Diese Ja-Lawine kam nicht aus dem Nichts

Das ist historisch: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz ist eine linke Volksinitiative, die den Ausbau des Sozialstaats verlangt, mehrheitsfähig. Die Bürgerlichen und die Wirtschaftsverbände haben zu lange unterschätzt, wie populär die 13. AHV-Rente ist. Ein Abstimmungskommentar. 

Während Jahrzehnten war für die Schweizerinnen und Schweizer klar: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Bevölkerung. Sinnbildlich dafür steht die Abstimmung über eine sechste Ferienwoche, die das Volk 2012 mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatte. (Keiner der 23 Stände stimmte dafür.)

Nicht markant besser erging es der AHV-plus-Initiative: Sie wurde 2016 mit 59.4 Prozent Nein abgelehnt, bei immerhin fünf Ständen, die Ja stimmten (GE, JU, NE, VD und TI). Diese Initiative verlangte eine Erhöhung aller AHV-Renten um 10 Prozent.

Die AHV-plus-Initiative und die Initiative für eine 13. AHV-Rente, die eine Rentenerhöhung von 8.3 Prozent bedeutet, sind miteinander vergleichbar. Seit September 2016 ist in diesem Land offensichtlich etwas ins Rutschen geraten.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten ist zum Schluss gekommen, dass sie sich etwas gönnen darf: 58.2 Prozent und 15 Stände sagten Ja, die Stimmbeteiligung betrug 58.3 Prozent (siehe Grafik am Schluss dieses Postings.) Die Volksinitiative der Gewerkschaften kam nur durch, weil konservative Schichten der Mitte und der SVP mitgenommen wurden. Der Respekt vor hohen Mehrkosten ist geschwunden. Das Geld ist ja irgendwo vorhanden, glauben viele. Dieser Glaube kommt nicht von irgendwoher:

– Während der Pandemie schoss der Bund fast überall viel, viel Geld ein (insgesamt rund 30 Milliarden Franken).
– Das Budget der Armee wird bis 2035 auf 10 Milliarden Franken erhöht, also nahezu verdoppelt.
– Nachdem die raffgierigen Manager der Credit Suisse sich die letzten 20 Jahre nicht weniger als 42 Milliarden Franken Boni ausbezahlt hatten, ging das Licht der Grossbank aus. Der Bund versprach bei der Übernahme durch die UBS eine Defizitgarantie in Milliardenhöhe, die Schweizerische Nationalbank (SNB) ein Darlehen von bis zu 200 Milliarden Franken.

Angesichts solcher Summen scheinen 4 oder 5 Milliarden Franken, die die Rentenerhöhung pro Jahr kostet, verkraftbar.

Das Ja zur 13. AHV-Rente ist keine Überraschung. Eine Mehrheit hat allerdings nicht aus Solidarität mit den Bedürftigen Ja gestimmt, sondern aus Egoismus. Das simple Motto: Jetzt bin ich an der Reihe!

Die Eliten der bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände haben die Popularität dieses Anliegen zu lange unterschätzt. Sie hätten es im Parlament mit einem Gegenvorschlag entscheidend entschärfen können. Doch im Getöse des eidgenössischen Wahljahrs vertraute man auf den Knick der Volksinitiativen, die praktisch immer stark an Zustimmung verlieren, je näher der Abstimmungstermin rückt.

Im breiten Ja-Lager glaubte man bis zum Schluss an den Abstimmungserfolg, seine Kampagne war druckvoll und durchdacht. Der Subtext – zum 13. Monatslohn ist eine 13. AHV-Rente nur folgerichtig – entfaltete seine Wirkung. Die guten Umfrageresultate motivierten viele Leute erst recht, sich zu beteiligen, das individuelle Engagement war riesig.

Wenn in einem Steilhang der Schnee ins Rutschen kommt, entsteht eine Lawine. Genau das ist passiert in den letzten Monaten. Man muss allerdings nicht Bergführerin sein, um zu wissen: Lawinen kommen nicht aus dem Nichts. Es braucht Wind, viel Neuschnee oder einen markanten Temperaturanstieg, bis sie ins Tal donnern.

Das Ja ist ein Triumph für die Gewerkschaften: Sie hatten im Herbst 2022 das Referendum zur AHV-21-Reform knapp verloren, womit ihre Vetomacht gebrochen schien. (Es ging dabei u.a. um ein höheres Rentenalter der Frauen.) Jetzt sind sie zurück, Beobachter sprechen von einer «Zeitenwende» in der Sozialpolitik. Noch nie hat das Stimmvolk eine Volksinitiative, die den Sozialstaaat ausbaut, gutgeheissen. Es ist möglich, dass nun das frivole Geldausgeben weitergeht. Bereits sind neue Forderungen auf dem Tisch, dabei ist völlig unklar, wie die 13. AHV-Rente finanziert werden soll.

Foto: all-in.de
Grafik: Tamedia 

 

Nachtrag vom 5. März: Die Nachbefragung von Tamedia/LeeWas:

«Es ist richtig, wenn eine Partei auf Themen setzt, die sie schon lange bewirtschaftet»

Gestern stellte die SP Schweiz ihre Dachkampagne für die nationalen Wahlen im Oktober vor. Unterstützt wurde die Partei vom mehrfach preisgekrönten Werber Dennis Lück, der auch schon bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz mitwirkte. Auf Anfrage des Online-Magazins «Persönlich» habe ich die aktuelle Kampagne beurteilt. Das Fazit ist mehrheitlich positiv, nachdem ich vor Jahren die damaligen Arbeiten hart kritisiert hatte. 


Mark Balsiger, was ist Ihr erster Eindruck der SP-Kampagne für die Parlamentswahlen im Herbst?

Politische Werbung erzielt Wirkung, wenn sie die Kernanliegen einer Partei auf ein Visual und eine Botschaft eindampfen kann. Es geht um die maximale Reduktion. Das gelingt der SP mit dem Slogan «Wir ergreifen Partei» und den drei Themen Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft sehr gut.

Wie wirken die visuellen Elemente der Kampagne auf Sie?

Mir gefallen die Schwarz-Weiss-Bilder. Die Visuals sind klassisch und kommen aufgeräumt und ohne Schnickschnack daher. Ich finde es schade, dass man weiterhin Grossbuchstaben verwendet. Damit leidet die Lesbarkeit. Das zeigen auch Erhebungen. Wenn der Text über drei oder vier Zeilen läuft, dann wirken Grossbuchstaben klobig.

Inhaltlich setzt die SP im Wahlkampf auf Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft. Sind das die richtigen Themen?

Die Themenkonjunktur spielt für die SP. Die soziale Sicherheit ist bei der Bevölkerung wieder wichtiger als früher. Zudem setzt die SP auf Themen, die sie schon lange bewirtschaftet. Damit hat sie sich schon Resonanzräume erarbeitet und muss jetzt nur noch hineinrufen. Das Echo kommt sofort, weil die SP mit Recht sagen kann, dass sie die Gleichstellungspartei sei und die schwindende Kaufkraft vielen Menschen Sorgen bereitet.

