllosen Instagram-Stories, Standaktionen mit den obligaten Öpfeli, Schöggeli und Kugelschriiberli (Merke: immer Diminutiv!), Newsletter und penetranten «Wählt-mich!-Wählt-mich!»-Appellen gilt das erst recht. Aber: Alle diejenigen, die sich echt bemühen und etwas bewegen wollen, und glaubt mir, das sind einige, haben unsere Aufmerksamkeit und unsere Stimmen verdient. Man findet sie in allen Parteien.

Meine Bitte: Macht es wie K., nehmt an den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober teil!

Ich lebte in Ländern, die keine demokratischen Traditionen kennen. Die Menschen dort staunten, wenn ich ihnen unser politisches System erklärte. Sie staunten erst recht, dass die Wahlbeteiligung bei uns in der Regel die 50-Prozent-Marke nicht knackt.

Remember: Das Stimm- und Wahlrecht mussten unsere Vorfahren hart erkämpfen, erst vor 175 (1848) bzw. 52 Jahre (1971) wurde es eingeführt. Wählen zu dürfen ist gleichsam ein Privileg wie eine Pflicht.

Wählt Schwefelgelb, Himbeerirot, Fiordilatteweiss oder Himmelblau – aber wählt, bitte! Gute Dienste leisten die Wahlhilfe smartvote, ch.ch, easyvote und vimentis. Wenn es kompliziert bleiben sollte, etwa mit den Auswirkungen von Listenverbindungen oder so: Mark anrufen! Er sei vom Fach, sagen Sachverständige. (Ich habe noch nie in der dritten Person Singular geschrieben, Ehrenwort!) Item, ich helfe gerne.

«Es ist richtig, wenn eine Partei auf Themen setzt, die sie schon lange bewirtschaftet»

Gestern stellte die SP Schweiz ihre Dachkampagne für die nationalen Wahlen im Oktober vor. Unterstützt wurde die Partei vom mehrfach preisgekrönten Werber Dennis Lück, der auch schon bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz mitwirkte. Auf Anfrage des Online-Magazins «Persönlich» habe ich die aktuelle Kampagne beurteilt. Das Fazit ist mehrheitlich positiv, nachdem ich vor Jahren die damaligen Arbeiten hart kritisiert hatte. 


Mark Balsiger, was ist Ihr erster Eindruck der SP-Kampagne für die Parlamentswahlen im Herbst?

Politische Werbung erzielt Wirkung, wenn sie die Kernanliegen einer Partei auf ein Visual und eine Botschaft eindampfen kann. Es geht um die maximale Reduktion. Das gelingt der SP mit dem Slogan «Wir ergreifen Partei» und den drei Themen Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft sehr gut.

Wie wirken die visuellen Elemente der Kampagne auf Sie?

Mir gefallen die Schwarz-Weiss-Bilder. Die Visuals sind klassisch und kommen aufgeräumt und ohne Schnickschnack daher. Ich finde es schade, dass man weiterhin Grossbuchstaben verwendet. Damit leidet die Lesbarkeit. Das zeigen auch Erhebungen. Wenn der Text über drei oder vier Zeilen läuft, dann wirken Grossbuchstaben klobig.

Inhaltlich setzt die SP im Wahlkampf auf Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft. Sind das die richtigen Themen?

Die Themenkonjunktur spielt für die SP. Die soziale Sicherheit ist bei der Bevölkerung wieder wichtiger als früher. Zudem setzt die SP auf Themen, die sie schon lange bewirtschaftet. Damit hat sie sich schon Resonanzräume erarbeitet und muss jetzt nur noch hineinrufen. Das Echo kommt sofort, weil die SP mit Recht sagen kann, dass sie die Gleichstellungspartei sei und die schwindende Kaufkraft vielen Menschen Sorgen bereitet.

«Das Thema Klimaschutz kann die SP im Wahlkampf nicht den Grünen überlassen»

Mit dem Thema Klimaschutz tritt die SP aber ins Gärtchen der Grünen. Ist das für den Wahlkampf eine Chance oder ein Risiko?

