Ein Appell zum «zäme Schnurre»

Publiziert am 23. Oktober 2023

Ein Plus von drei Prozentpunkten und neun Sitzen im Nationalrat ist in der Schweiz ein Erdrutsch. (Korrektur vom 25. Oktober: Weil das Bundesamt für Statistik die Parteistärken am Wahltag falsch zählte, beträgt das Plus der SVP jetzt nur noch 2.3 Prozent). Für progressive, liberale und linke Kreise ist der Wahlerfolg der SVP schwer zu verdauen. Sie hadern. Ein Blick zurück würde ihnen helfen, um dieselben Fehler nicht immer zu wiederholen.

Bis Ende der Achtzigerjahre war die SVP eine biedere 10-Prozent-Partei. 1992 pflügte die Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Parteienlandschaft um. Das knappe Nein war ein Triumph für die national-konservativen Kräfte, der rasante Aufstieg der neuen SVP begann.

Das Land war damals verzagt und kämpfte gegen eine hartnäckige Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit plagte die Menschen. Erst ab 1998, also noch vor dem Inkrafttreten der Bilateralen Verträge, begann die Wirtschaft wieder zu wachsen.

Seit 20 Jahren ist die SVP mit Abstand die grösste Partei. Ihre Wählerstärke hat sich inzwischen bei 25 bis 29 Prozentpunkten eingependelt. Das ist nicht gottgegeben.

Wer SVP wählt, wünscht sich die Schweiz von früher zurück. Wer SVP wählt, hat Angst vor der Zukunft. Dass viele Leute die Zuwanderung als bedrohlich empfinden, ist offensichtlich. Die SVP Schweiz spielte in ihrer Wahlkampagne erneut die Karte «Ausländer raus!» und duldet Brandstifter in den eigenen Reihen. Sie bewirtschaftet Probleme, steht aber abseits, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu erarbeiten.

Wer der SVP einen Teil ihrer Wählerschaft wieder abluchsen will, muss besser sein, sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren und überzeugend kommunizieren. In meiner Beobachtung passiert zumindest im städtischen Raum etwas anderes: SVP-Wähler werden belächelt, ausgegrenzt und nicht selten dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, eine braune Gesinnung zu haben. Die Schlagworte sind oftmals genauso dumpfbackig wie diejenigen der Volkspartei.

Vor wenigen Wochen kam ich im Politforum Bern mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er sei, gestand er mir im Flüsterton, Mitglied der SVP. Das dürfe er nicht laut sagen, sonst werde er sofort an den Pranger gestellt.

Auf Twitter lärmt seit Jahren ein Mob, der sich an Reizfiguren wie Andreas Glarner oder Roger Köppel abarbeitet. Das generiert viele Likes und peitscht andere an, ins gleiche Horn zu stossen. Die SVP’ler, zahlenmässig deutlich schwächer, schlagen zurück. Der Kurznachrichtendienst setzt den Ton, der in alle anderen Kanäle und Medien schwappt. Das Klima wird noch giftiger.

In progressiven, liberalen und linken Bubbles wurde es zum Volkssport, alle SVP-Mitglieder pauschal auszugrenzen und mit Gülle zu überschütten. Das halte ich für kontraproduktiv. Genauso wie es ein Fehler war, Christoph Blocher 2007 die Wiederwahl im Bundesrat zu verweigern. Das ist bis heute ein Trauma für die Partei.

Ein Sprichwort aus China sagt: «Die Hand, die du nicht abhacken kannst, solltest du schütteln.» Statt sich stets nur in den eigenen Kreisen zu bewegen und Andersdenkende zu diffamieren, müsste man auf SVP-Wähler zugehen und den Dialog mit ihnen suchen. «Zäme schnurre» ist die Voraussetzung, um Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Ein nächster Schritt könnte sein, dass einzelne SVP-Wähler sich von ihrer Partei abwenden.

Wächst die Fundamentalopposition noch weiter, droht der Stillstand, aber das können wir uns angesichts der ungelösten Probleme nicht leisten.

One Reply to “Ein Appell zum «zäme Schnurre»”

  1. In Ergänzung zum meinem Posting verbreite ich hier einen Teil der aktuellen «Magazin»-Kolumne von Philipp Loser. Es ist just der Teil, der sich um die SVP dreht.

    1. Die SVP bleibt die SVP

    Egal wie normal die grösste Partei der Schweiz wird (und unser Umgang mit ihr), egal wie weit entfernt die aggressiven Neunzigerjahre und der Furor von Christoph Blocher – die SVP kann nicht anders. Sie bestreitet Wahlen, wie sie auch sonst Politik macht: binär. Du bist für uns oder du bist gegen uns. Niemand ist aggressiver im Wahlkampf, niemand rücksichtsloser – die Kritik der Antirassismuskommission an den «hetzerischen» und «rassistischen» Wahlkampfmotiven der Partei war nur ein Beispiel von vielen. Die Strategie der SVP ist in den vergangenen dreissig Jahren immer dieselbe geblieben: Wählt uns, sonst geht die Schweiz unter. Weil es der Partei immer um alles geht, ist in ihren Augen auch so gut wie alles erlaubt.

    2. Kulturkampf? Nä-ä

    Je länger der Wahlkampf dauerte, desto klarer wurde der Fokus der SVP auf die Zuwanderung. Ihr zweites grosses Thema, der «Gender-Wahn», interessierte niemanden. Gendersterne, geschlechtsneutrale Toiletten, Dragqueens, die Kinderbücher vorlesen – das sind Dinge, die kaum jemanden in der Schweiz wirklich aufregen. Im Sorgenbarometer von Sotomo kommen Kulturkampfthemen als zu lösende Probleme nicht einmal vor, man kann offensichtlich nicht jede Debatte aus dem Ausland einschweizern.

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