«Das Thema Klimaschutz kann die SP im Wahlkampf nicht den Grünen überlassen»

Mit dem Thema Klimaschutz tritt die SP aber ins Gärtchen der Grünen. Ist das für den Wahlkampf eine Chance oder ein Risiko?

Dass die Grünen vor vier Jahren satte 6,1 Prozentpunkte zulegen konnten, machte viele SP-Mitglieder muff, weil sie ja Klimaschutz genauso engagiert propagiert hatten. Die Nachwahlbefragung zeigte dann, dass ein Teil der SP-Wählerinnen zu den Grünen übergelaufen waren und dass die Grünen überdurchschnittlich viele Junge und Erstwähler abholen konnten. Klimaschutz zählt laut Umfragen weiterhin zu den drei wichtigsten Themen, also kann es sich die SP schlicht nicht erlauben, ihn im Wahlkampf links liegen zu lassen.

Andere Themen, die andere Parteien stark besetzen, etwa die Migrationspolitik, lässt sie im Wahlkampf links, respektive rechts, liegen. Ist das klug, hier das Feld der SVP zu überlassen?

Mit diesem Thema wäre kein Blumentopf zu gewinnen, was übrigens für alle Parteien ausser der SVP gilt. Also wird es dethematisiert, eine übliche Strategie. Migration ist eine ausgesprochen komplexe Herausforderung, und langfristig werden die Parteien nicht darum herumkommen, eigene Ansätze zu entwickeln. Slogans wie «Es kommen die falschen Ausländer!» bringen uns allerdings auch nicht weiter.

«Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse»


Mit dem Slogan «Klimaerwärmung stoppen. Bevor alles in Schutt und Aeschi liegt.» stichelt die SP gegen SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Könnte da der Schuss nach hinten losgehen?

Gewisse Leute freuen sich über diesen Dreh, andere finden ihn plump. Ich musste beim erstmaligen Lesen schmunzeln – für etwa zwei Sekunden. Aber klar: Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse, und die Klickmedien werden willfährig mitmachen.

Werber Dennis Lück, der die Kampagne für die Schweizer SP erarbeitet hat, war für die SPD in Deutschland tätig, als Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Lässt sich Erfolg über die Landesgrenzen hinweg kopieren?

Olaf Scholz wurde gewählt, weil er am glaubwürdigsten wirkte. Daran hatte die Kampagne ihren Anteil. Aber diese Fokussierung auf einen einzigen Kopf gibt es in der Schweiz nicht. Der Wahlkampf hierzulande gleicht einem Jekami. Ich gehe in diesem Jahr von rund 5000 Kandidatinnen und Kandidaten aus für die nationalen Wahlen.

Welche Rolle spielt eine nationale Dachkampagne für den Erfolg bei Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden?

Ich bin weder Defätist noch Zyniker, aber die Durchschlagskraft von nationalen Parteikampagnen ist sehr, sehr bescheiden. Machen wir die Milchbüchleinrechnung: Vom Wahlkampfbudget der SP in Höhe von 1,6 Millionen Franken geht etwa ein Drittel in die französischsprachige Schweiz, bleibt also noch etwa eine Million für die Deutschschweiz, und das für eine Zeitspanne von rund zwei Monaten. Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Grossverteiler, Mobilfunkanbieter, Lebensmittelhersteller, Kleidermarken haben x-fach grössere Budgets als die Parteien.

«Die Kampagne der nationalen Partei wirkt auch gegen innen»


Wenn die Wirkung so bescheiden wäre, wie Sie behaupten, warum setzen die nationalen Parteien dennoch auf so aufwendige Kampagnen?

Die geringe Durchschlagskraft betrifft die breite Werbewirkung. Aber eine solche Kampagne wirkt natürlich auch gegen innen. Die nationale Partei geht voran und leistet Vorarbeit für die kantonalen und kommunalen Parteien, welche die Kampagnenelemente übernehmen und auch für ihren Wahlkampf verwenden können.

Das meint also Dennis Lück, wenn er sagt: «Eine Partei ist eine Marke, die überall gleich auftreten muss»?

Genau. Aber das gilt auch für den Inhalt einer Kampagne. Wenn eine Partei radikal auf den Kern ihrer Marke setzt und nur jene Themen systematisch bewirtschaftet, bei denen sie von den Leuten als kompetent eingestuft wird, hat sie Chancen, zuzulegen. Aber in einer föderalistischen, von unten gewachsenen Parteienlandschaft wird sich ein Markenbewusstsein nie komplett durchsetzen.

Dieses Interview erschient zuerst und (in einer leicht kürzeren Version) im Online-Magazin «Persönlich». Die Fragen stellte Nick Lüthi. 

Die Schweizer Demokratie besteht den Stresstest

Demokratie ist anspruchsvoll. Die Leute, die in der Schweiz stimmberechtigt sind, können bei jeder Vorlage abwägen: Sie haben rationale, emotionale, persönliche und übergeordnete Argumente zur Auswahl.

Demokratie ist anstrengend, wenn der Abstimmungskampf laut, irrational und hysterisch geführt wird. Das war beim Covid-19-Gesetz ausgeprägt der Fall. Während Monaten lag der Fokus bei den Gegnern, ihrer Wut und ihrem Egoismus. Jeder Pups wurde verstärkt und tönte alsbald wie ein Donnergrollen.

Es ist umso bemerkenswerter, wie abgeklärt eine stille Mehrheit dem Covid-19-Gesetz zustimmte. Der Ja-Anteil beträgt 62 Prozent, liegt also noch etwas höher als beim ersten Referendum im Juni, als er 60.2 Prozent erreichte. Stimmten damals noch acht Kantone Nein, trifft das dieses Mal nur noch auf Schwyz und Appenzell Innerrhoden zu. Von einer Ausnahme abgesehen kippten also die Ur-Kantone von einem Nein im Juni zu einem Ja im November.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten entschied sich für ein Ja aus Vernunft, rationale und übergeordnete Argumente hat sie höher gewichtet. Es geht ihr um einen gemeinsamen Weg aus der Pandemie. Die Stimmbeteiligung kletterte auf 65.7 Prozent, den vierthöchsten Wert seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971, was das Resultat noch stärker abstützt.

Eine deutliche Mehrheit glaubt daran, dass mit einer gesetzlichen Grundlage, mit Impfen statt Schimpfen und einem Covid-Zertifikat die Basis gelegt wird, um die Pandemie zurückzudrängen und schliesslich zu kontrollieren. Die Coronapolitik der Behörden wurde zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten direktdemokratisch legitimiert, die Schweizer Demokratie hat einen Stresstest bestanden.