Dass die Grünen vor vier Jahren satte 6,1 Prozentpunkte zulegen konnten, machte viele SP-Mitglieder muff, weil sie ja Klimaschutz genauso engagiert propagiert hatten. Die Nachwahlbefragung zeigte dann, dass ein Teil der SP-Wählerinnen zu den Grünen übergelaufen waren und dass die Grünen überdurchschnittlich viele Junge und Erstwähler abholen konnten. Klimaschutz zählt laut Umfragen weiterhin zu den drei wichtigsten Themen, also kann es sich die SP schlicht nicht erlauben, ihn im Wahlkampf links liegen zu lassen.

Andere Themen, die andere Parteien stark besetzen, etwa die Migrationspolitik, lässt sie im Wahlkampf links, respektive rechts, liegen. Ist das klug, hier das Feld der SVP zu überlassen?

Mit diesem Thema wäre kein Blumentopf zu gewinnen, was übrigens für alle Parteien ausser der SVP gilt. Also wird es dethematisiert, eine übliche Strategie. Migration ist eine ausgesprochen komplexe Herausforderung, und langfristig werden die Parteien nicht darum herumkommen, eigene Ansätze zu entwickeln. Slogans wie «Es kommen die falschen Ausländer!» bringen uns allerdings auch nicht weiter.

«Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse»


Mit dem Slogan «Klimaerwärmung stoppen. Bevor alles in Schutt und Aeschi liegt.» stichelt die SP gegen SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Könnte da der Schuss nach hinten losgehen?

Gewisse Leute freuen sich über diesen Dreh, andere finden ihn plump. Ich musste beim erstmaligen Lesen schmunzeln – für etwa zwei Sekunden. Aber klar: Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse, und die Klickmedien werden willfährig mitmachen.

Werber Dennis Lück, der die Kampagne für die Schweizer SP erarbeitet hat, war für die SPD in Deutschland tätig, als Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Lässt sich Erfolg über die Landesgrenzen hinweg kopieren?

Olaf Scholz wurde gewählt, weil er am glaubwürdigsten wirkte. Daran hatte die Kampagne ihren Anteil. Aber diese Fokussierung auf einen einzigen Kopf gibt es in der Schweiz nicht. Der Wahlkampf hierzulande gleicht einem Jekami. Ich gehe in diesem Jahr von rund 5000 Kandidatinnen und Kandidaten aus für die nationalen Wahlen.

Welche Rolle spielt eine nationale Dachkampagne für den Erfolg bei Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden?

Ich bin weder Defätist noch Zyniker, aber die Durchschlagskraft von nationalen Parteikampagnen ist sehr, sehr bescheiden. Machen wir die Milchbüchleinrechnung: Vom Wahlkampfbudget der SP in Höhe von 1,6 Millionen Franken geht etwa ein Drittel in die französischsprachige Schweiz, bleibt also noch etwa eine Million für die Deutschschweiz, und das für eine Zeitspanne von rund zwei Monaten. Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Grossverteiler, Mobilfunkanbieter, Lebensmittelhersteller, Kleidermarken haben x-fach grössere Budgets als die Parteien.

«Die Kampagne der nationalen Partei wirkt auch gegen innen»


Wenn die Wirkung so bescheiden wäre, wie Sie behaupten, warum setzen die nationalen Parteien dennoch auf so aufwendige Kampagnen?

Die geringe Durchschlagskraft betrifft die breite Werbewirkung. Aber eine solche Kampagne wirkt natürlich auch gegen innen. Die nationale Partei geht voran und leistet Vorarbeit für die kantonalen und kommunalen Parteien, welche die Kampagnenelemente übernehmen und auch für ihren Wahlkampf verwenden können.

Das meint also Dennis Lück, wenn er sagt: «Eine Partei ist eine Marke, die überall gleich auftreten muss»?

Genau. Aber das gilt auch für den Inhalt einer Kampagne. Wenn eine Partei radikal auf den Kern ihrer Marke setzt und nur jene Themen systematisch bewirtschaftet, bei denen sie von den Leuten als kompetent eingestuft wird, hat sie Chancen, zuzulegen. Aber in einer föderalistischen, von unten gewachsenen Parteienlandschaft wird sich ein Markenbewusstsein nie komplett durchsetzen.

Dieses Interview erschient zuerst und (in einer leicht kürzeren Version) im Online-Magazin «Persönlich». Die Fragen stellte Nick Lüthi. 