Dass das Krisenmanagement von Bund und Kantonen keine guten Noten verdient, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Es hat Tradition, dass Entscheidungen an der Urne respektiert werden. Dass nun eine junge Organisation das Abstimmungsergebnis als «nicht legitim und für uns nicht bindend» bezeichnet, zeigt auf, wie masslos und unschweizerisch sie ist.

Trotz allem ist es wichtig, dass die Verlierer von heute nicht ausgegrenzt werden. Längst nicht alle, die Nein stimmten, sind Corona-Leugnerinnen und Verschwörungstheoretiker. Unsere Gesellschaft muss die Kraft und den Willen haben, sich zusammenzurotten und den Feind zu bekämpfen. Der Feind ist das Virus.

Wie das Ja zum CO2-Gesetz vergeigt wurde

Am «Super Sunday» im Herbst letzten Jahres triumphierte die urban-fortschrittliche Schweiz: Nein zur Kündigungsinitiative und zum Jagdgesetz, Ja zum Vaterschaftsurlaub. Heute war die ländlich-konservative Schweiz an der Reihe und versenkte die beiden Agrarinitiativen und das CO2-Gesetz. Letzteres ist bitter und selbstverschuldet. Der breiten Ja-Allianz, die vom WWF bis zum TCS und von den Grünen bis zu economiesuisse reichte, fehlten strategisches Geschick und Leidenschaft. Ein Abstimmungskommentar. 

Das Nein zum CO2-Gesetz brennt wie eine Ohrfeige. Es ist ein Desaster für Bundesrat und Parlament. Jetzt die laute und irreführende Kampagne der Gegner als Grund ins Feld zu führen, wäre billig. Die grossen Fehler unterliefen nämlich der breiten Ja-Allianz. Ich erwähne sechs Gründe, die zum Nein führten.

Die Terminierung:
Der Bundesrat hat Spielraum, welche Vorlage an welchem Tag zur Abstimmung kommt. Die beiden Agrarinitiativen auf denselben Tag wie das CO2-Gesetz festzulegen, war ein kapitaler strategischer Fehler. Weshalb? Beide Initiativen waren von Anfang an chancenlos, auch weil sie schlecht formuliert sind. Dass sie die ländlich-konservative Schweiz weit überdurchschnittlich mobilisieren, war klar. Der Bauernstand ist dort gut verwurzelt, mental stehen wir ihm nahe. Die Agrarinitiativen wurden auf dem Land (und in der Agglomeration) geschickt mit dem CO2-Gesetz verzurrt. Daraus bildete sich ein kompakter Nein-Block zu diesem «Zeugs aus der links-grünen Ecke».

Die Bundesrätin:
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Landesregierung hat Simonetta Sommaruga einen Kompass. Sie weiss, was sie will und sie arbeitet hart dafür, diese Ziele auch zu erreichen. Seit Langem war klar, dass die Abstimmung über das CO2-Gesetz in der bürgerlichen Mitte und von den Parteiunabhängigen entschieden wird. Eine Bundesrätin der FDP oder der Mitte (ex CVP bzw. BDP) hätte mit dieser Vorlage weniger Abwehrreflexe ausgelöst als SP-Umweltministerin Sommaruga.

Die Klimajugend:
Anfang 2019 hatte es die Klimajugend geschafft, die Klimakrise zum Thema Nummer 1 zu machen, was die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit und damit die Wahlen im Herbst desselben Jahres stark beeinflusste. Nachdem das Parlament im Herbst 2020 das komplett revidierte CO2-Gesetz mit überwältigendem Mehr guthiess, sprangen beim Referendum allerdings ein paar Regionalsektionen der Klimajugend auf. Dies, weil ihnen das Gesetz zu wenig weit geht. Sie machten sich damit zu nützlichen Idiotinnen von SVP, Hauseigentümerverband (HEV), Automobil Club der Schweiz (ACS), Auto Schweiz und Avenergy (vormals Erdölvereinigung). Für Behördenvorlagen ist ein Zangengriff – von rechts und links – Gift.

Am 21. Mai fand der internationale Aktionstag «Strike for Future» statt, also drei Wochen vor der Abstimmung. In der Schweiz konnte er an rund 100 verschiedenen Veranstaltungen 30’000 Menschen mobilisieren. Sie demonstrierten und disktutierten für eine bessere Welt. Im Manifest findet man aber keinen Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung zum CO2-Gesetz. Institutionelle Politik mag langsam, abgeschliffen und langweilig sein, bislang ist es der einzige Weg, um Veränderungen in Gesetze und die Bundesverfassung zu schreiben. Die Klimajugend fordert nicht nur viel mehr Tempo beim Klimawandel, sondern auch einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Das ist legitim, bloss muss sie sich jetzt vorwerfen lassen, zu wenig für ein Ja getan zu haben, ja dem Klima gar einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Die FDP:
Im Dezember 2018 war die FDP-Fraktion dafür verantwortlich, dass das erste CO2-Gesetz im Parlament abstürzte. Ein Aufschrei ging durch das Land, was der Kabarettist Michael Elsener flugs in einen Slogan goss: «FDP – Fuck the Planet.» Während der Tür-zu-Tür-Befragung der freisinnigen Basis im Frühjahr 2019 wurde Parteipräsidentin Petra Gössi bewusst, dass der Klimawandel enorm bewegt. Es folgte die Kurskorrektur: Während des Wahljahres verpasste sich die FDP, von den Delegierten abgesegnet, einen grünen Anstrich.

Das neue CO2-Gesetz ist umfassend und reglementiert in Teilen staatlich, kommt aber ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, Lenkungsabgaben und das Verursacherprinzip. Umfragen zeigen, dass die Basis des Freisinns bis am Schluss skeptisch blieb. Bloss mit einem «Fifty-fifty» der FDP war diese Abstimmung kaum zu gewinnen.

Die Kampagnen:
Mehreren Komitees standen mehrere Millionen Franken für ein Ja zur Verfügung. Die Absprachen innerhalb des Ja-Lagers waren ungenügend, den Kampagnen fehlte die Leidenschaft.

Stringente Kampagnen entstehen, wenn auf Basis von Meinungsumfragen und Fokusgruppen die besten Argumente herausgefiltert werden. Diese werden dann während Monaten mit einer überzeugenden Bildsprache vermittelt. Das blieb aus. Vielmehr wurde der Bevölkerung ein buntes Potpourri mit x verschiedenen Argumenten serviert, was zu Irritationen führte. Als der Fokus der Abstimmung schliesslich bei den Kosten angelangt war, war es zu spät. So hatte sich beispielsweise die Mär, dass die Landbevölkerung geschröpft wird, festgesetzt.

Die Kosten:
Die Strippenzieher im Hintergrund glaubten lange Zeit, dass diese austarierte Vorlage problemlos durchkommt. Die Allianz ist breit, die SVP von der Rolle, so glaubten sie. Dabei gab es drei Warnschüsse: In den Kantonen Solothurn, Bern und Aargau wurden in den letzten Jahren die kantonalen Energiegesetze abgelehnt: zweimal äusserst knapp (BE: 50.6%, AG: 50.9% Nein) einmal sehr deutlich (SO: 70.5% Nein). Von diesen Abstimmungsniederlagen hätte man lernen müssen, dass es in der Umsetzung, wenn es um die Kosten geht, eng wird. Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, denn: Energiethemen und Klimaschutz werden vom Volk gleich beurteilt.

Fazit:
Für 51.6 Prozent der Stimmenden* liegt der eigene Geldbeutel näher als ein solides CO2-Gesetz. Die bittere Erkenntnis dieses Abstimmungssonntags kennt die Politikwissenschaft schon lange: Der Ansatz nennt sich «Rational Choice». Allerdings war es eine Niederlage mit Ansage. Das Ja-Lager hat diese Abstimmung am Anfang zu wenig ernst genommen und schliesslich vergeigt. Bedenklich ist, dass damit einmal mehr eine Behördenvorlage scheiterte. Bis der dritte Entwurf eines CO2-Gesetzes vorliegen wird, verstreicht wieder wertvolle Zeit. Industrie und Wirtschaft traue ich zu, die Klimaziele zu erreichen. Beim Verkehr hingegen sieht es düster aus.

 

* Die Differenz Nein/Ja liegt bei 103’114 Stimmen. Die Stimmbeteiligung ist mit 59.7 Prozent sehr hoch.

Nachtrag am Abstimmungssonntag von 16.30 Uhr:
Der hochgeschätzte Politbeobachter Claudio Kuster brachte auf Twitter eben einen siebten Grund ins Spiel: Hätten sich SP, Grüne, Junge GLP und Operation Libero ebenso engagiert für das CO2-Gesetz engagiert, wie gegen das «vergleichweise belanglose» PMT-Gesetz, wäre es anders ausgegangen.

Nachtrag vom 14. Juni 2021:
Das Politologen-Duo LeeWas macht schon seit Jahren Nachabstimmungsbefragungen. Ihr Befund zum CO2-Gesetz kommt überraschend: 58 Prozent der 18- bis 34-Jährigen, zuweilen auch Generation Easyjet genannt, lehnten das Gesetz ab. Der höchste Ja-Anteil wiederum kommt von den Altersgruppe der über 65-Jährigen (mit 54 Prozent). Der komplette Bericht ist hier als PDF verlinkt.

Die Grafik aus den Tamedia-Zeitungen:

Es wäre der falsche Weg, jetzt ein Zeichen zu setzen

Das Leben normalisiert sich schrittweise, an Tischgesprächen geht es inzwischen wieder um Ferienpläne, Tinder und Kinder, die zahnen. Omnipräsent bleibt aber die Pandemie, die vorübergehend alles auf den Kopf gestellt hatte.

Am nächsten Sonntag stimmen wir über das Covid-19-Gesetz ab, das im Schatten der anderen vier Vorlagen steht. Wichtig ist es trotzdem, insbesondere wegen den Finanzhilfen für Künstlerinnen, Selbständige und Leute mit bescheidenen Einkommen.

Der Bundesrat managt die Corona-Krise seit Frühjahr 2020 auf Basis von Epidemiengesetz und Notrecht, das jeweils auf sechs Monate befristet ist. Das Parlament wiederum hat im letzten Herbst das neue Covid-19-Gesetz gutgeheissen und als dringlich erklärt, d.h. es ist seither in Kraft.

Mehrere Gruppierungen ergriffen das Referendum, weil ihnen die Macht des Bundesrats, die Verschuldung oder die Art der Pandemiebekämpfung missfällt. Deswegen können wir über das Covid-19-Gesetz abstimmen, und das ist gut so.

Das neue Gesetz verknüpft Teile, die nichts miteinander zu tun haben, zu einem Flickenteppich. Das entspricht nicht der reinen Lehre (hier die Einheit der Materie), aber erstens bleiben die politischen Rechte gewährleistet und, zweitens, ist die Schweiz noch immer in einer anspruchsvollen Lage.

Das Gesetz liefert die Basis, um Unternehmungen, Selbständige und Arbeitnehmer finanziell zu unterstützen. So sind beispielsweise die Kurzarbeitsgelder für schlecht Verdienende geregelt: Angestellte, die einen Monatslohn bis 3470 Franken haben, erhalten 100 Prozent ausbezahlt statt der üblichen 80 Prozent.

Die Vorgeschichte dieser Abstimmungsvorlage ist kurios und in der Schweizer Geschichte seit 1848 noch nie vorgekommen. Bei einem Nein würden die Finanzhilfen noch bis am 25. September weiterlaufen (ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes). Doch danach gäbe es eine Lücke. Bestehende Gesetze müssten stattdessen revidiert und dem Referendum unterstellt werden, um dasselbe Ziel zu erreichen. Wertvolle Zeit würde verstreichen, die finanzielle Unterstützung wäre vorübergehend blockiert, was zu tiefem Frust, Arbeitslosigkeit und Konkursen führte.

Unlängst an einem Tischgespräch, das sich um die Pandemie und das Covid-19-Gesetz drehte, bekannte jemand, Nein zu stimmen. «Damit will ich ein Zeichen setzen!», erklärte diese Person.

Es ist in der Tat so, dass der Bundesrat und die Kantone längst nicht alles richtig gemacht haben in den letzten 15 Monaten. Trotzdem mahne ich zur Vorsicht: Beim Abstimmen helfen Kopf und Herz deutlich zuverlässiger als negative Emotionen. Das gilt auch beim Covid-19-Gesetz.

Wer mehr Information möchte – seitens des Bundes und des Nein-Lagers:

Dossier des Bundes
Komitee «Covid-Gesetz Nein» (Freunde der Verfassung)

Virus-Kreation: Steven Götz, Bern. 

Was das CO2-Gesetz mit Appenzell zu tun hat

Seit einer Woche kursiert im Netz ein Videoclip über das C02-Gesetz, das eine alte Masche bedient: Angstmacherei. Autofahren werde ab dem Jahr 2030 verboten, wird da beispielsweise behauptet. Mit Verlaub, aber das ist Chabis.

Das C02-Gesetz, über das wir am 13. Juni abstimmen, kommt ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, das Verursacherprinzip und Lenkungsabgaben. Das ist liberal. Wer jeden Tag 200 Kilometer mit einem schweren SUV zurücklegt, bezahlt künftig jedes Jahr einige hundert Franken mehr. Wer Fahrrad fährt, erhält jeweils Ende Jahr Geld zurück. Wer viel fliegt, bezahlt mehr. Ein Beispiel: Anwalt Bucher (siehe Sujet am Ende dieses Postings) fliegt in diesem Jahr aus beruflichen Gründen viermal von Zürich nach Chicago. Das kostet seine Kanzlei zusätzlich 480 Franken. Wir dürfen vermuten, dass Herr Bucher wegen solchen Mehrkosten keine schlaflosen Nächte hat.