Was Kantonsbilanz, aktuelle Form und die Zürcher Wahlen für die «Eidgenössischen» bedeuten können


Dieselbe Grafik zum Herunterladen: Kantonsbilanz (PDF)

Die kantonalen Wahlen sind durch. (In AR konnte am 16. April ein Sitz im Kantonsrat noch nicht vergeben werden. Es kommt am 14. Mai zu einem zweiten Wahlgang. Konkret geht es um den Wahlkreis Rehetobel. Gewählt wird dort nach Majorz.) Die eidgenössischen Wahlen werden in rund sechseinhalb Monaten stattfinden. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um eine Einschätzung vorzunehmen. Als Basis dienen

– die Kantonsbilanz (siehe oben);
– die aktuelle Form;
– die Umfragen;
– der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen.

Ein zentraler Aspekt, der bei fast jeder Einschätzung vergessen geht, wird ganz am Schluss angeschnitten.


A) Die Kantonsbilanz

Nach 25 Kantonalwahlen konnte die GLP am meisten an Sitzen zulegen, gefolgt von den Grünen. FDP, Die Mitte und SP verloren alle mehr als 40 Sitze. Gewichtet man die Resultate nach der Grösse des jeweiligen Kantons wird das Bild klarer: Die GLP legt um rund 2.5 Prozentpunkte zu, die Grünen um etwa 1.2 Prozentpunkte. Die FDP und Die Mitte verlieren je etwa 1 Prozentpunkt, die SP büsst 2 Prozentpunkte ein.

Zusammenstellung: Tamedia. Leider fehlen die Resultate des Kantons Tessin, die ich hier nachliefere:
SVP: +3.4%, SP: -1.2%, FDP: -1.5%, Mitte: -0.1; Grüne: -1.2%, GLP: +1.6. 


B) Die aktuelle Form

Nach einer langen Baisse präsentiert sich die SVP in einer ausgezeichneten Verfassung: Bei fünf von sechs kantonalen Wahlen in diesem Jahr konnte sie zulegen, in Genf, Luzern und im Tessin um je 3.4 Prozentpunkte. Positiv fällt die Frühlingsbilanz auch für die GLP aus. Einzig in Zürich, dort, wo die Wiege dieser Partei steht, hat sie 0.2 Prozentpunkte verloren. Auf der anderen Seite der Skala stehen die Grünen, die überall Federn lassen mussten. Die grüne Welle begann 2017 in der Westschweiz und ebbte im letzten Jahr ab, allerdings ist der Rückgang in Prozentpunkten nie so markant wie der Zugewinn, den die Partei vor vier Jahren praktisch in allen Kantonen machen konnte.

Die Frühlingsbilanz in Sitzen:
– SVP: + 13 Sitze
– GLP: + 8
– Die Mitte: +/- 0
– SP: +/- 0
– Grüne: -9
– FDP: -11 Sitze

Berücksichtigt wurden dafür die Kantone ZH, BL, GE, LU, TI und AR, wo seit Februar kantonalen Wahlen stattfanden. 


C) Die Umfragen

Es muss wieder einmal erwähnt werden: Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Prognosen. Was seit geraumer Zeit auffällt: Sie werden von grossen Medienhäusern intensiver genutzt und von vielen Medien überinterpretiert. Tatsache ist, dass die meisten Abweichungen innerhalb des statistischen Fehlerbereichs – auch Stichprobenfehler genannt – liegen.

D) Der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen

Die Sehnsucht, den Ausgang der eidgenössischen Wahlen weit im Voraus «lesen» zu können, ist schon lange gross. Das Interpretieren ersetzt die anspruchsvollere Auseinandersetzung mit politischen Themen und ist für die Medien attraktiver. Der Fachbegriff dazu lautet «Horse Race Journalism».

Es ist tatsächlich so, dass die Resultate der Kantonswahlen in Zürich, die jeweils zwischen sechs und acht Monate vor den «Eidgenössischen» stattfinden, ein guter Gradmesser sind. Sie nehmen die Tendenz vorneweg, nicht aber das Ausmass, wie diese Zusammenstellung zeigt:


Die Resultate der kantonalen Wahlen in Zürich vom 12. Februar zeigen, dass sich die Parteistärken zwischen +0.45 und -0.33 Prozentpunkten veränderten, also im MicroMü-Bereich. Die einzige Ausnahme sind die Grünen, die ein Minus von 1.48 Prozentpunkten hinnehmen mussten.