Die Hälfte der Flugticketabgabe und zwei Drittel der C02-Abgaben, die auf Benzin, Diesel, Heizöl und Gas erhoben werden, werden an die Bevölkerung zurückbezahlt; Kinder erhalten denselben Betrag wie Erwachsene (siehe Familie Baumgartner im Sujet unten). Menschen und Firmen mit einem kleineren C02-Fussabdruck haben Ende Jahr also mehr im Portemonnaie bzw. in der Kasse; es wird ihnen via Krankenkassenprämien zurückvergütet.

Die andere Hälfte der Flugticketabgabe geht in einen Klimafonds, der neu geschaffen wird. Mit diesem Geld werden beispielsweise das Gebäudeprogramm, Ladestationen für Elektroautos und Schutzbauten in den Bergen mitfinanziert. Es geht um Innovationen, die letztlich zu einer schrittweisen Dekarbonisierung führen.

Berechnungen der NZZ zeigen, dass Menschen mit bescheidenen Löhnen mehr profitieren als Gutverdienende. Leute aus Städten und Agglomerationen wiederum bezahlen mehr als solche aus Randregionen. Damit wäre eine weitere Mär, die die Gegner auftischen, entlarvt.

Ein weiterer Aspekt: Wie jedes andere Land ist auch die Schweiz von Erdöl und Erdgas abhängig. In den letzten zehn Jahren gaben wir 80 Milliarden Franken für den Import dieser beiden Rohstoffe aus. Pro Jahr entgehen uns also 8 Milliarden Franken an Wertschöpfung. Das soll nicht auf x Jahre so bleiben. Vielmehr geht es darum, einen immer grösser werdenden Anteil dieser Summe in der Schweiz selber zu investieren und die Wirtschaft schrittweise umzubauen. Utopie? Chabis, die findigen Köpfe und Unternehmungen sind längst daran. Sie brauchen aber noch einen kräftigen Schub. Das CO2-Gesetz hat ein paar Schwachstellen, ist aber insgesamt austariert und sozial. Glaubt man den Umfragen, steht es auf der Kippe.

Nötig ist es, weil die Schweiz 2015 zusammen mit 188 anderen Staaten das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet hat. Bis 2030 müssen wir es schaffen, den Ausstoss von Treibhausgas gegenüber 1990 zu halbieren. Die Schweiz ist nicht schlecht unterwegs, muss aber noch einen Gang höher schalten, um dieses Ziel zu erreichen. Klimaleugner gibt es inzwischen praktisch keine mehr, aber immer noch viele Leute mit einer «Fuck-the-Planet»-Einstellung.

Natürlich, die Schweiz rettet mit einem griffigen CO2-Gesetz das Weltklima nicht. Aber wir können doch nicht einfach am Strassenrand warten und mit hochgezogenen Augenbrauen auf die drei grössten CO2-Emittenten, die China, USA und Indien, zeigen. Stellen wir uns vor, die Appenzöller entscheiden an der nächsten Landsgemeinde, dass sie keine direkte Bundessteuer mehr erheben wollen. Ihr Anteil an den Einnahmen aller Kantone beträgt zurzeit gerade einmal 1,4 Prozent.

«Balsiger, schliiift’s?! Ein solcher Move würde den Appenzöllern nie in den Sinn kommen!»

Schon klar. Genauso wie Appenzell-Innerrhoden zur Schweiz gehört, gehört die Schweiz zur Weltgemeinschaft – beide müssen ihren Verpflichtungen nachkommen. Das Zauberwort heisst: Gemeinsinn.

Weitergehende Information: Das Dossier des Bundes «Co2-Gesetz und Klimaschutz» ist hier verlinkt.

Foto: appenzellerlinks.ch 

Ein dreistes Märchen zum Budget der Konzerninitiative

In Schweizer Abstimmungskampagnen kann selten mit der grossen Kelle angerichtet werden. Ausnahmen waren beispielsweise das EWR-Referendum (1992), der Betritt zur UNO (2002) oder die Weiterführung der Personenfreizügigkeit (2009). Bei der letztgenannten Vorlage wurden laut einer sotomo-Studie insgesamt 11.1 Millionen Franken ausgegeben (Pro und Contra).

«Big Money» ist auch bei der Konzernverantwortungsinitiative im Spiel, die am 29. November zur Abstimmung kommt. Die Zeitungen des Tamedia-Verbunds schreiben heute (hinter der Paywall), dass eine Rekordsumme in diesen Abstimmungskampf investiert werde (siehe Grafik unten). Laut den Additionen des Journalisten verfügen die Befürworter mit 13.25 Mio. Franken über ein deutlich höheres Budget als die Gegner mit 5.25 Mio. Franken.

Eine Zahl ist mir sofort ins Auge gestochen.

Es geht es um die Postwurfsendungen der Befürworter, in der Grafik als «Briefeinwürfe» bezeichnet, die 8 Mio. Franken verschlungen haben sollen.

Dröseln wir das auf:

In der Schweiz gibt es derzeit knapp vier Millionen Privathaushalte. Für eine Vollabdeckung braucht es gemäss der Post eine Auflage von knapp 4,4 Millionen Exemplaren. Die Zustellung kostet 639’400 Franken (siehe Printscreen am Schluss dieses Postings). Zusammen mit den Aufwendungen für den Druck kommen die 800’000 Franken, die von Tamedia genannt werden, grosszügig aufgerundet hin.

Der Journalist erwähnt aber, dass «mindestens zehn Briefwurfsendungen in der ganzen Schweiz» gemacht wurden. Man muss sich das einmal vorstellen: In den wenigen Monaten einer Abstimmungskampagne werden insgesamt zehn Mal in alle vier Millionen Haushaltungen Flyer und andere Drucksachen verteilt! Das wäre, als bekannte Referenz, zehnmal das «Extrablatt» der SVP!

Dass bei der KVI oder Unternehmensverantwortungsinitiative (UVI), wie sie auch genannt wird, Goliath gegen Goliath kämpft, ist schon seit Langem klar. Das Initiativkomitee konnte für sein Anliegen zahllose Spenden generieren. Dass es aber zehn verschiedene Postwurfsendungen in alle Haushaltungen des Landes finanzierte und durchzog, können wir als dreistes Märchen abbuchen. Nebst all den Irreführungen und Diffamierungen durch beide Lager ist das ein weiterer Tiefpunkt dieses Abstimmungskampfes.

Eine mehrfache Vollabdeckung wäre auch ausgesprochen ungeschickt gewesen: In den USA verzichtete das demokratische Präsidentschaftsduo Biden/Harris in diesem Jahr in den traditionell blau wählenden Gliedstaaten Kalifornien und New York weitgehend auf Wahlkampf. Vergleichbar präsentiert sich die Situation für das Ja-Lager der KVI: Die Westschweiz und Basel-Stadt sind «safe». Dort müssen die Stimmbürgerinnen und -bürger nicht mehr intensiv massiert werden. Vielmehr sind wegen dem Ständemehr «Swing Cantons» wie Basel-Landschaft oder Solothurn zentral.

Was in der Auflistung der Tamedia-Zahlen auch nicht stimmen kann, sind die Agenturkosten. Die genannten 200’000 Franken pro Lager sind ein schlechter Treppenhauswitz.

Die echten Kosten für alle Budgetposten könnten rechererchiert werden; mir fehlt die Zeit dazu.

Bei dieser Story ging es um Clickbaiting

Push-Nachrichten, News, Live-Ticker, Grafiken, Interviews, Reportagen, Kommentare, Einordnungen – schon seit Wochen fahren die Medien die Corona-Krise riesig. Dass sie einen soliden Job machen, notierte ich schon vor zwei Wochen. Es gibt allerdings auch immer wieder Ausreisser. Einer dieser Ausreisser greife ich hier exemplarisch auf.

Das ist die Frontseite des «SonntagsBlick». Derselbe «Aufmacher» ist auch beim Online-Portal blick.ch prominent platziert.

Die Schlagzeilen lassen keine Zweifel aufkommen, zumal sie mit einem Aufrufezeichen ergänzt sind. Der Lockdown bis Ende Sommer wird als Faktum dargestellt. (Nachtrag: Die kleingedruckte Oberzeile, also in diesem Fall «Stadt Zürich rechnet mit», wird von Medienschaffenden als «Mogelpackung» bezeichnet.)

Click, click, click – die Story dreht online gut, wie man dem im Medienjargon sagt. In den sozialen Medien wird sie kontrovers diskutiert. Ein Wort fällt dabei oft: «Panikmache.» Tatsache ist, dass der «Lockdown bis Ende Sommer!» auf einem internen Dokument basiert, das mehrere Szenarien beinhaltet.

Auf meine Nachfrage reagierte die Ringer-Medienstelle gestern Abend schriftlich: Es handle sich um «keine Zuspitzung», auf den Zusatz «Stadt Zürich rechnet mit» verweisend. Der Reporter, den ich persönlich nicht kenne, hatte sich bereits am Sonntagabend mit einer Twitter-Direktnachricht bei mir gemeldet. Er replizierte auf meine Kritik, die ich am Sonntagnachmittag mit einem Tweet kundtat. Diese Rechtfertigung weckte meine Neugierde.

Im Artikel wird aus einem vertraulichen Dokument von Schutz & Rettung Zürich zitiert. Diese Organisation umfasst Feuerwehr, Rettungsdienst, Zivilschutz, Einsatzleitzentrale und Feuerpolizei der Stadt Zürich sowie die Rettungsorganisationen des Flughafens Zürich. Ihr Lagebericht oder Teile davon fanden den Weg zum «Blick». Das nennt man Reporter-Glück. Als Kernstück für eine grosse journalistische Geschichte taugt ein solches Papier allerdings nicht.

Während Krisenzeiten ist es die Aufgabe solcher Organisationen, stetig mehrere Szenarien zu antizipieren, schriftlich festzuhalten und anderen Akteuren weiterzuleiten. Was sie schreiben, stimmt während dynamischen Krisen für den Moment. In der Schweiz weiss niemand, wie die Corona-Krise sich entwickeln wird. Für evidenzbasierte Prognosen ist es noch zu früh.

Damit zum zweiten Teil meiner Medienkritik: Der «Blick»-Reporter stützt sich auf einen veralteten Lagebericht ab. Er wurde am Dienstag, 24. März, verfasst, was im Artikel auch steht. Was dort aber nicht steht: Der Lagebericht wird täglich überarbeitet. Das hielt Schutz & Rettung auf Anfrage fest.

Der «Blick»-Mann stand im Verlaufe seiner Recherche nie in Kontakt mit der Medienstelle von Schutz & Rettung. Das ist fahrlässig. Korrekt und fair wäre es gewesen, sie für eine Stellungnahme anzufragen und die aktuelle Lage in Erfahrung zu bringen, idealerweise zeitnah zur Publikation, also am Samstag. Weder der Reporter noch die Ringier-Medienstelle beantworteten die Frage, weshalb er darauf verzichtet hatte.

Fazit: Auch in Krisenzeiten sollen Medien mit professioneller Distanz über die Arbeit der Behörden berichten. Es ist allerdings unabdingbar, dass sie sauber recherchieren und einordnen. Das war bei dieser Story nicht der Fall. Vielmehr ging es um das Bewirtschaften von Emotionen. Und es ging um Clickbaiting. Berufsethisch ist das Vorgehen des Reporters problematisch. Das vierseitige Dokument «Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» kann hier als PDF beim Berufsverband «impressum» heruntergeladen werden.

P.S.
«Blick»-Bashing hat eine lange Tradition. Mir ist das seit jeher zu einfach und ich halte fest, dass «Blick» viele ausgezeichnete Journalistinnen und Journalisten beschäftigt. Es gibt andere Medien und Sendungen, die ebenso fahrlässig recherchieren und halbgare Themen «hochjazzen», wie ich es in diesem Beispiel aufzeige. Einzelne Verfehlungen griff ich auf, etwa von der «Sonntags-Zeitung», der NZZ (über einen Leitartikel des Chefredaktors), der «Schweiz am Wochenende» oder der SRF-«Rundschau».

Der Wahlkampf wird hybrid

Auch heute Morgen standen ambitionierte Kandidatinnen und Kandidaten in den Bahnhöfen und verteilten Flyer. Sie tun das seit Wochen unermüdlich. Wer zusätzlich ein Schöggeli oder Öpfeli abgibt, kommt bei den Pendlern etwas besser an. Viele Flyer landen trotzdem auf dem Boden oder im Abfalleimer. Abends füttern die Kandidierenden ihre Social-Media-Kanäle – mit Fotos ihrer Flyeraktionen und dem x-ten Aufruf: «Jetzt wählen! Hugo Hugentobler zweimal auf Ihre Liste!» Die Postings sind austauschbar, die Schlagworte und Slogans und Köpfe auf den Flyern sowieso. Wer kann sich beim Ausfüllen des Wahlzettels noch an Hugentobler erinnern? Eben – willkommen in der Schlussphase des Wahlkampfs 2019.

Was die Kandidaten in ihrer fiebrigen Betriebsamkeit tun, basiert auf dem Prinzip Hoffnung. Werbung ist flüchtig, Wahlwerbung oftmals einfallslos und durchsetzt mit handwerklichen Fehlern, es fehlt das Geld, um eine druckvolle Kampagne zu führen. Wenn die politische Grosswetterlage nicht das Top-Thema der eigenen Partei in den Vordergrund geschoben hat, verpuffen die meisten Anstrengungen. Wissenschaftliche Erhebungen zeigen, dass traditionelle Wahlwerbung eine sehr bescheidene Wirkung hat.