Von den Grünen ausgenommen, taugen die «Trends» der Zürcher Wahlen 2023 also kaum.


Fazit

Wo stehen also die Parteien Mitte April? Der SVP wird am 22. Oktober ein Erstarken zugetraut, nachdem sie vor vier Jahren 3.8 Prozentpunkte verloren hatte. Ihr kommt entgegen, dass das Thema Ausländer/Migration schon seit Monaten hoch gehängt wird. Das mobilisiert ihr Lager weit überdurchschnittlich. Bei allen anderen Parteien wäre eine Prognose sehr mutig.

Wenn es einen Hitzesommer gibt, drehen die Grünen vermutlich ihren Negativtrend, den sie in diesem Frühling einfingen, wieder ins Plus. Jedes andere Mega-Thema hat die Kraft, das Wahljahr 2023 aufzumischen.

Und damit zu einem zentralen Punkt, den die meisten Journalistinnen und Beobachter vergessen: die Ständeratswahlen. Umfragen werden jeweils schweizweit gemacht, es geht aber lediglich um Parteistärken. Was im Kampf um die Sitze der kleinen Kammer passiert, wird nicht abgebildet. Dabei wiegt ein Sitz im Ständerat vier Sitze im Nationalrat auf, Verschiebungen haben es also in sich.

In diesem Wahljahr ist die Ausgangslage vorab für die SP herausfordernd: Es ist gut möglich, dass sie ihre Ständeratssitze in den Kantonen Bern (bislang: Hans Stöckli), Solothurn (Roberto Zanetti), Tessin (Marina Carrobio) und St. Gallen (Paul Rechsteiner) verliert. Ein Zugewinn dürfte es hingegen in der Waadt geben: Dort kandidiert SGB-Präsident und Nationalrat Pierre-Yves Maillard, währenddem die beiden Bisherigen, Adèle Thorens (Grüne) und Olivier Français (FDP) aufhören.

 

Das_neue_Bundespalament_2023_12 by_LeTemps

Ein Sieg für die Satire

Gestern hat die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) einen wichtigen Fall entschieden: Sie wies eine Beschwerde gegen die SRF-«Late-Night-Show» von Dominic Deville vom 22. November letzten Jahres ab.

Damals setzte sich die Sendung praktisch über die ganze Länge mit den Gegnern der Konzernverantwortungsinitiative auseinander. Deville sparte nicht mit irren Übertreibungen und beissendem Spott – Satire eben.

Eine Woche vor der Abstimmung war deren Ausgang offen, die Nerven lagen blank, beide Lager hatten sich schon seit Monaten eine wüste Abnützungsschlacht geliefert. Devilles Satire-Sendung lieferte neue Munition.

Die Gegner schossen aus allen Rohren, SRF erhielt eingeschriebene Briefe, man wollte die Chefs im «Leutschenbach» an die Kandare nehmen und Satire reglementieren, jawohl, reglementieren! Der Fernsehfabrik am Stadtrand Zürichs drohte noch mehr Bürokratie.

Die «Late-Night-Show» sei Propaganda und werde das Abstimmungsergebnis beeinflussen, wurde wütend proklamiert. Das ist absurd: Zum einen ist das Publikum am Sonntagabend mündig, um dieses Satire-Format richtig einschätzen zu können. Zum anderen ist der Meinungsbildungsprozess bei Abstimmungsvorlagen ausgesprochen komplex – ein paar derbe Nummern bringen die Leute nicht dazu, statt einem Nein ein Ja auf ihren Stimmzettel zu schreiben. Zudem ist Dominic Deville eine Kunstfigur, wie jetzt auch die UBI feststellte, und kein Journalist, der ein News- oder Hintergrundformat moderiert.

Satire darf nicht alles, klar. Sie muss aber weder sachgerecht, noch ausgewogen sein. Vielmehr muss sie wehtun – richtig wehtun. Ihr kennt den Schmerz, wenn man mit Merfen eine offene Wunde desinfiziert. Genau so.

Es geht bei der Beurteilung nicht darum, ob man Dominic Deville und seine Sendungen gut oder schlecht findet. Es geht auch nicht darum, ob man für oder gegen die Konzernverantwortungsinitiative war. Es geht lediglich um diese eine Sendung. Punkt.

Die einstimmige Entscheidung der achtköpfigen UBI ist ein Sieg für die Satire. Sie stärkt Deville und andere Satiriker in diesem Land. Dass Realsatire die Satire längst überholt hat, ist eine andere Geschichte.

Zum Nachschauen: Die Sendung vom 22. November 2020.

Die Wahlen im Aargau als erster Formtest

Politisch Interessierte blicken am Sonntag gespannt auf den Kanton Aargau: Er bildet im Kleinen die Schweiz ab. Die Parteistärken im Aargau korrelieren mit denjenigen auf nationaler Ebene. Das macht die Parlamentswahlen (Grosser Rat) zum ersten grossen Formtest für die Parteien. Unter besonderer Beobachtung ist die CVP: Sie tritt mit dem Zusatz «Die Mitte» an und hat prominente Ex-BDP’ler auf ihren Listen. Damit nimmt sie die Fusion der beiden Parteien, die auf nationaler Ebene erfolgen soll, vorweg.

Laut einer Faustregel hallen die Ergebnisse der Nationalratswahlen jeweils rund ein Jahr nach. Die Ausgabe vom 20. Oktober 2019 gilt als ist historisch, weil die Grünen nicht weniger als 6.1 Prozentpunkte zulegen konnten. Auch der Zuwachs der Grünliberalen um 3.2 Prozent ist spektakulär, während auf der Verliererseite die SVP mit einem Minus von 3.8 Prozent ins Auge sticht.

In diesem Jahr fanden bislang kantonalen Wahlen in St. Gallen, Thurgau, Schwyz, Uri und Schaffhausen statt. Damit bestätigt sich die «Nachhallen»-These, wie die Grafik von schlemihl.org zeigt:

Die Grossratswahlen im viertgrössten Kanton werden also erneut zum ersten grossen Formtest für alle Parteien. Viel Aufmerksamkeit zieht wie gewohnt die SVP auf sich. Sie sei eine ganz normale Partei geworden, bilanzieren einzelne Beobachter nach der Abstimmungsschlappe gegen die Begrenzungsinitiative von Ende September. Übersetzt heisst das: Im Aargau könnte sie erstmals seit 20 Jahren wieder unter die 30-Prozent-Marke fallen. Die Tamedia-Zeitungen sprechen von einer «Angstwahl» für die SVP und ihren Präsidenten, Nationalrat Andreas Glarner (siehe auch Grafik von Tamedia).

Nach elf Jahren streicht die BDP die Segel. Die Partei, die in ihrer besten Phase rund 6 Prozentpunkte und Fraktionsstärke erreicht hatte, tritt bei den Grossratswahlen nicht mehr an. Von ihren vier aktuellen Grossratsmitgliedern wechselten zwei im Frühling zur CVP: Maya Bally (Hendschiken, Bezirk Lenzburg) und Michael Notter (Niederrohrdorf, Bezirk Baden). Die beiden anderen (Marcel Bruggisser und Fabian Hauser) beenden die Legislatur in der angestammten EVP-BDP-Fraktion.

Für die CVP bedeutet der Zuwachs um zwei BDP’ler eine Herausforderung. Sie will ihre 19 Sitze «halten», wie Parteipräsidentin Marianne Binder bei einem «Tele-M1»-Talk erklärte.

Die Aargauer Kantonalsektion nimmt im Prinzip vorweg, was auf nationaler Ebene aufgegleist ist: die Fusion mit der BDP. Die neue Partei namens «Die Mitte» soll breitere Kreise ansprechen und so zu einem Wachstum führen. Ein gutes Abschneiden der CVP-Die Mitte im Aargau würde diesem Projekt Schub verleihen.

Abschliessend die Entwicklung der Parteistärken seit 2012:

Dieselbe Grafik gibt es zum Herunterladen: Aargau: Vergleiche Grossrats- und Nationalratswahlen (PDF)