Journalistinnen und Politbeobachter sind sich einig: der Wahlkampf 2019 war flau. Doch Hand aufs Herz: das waren die früheren Ausgaben auch. Die Gründe liegen auf der Hand: Das Milizsystem und die bescheidenen Kampagnenbudgets der Parteien setzen enge Grenzen, Volksabstimmungen sind wichtiger als Wahlen, die ausgeprägte Konsenskultur dämpft die Lust auf den Angriff. Die Ad-hoc-Allianzen im Parlament wechseln von Geschäft zu Geschäft – da will man es sich mit niemandem verderben.

Der grösste Aufreger im Wahljahr 2019 war das Wurmplakat der SVP, gefolgt von der CVP mit ihrer Irreführung der User auf Google – zwei Metathemen. Und sonst? Seit Januar ist der Klimawandel omnipräsent, allerdings ging die Debatte darüber nicht substanziell in die Tiefe. Andere Themen hatten keine Chance oder wurden bewusst links liegen gelassen, der Frauenstreik blieb die grosse Ausnahme. Er und die Kampagne «Helvetia Ruft» führten dazu, dass der Frauenanteil bei den Nationalratskandidaturen erstmals die 40-Prozent-Grenze übertrifft.

Dass der Wahlkampf flau ist, hat aber auch andere Gründe: Die «Selects»-Studien der Universität Lausanne zeigen seit 2007, dass die SVP jeweils rund 80 Prozent ihrer Basis an die Urne bringt. Bei allen anderen Parteien liegt diese Quote deutlich tiefer. Hier setzen sie an und kümmern sich vor allem um die eigene Klientel, zumal das Potenzial der Wechselwähler sehr bescheiden ist.

Die Generalsekretariate der grossen Parteien generierten Datenbanken mit allen Mitgliedern und Sympathisierenden im Land. Diese werden regelmässig postalisch und per E-Mail bedient, was Nähe schafft.

Die FDP macht «Door-to-door»-Wahlkampf (Foto oben), der dank Daten, die mit einer App stetig aktualisiert werden, zielgruppenspezifisch wird. Freisinnige klingeln nur dort, wo sie Leute antreffen, die der Partei und ihren Werten nahestehen.

Der Haustür-Wahlkampf erlebt also ein Comeback: Er wurde betrieben, als CVP, FDP und SP noch Milieuparteien waren und genau wussten, in welchen Quartieren sie ihre eigenen Leute finden. In der Schlussphase läuft das, was in US-Wahlkämpfen seit Jahrzehnten Standard ist: Telefon-Marketing, und zwar ausschliesslich bei Parteimitgliedern und Sympathisanten (Foto unten). «Get out the vote!», heisst die Devise.

Bei der ersten Wahlkampagne, die ich als Campaigner begleitete, 2002/2003 war’s, wiederholte ich einen Satz immer wieder: «Sammelt Adressen – postalisch und E-mail!» Der Wert von Daten ist erkannt, inzwischen werden sie als «das neue Gold» bezeichnet. Was heisst das für die Schweiz: Für die nationalen Parteien wird der datenbasierte Wahlkampf zum Standard. Aussenwerbung, Inserate, Banner, Standaktionen usw. verschwinden deshalb aber nicht. Vielmehr entwickelt sich eine hybride Form des Wahlkampfs.

Das A und O eines effektiven Personenwahlkampfs ist die präzise und personalisierte Ansprache der Wählersegmente, die einem gewogen sind, sowie von Bekannten und Nachbarn. Das funktioniert mit Newslettern, von Hand unterzeichneten Briefen, Facebook- und Instagram-Ads, kombiniert mit einem stetigen persönlichen Austausch. Der Dreiklang heisst Glaubwürdigkeit, Nähe und Identifikation.

– Glaubwürdigkeit: Wer die letzten drei Monate vor dem Wahltermin immer wieder «WÄHLT MICH, WÄHLT MICH!» schreit, kriegt sie sicher nicht. Kandidatinnen und Kandidaten müssen sie sich über Jahre hinaus erarbeiten. Mit Substanz und einprägsamen Hauptsätzen.

– Nähe: Der persönliche Kontakt ist in Bezug auf seine Qualität nicht zu toppen – vor der Haustüre, am Samstagmorgen auf dem Dorfmarkt, beim Bräteln mit Nachbarn, mit einer Grusssdresse während einer Vernissage. Jeder Händedruck, jeder Schwatz stärkt die Glaubwürdigkeit. Was auch Nähe herstellt, sind kurze Videos, weil so der Kandidat bzw. die Kandidatin spürbar wird.

– Identifikation: Potenzielle Wählerinnen und Wähler müssen sich grosso modo mit mehreren Themen des Kandidaten bzw. der Positionierung der Partei identifizieren.

Für den Dreiklang braucht es Zeit, Disziplin, Empathie und einen langen Atem. Das temporeiche Flyern in der Bahnhofsunterführung produziert keinen Dreiklang, sondern nur etwas: Abfall.

Mark Balsiger


>>> Dieser Text erschien, in einer etwas kürzeren Version, zuerst auf dem Online-Portal «Persönlich». Das Bildmaterial stammt von den Social-Media-Profilen einzelner Parteien und Politisierenden.

Die CVP betreibt Irreführung im grossen Stil

Die Verlockung, mithilfe des Internets mehr Aufmerksamkeit und neue Kunden zu erhalten, ist gross. So sind Trickser seit Monaten daran, mit Online-Inseraten, die sie jeweils mit dem Foto eines Prominenten wie zum Beispiel Medienpionier Roger Schawinski oder Fussballstar Xherdan Shaqiri ergänzen, auf ihre Websites zu locken. «Schawinski enthüllt die Wahrheit», wird dazu versprochen. Die Masche funktioniert, sonst wären diese Ads längst wieder verschwunden.

Seit heute Morgen versucht die CVP, auf ähnliche Weise zu mehr Aufmerksamkeit und bei den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober zu mehr Stimmen zu kommen: Wer bei Google nach Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien sucht, landet auf einer Werbeseite der CVP, bezahlte Werbung, sogenannte Google-Ads, machen das möglich.

Ein Beispiel: Wer im Kanton Luzern den Namen des dortigen FDP-Ständerats Damian Müller in die Suchmaske tippt, erhält zuobest in der Google-Auswahl diese Anzeige, wie dieser Printscreen belegt:


Natürlich, oben links steht «Anzeige»
, die Werbung ist also als solche deklariert. Erhebungen der letzten Jahre zeigen allerdings, dass die Surfer solche Hinweise im Netz meistens übersehen, man ist flüchtig unterwegs und will schnell zum Ziel kommen.

Wer also entdecken will, «wofür die FDP von Damian Müller steht» und auf den Link «Wahlen 2019 / Damian Müller / kandidaten2019.ch» klickt, wird auf eine Seite der CVP weitergeleitet. Dort erscheint die nachfolgende Information, die im Corporate Design der FDP gehalten sind. Allerdings kriegt die FDP hier ihr Fett ab:

Die Aufforderung
«Zeigt mir lieber echte Lösungen!» ist im CVP-Orange gehalten, und das irritiert womöglich sehr aufmerksame Surfer. «Was geht hier ab?», dürften sie sich fragen. Alle anderen machen einen weiteren Klick und dann landen sie bei den «echten Lösungen der CVP». Was die Christlichdemokraten mit dieser Kampagne betreiben, ist nicht Negative Campaigning, wie behauptet wird, sondern Irreführung. Mehrere Tausend Namen von parteifremden Kandidatinnen und Kandidaten werden auf Google für eigene Werbezwecke missbraucht. Dank Tracking-Tools können gleichzeitig auch noch Daten gesammelt werden. Schicklich ist ein solchen Vorgehen nicht.

Was die CVP tut, könnte rechtlich verfolgt werden, zum Beispiel wegen unlauterem Wettbewerb. Tatsache ist, dass die Partei gegen die Ads-Richtlinien von Google verstösst.

Dass potenzielle Wählerinnen und Wähler im Netz zuhauf die Namen von Kandidierenden googeln, trifft nicht zu, aber sie tun es. Clevere Kampagnenteams schalten bei Wahl- und Abstimmungskampagnen schon seit Jahren gezielt Ads auf Google, allerdings setzen sie vornehmlich auf Themen. Bekannt ist das nur in Insiderkreisen, der Fokus liegt bei Facebook, Twitter und, wegen des rasanten Wachstums, inzwischen auch bei Instagram.

«Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir»

Parteien beklagen sich seit Jahren über fehlende Resonanz in den Medien. Tatsächlich ist der Wettbewerb um Aufmerksamkeit entfesselt. Wer nicht schreit oder provoziert, wird oftmals nicht mehr wahrgenommen. Ueli Maurer erklärte das als Parteipräsident der SVP Schweiz einmal so: «Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir. Also sage ich: Neger! Neger! Neger!»

Womöglich findet es die SVP-Basis gut, wenn ihr Präsident Neger sagt. Doch funktioniert für andere Parteien, namentlich solche aus der staatstragenden Mitte, die Masche mit der Provokation? Konkreter: Was hat die CVP davon, dass ihr jetzt die volle Aufmerksamkeit zuteil wird? Mehr Stimmen am 20. Oktober, nachdem der Wählerschwund seit 1983 anhält?

Die Strategie könnte aufgehen, wenn die CVP innerhalb von 48 Stunden mit überzeugenden Inhalten nachlegt. Und wenn sie zugleich erklärt, dass die Google-Ads nur geschaltet wurden, um die volle Aufmerksamkeit der Medien zu generieren. Das wäre ein gerissener Plan.

Auf Twitter war heute diese Kampagne das Thema Nr. 1. Viele «Angeschossene» und Parteigänger ausserhalb der CVP nutzten die Chance, um diesen Fall zu skandalisieren. Einzelne sprechen von «Hetze», Nationalrat Marcel Dobler twitterte, die CVP habe das «Senfgas ausgepackt». Solche Einschätzungen sind komplett überzeichnet, sie zeigen aber exemplarisch, wie «Debatten» auf diesem Social-Media-Kanal befeuert werden. Kriegsrhetorik funktioniert.

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Heute habe ich der SRF-«Tagesschau» (hier der Beitrag in der Hauptausgabe von 19.30 Uhr) und der SRF-Online-Redaktion ein paar Fragen beantwortet:

SRF: Was bedeutet die Kampagne der CVP aus politischer Sicht?

Mark Balsiger: Dass eine Partei in der heissen Phase des Wahlkampfes ganz bewusst Irreführung betreibt, hat es in diesem grossen Stil noch nie gegeben. Es entspricht nicht der politischen Kultur. Man spürt aufgrund der Reaktionen, dass viel Nervosität im Wahlkampf ist. Viele Akteure haben etwas zu verlieren. Es ist allerdings nicht das harte Diffamieren des politischen Gegners wie bei einer typischen Negativ-Kampagne.

Die Kampagne wurde innert kürzester Zeit zum Top-Trend in der Schweizer Twitterszene. Das kann der CVP ja auch helfen?

Wenn der Absender von einem politischen Pol kommt, zum Beispiel von den Jungsozialisten oder der jungen SVP, die auch schon Bundesräte zum Rücktritt aufgefordert hatte, dann würde es zu einer Profilierung der Jungpartei führen. Wenn nun aber eine staatstragende Partei wie die CVP, die seit jeher antritt und sagt, wir halten das Land zusammen und sind das Scharnier in der Mitte, dann ist eine solche Kampagne unschweizerisch.

Kann dies für die CVP zum Bumerang werden?

Ja, denn schon diverse CVP-Mitglieder haben sich auf Twitter von der Kampagne distanziert. Gerade in der Endphase muss eine Partei schauen, dass ihre Kommunikation kohärent ist – und das ist sie hier nicht. Es kann also sein, dass gewisse Parteimitglieder demobilisiert werden. Dann gefährdet man am Schluss gar die 10-Prozent-Grenze.

Laut CVP dauert die Kampagne mehrere Tage. Ausserdem hat man versucht, solche Google-Anzeigen für praktisch jeden Kandidaten für die nationalen Wahlen 2019 zu machen. Das sind über 3000 Personen. Die CVP muss für jeden Klick bezahlen. Kommt das die Partei teuer zu stehen?

Das finanziell zu beziffern ist schwierig.

«Negative Campaigning» heisst also, mit einer Negativ-Kampagne den politischen Gegner zu schwächen. Das kennt man sonst eher aus den USA. Kommt das nun auch in der Schweiz?

Nein. Negative Campaigning lohnt sich dann, wenn es nur wenige Kandidaten gibt. Ausserdem funktioniert bei uns die politische Kultur anders. Bei diesem Fall handelt es aber auch nicht um Negative Campaigning, denn da müsste man jede Kandidatin und jeden Kandidaten bis ins Innerste durchleuchten. Hier wird nicht dramatisiert, sondern es werden einfach politische Positionen der Kandidaten verglichen.

Die Fragen stellte SRF-Redaktor Stephan Weber.

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Was Negative Campaigning ist, habe ich in meinem Buch «Wahlkampf statt Blindflug» (2014, als E-Book noch verfügbar) knapp zusammengefasst:

Nachtrag vom 22. September 2019: Der Karikaturist Chappatte setzt die «Offensive» der CVP mit einem klaren Strich um: