Prognosen für die Ständeratswahlen in den Kantonen Aargau, Bern, Solothurn und Zürich

Der Wahltag ist da, für die Beteiligten beginnt das lange Warten. Ich habe mein Prognosemodell, das in den letzten Jahren fast immer zuverlässig war, angeworfen. Es funktioniert nur für Majorzwahlen. Ich konzentrierte mich auf die Ständeratswahlen in vier Kantonen.

Zunächst, natürlich, der Aargau – meine alte Heimat: Hier schafft es der bisherige FDP-Ständerat Thierry Burkart im ersten Wahlgang.

Im Kanton Bern ist die Ausgangslage offener. Laut meinem Prognosemodell zersplittern sich die Stimmen wegen den vielen guten Kandidaturen stark. Folglich schafft es auch der Bisherige Werner Salzmann nicht im ersten Wahlgang.

Im Kanton Solothurn tritt der langjährige SP-Mann Roberto Zanetti zurück. Seit 1999 konnte die SP dieses Sitz für sich beanspruchen, zuerst mit Ernst «Aschi» Leuenberger, nach dessen frühen Tod 2010 mit Zanetti. Die besten Karten, seinen Sitz zu erobern, hat FDP-Regierungsrat Remo Ankli. Laut Modell schafft der Bisherige Pirmin Bischoff, immerhin seit 2011 Ständerat, dieses Mal die Wiederwahl nicht im ersten Anlauf.

Wegen Ruedi Nosers (FDP) Rücktritt ist die Ausgangslage im Kanton Zürich offen und sehr spannend. Hier richtig zu rechnen, war noch anspruchsvoller als anderswo.


Mein Prognosemodell berücksichtigt die Parteistärke, den Support von «Alliierten» sowie den Bekanntheitsgrad. Die Gewichtung bleibt mein Geheimnis.

Die Wahlen im Aargau als erster Formtest

Politisch Interessierte blicken am Sonntag gespannt auf den Kanton Aargau: Er bildet im Kleinen die Schweiz ab. Die Parteistärken im Aargau korrelieren mit denjenigen auf nationaler Ebene. Das macht die Parlamentswahlen (Grosser Rat) zum ersten grossen Formtest für die Parteien. Unter besonderer Beobachtung ist die CVP: Sie tritt mit dem Zusatz «Die Mitte» an und hat prominente Ex-BDP’ler auf ihren Listen. Damit nimmt sie die Fusion der beiden Parteien, die auf nationaler Ebene erfolgen soll, vorweg.

Laut einer Faustregel hallen die Ergebnisse der Nationalratswahlen jeweils rund ein Jahr nach. Die Ausgabe vom 20. Oktober 2019 gilt als ist historisch, weil die Grünen nicht weniger als 6.1 Prozentpunkte zulegen konnten. Auch der Zuwachs der Grünliberalen um 3.2 Prozent ist spektakulär, während auf der Verliererseite die SVP mit einem Minus von 3.8 Prozent ins Auge sticht.

In diesem Jahr fanden bislang kantonalen Wahlen in St. Gallen, Thurgau, Schwyz, Uri und Schaffhausen statt. Damit bestätigt sich die «Nachhallen»-These, wie die Grafik von schlemihl.org zeigt:

Die Grossratswahlen im viertgrössten Kanton werden also erneut zum ersten grossen Formtest für alle Parteien. Viel Aufmerksamkeit zieht wie gewohnt die SVP auf sich. Sie sei eine ganz normale Partei geworden, bilanzieren einzelne Beobachter nach der Abstimmungsschlappe gegen die Begrenzungsinitiative von Ende September. Übersetzt heisst das: Im Aargau könnte sie erstmals seit 20 Jahren wieder unter die 30-Prozent-Marke fallen. Die Tamedia-Zeitungen sprechen von einer «Angstwahl» für die SVP und ihren Präsidenten, Nationalrat Andreas Glarner (siehe auch Grafik von Tamedia).

Nach elf Jahren streicht die BDP die Segel. Die Partei, die in ihrer besten Phase rund 6 Prozentpunkte und Fraktionsstärke erreicht hatte, tritt bei den Grossratswahlen nicht mehr an. Von ihren vier aktuellen Grossratsmitgliedern wechselten zwei im Frühling zur CVP: Maya Bally (Hendschiken, Bezirk Lenzburg) und Michael Notter (Niederrohrdorf, Bezirk Baden). Die beiden anderen (Marcel Bruggisser und Fabian Hauser) beenden die Legislatur in der angestammten EVP-BDP-Fraktion.

Für die CVP bedeutet der Zuwachs um zwei BDP’ler eine Herausforderung. Sie will ihre 19 Sitze «halten», wie Parteipräsidentin Marianne Binder bei einem «Tele-M1»-Talk erklärte.

Die Aargauer Kantonalsektion nimmt im Prinzip vorweg, was auf nationaler Ebene aufgegleist ist: die Fusion mit der BDP. Die neue Partei namens «Die Mitte» soll breitere Kreise ansprechen und so zu einem Wachstum führen. Ein gutes Abschneiden der CVP-Die Mitte im Aargau würde diesem Projekt Schub verleihen.

Abschliessend die Entwicklung der Parteistärken seit 2012:

Dieselbe Grafik gibt es zum Herunterladen: Aargau: Vergleiche Grossrats- und Nationalratswahlen (PDF)

Wermuth will an die Macht

Cédric Wermuth hat einen Plan – für die SP, die Gesellschaft und sich selber. Der Aargauer Nationalrat ist ein gerissener Stratege, dossiersicher, selbstbewusst, zuweilen arrogant und rhetorisch beschlagen. Nicht viele Politiker in Bundesbern können dem 33-Jährigen das Wasser reichen. Das wissen viele SP-Mitglieder, gute Beobachter und er selber.

Seit Jahren liegt in der Luft, dass Wermuth Parteipräsident der SP Schweiz werden will. Allerdings gilt als ausgemacht, dass nach der 12-jährigen Ära Levrat eine Frau folgen sollte. Der Vorschlag, der gestern Abend mit wohlwollender Unterstützung der «Wochenzeitung» lanciert wurde, ist ein Co-Präsidium: Wermuth zusammen mit der Zürcher Nationalrätin Mattea Meyer. Beide kennen sich schon lange: Meyer war früher seine Assistentin, ihr Lebenspartner Marco Kistler wiederum der Mastermind der 1:12-Initiative und von Wermuths Ständeratskampagne.

Auf Twitter schrieb ich, dass schon seit Jahren die verdeckte «Operation Occupy SP» durch ehemalige Juso im Gang sei – eine Provokation. Natürlich sind viele Mitglieder der Bundeshausfraktion ehemalige Juso; das hat Tradition. Auffällig ist hingegen, wie homogen sie sich diese präsentiert. Laut der Verortung von Smartvote besteht der sozialliberale Flügel noch aus einer Person: Ständerat Daniel Jositsch (ZH). Die wenigen anderen Vertreter verabschiedeten sich inzwischen von der Politik (Pascale Bruderer, AG) oder wechselten zu den Grünliberalen (Chantal Galladé, Daniel Frei, beide ZH).

Grautöne gibt es keine, Feindrhetorik aber zuhauf

Die inhaltliche Homogenität der SP-Fraktion ist ein zentraler Punkt, der andere ist die Rhetorik der Leute, die je länger, desto mehr den Ton angeben. Im Auftritt sind Wermuth, Meyer, Fabian Molina (ZH), Samira Marti (BL), Tamara Funiciello (BE) & Co. gleich: kompromisslos und fundamentalistisch. Für sie gibt es nur Schwarz oder Weiss, richtig oder falsch. Die Grautöne, die die Schweizer Politik seit vielen Jahrzehnten prägen, halten sie für überholt. Sie wollen Staat und Gesellschaft umbauen.

Die neuen Wortführerinnen und Wortführer sind ideologisch beinhart. Sie zweifeln nie an ihren Überzeugungen, vielmehr stehen die anderen im Schilf oder sind zu dumm. Man ist entweder auf der richtigen Seite oder ein Feind. Dass politische Projekte nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen des Absenders scheitern können, scheinen sie ausgeblendet zu haben.

Der Plan «Präsidium» wird im April nächsten Jahres verwirklicht: Ich zweifle keinen Moment daran, dass Wermuth am Parteitag gewählt wird. Die Sache ist von langer Hand geplant, er kann auf das Payback seiner jahrelangen Basisarbeit zählen. Einen anderen Plan setzte Wermuth am 20. Oktober in den Sand: seine eigene Ständeratskandidatur. Er hatte sich Chancen ausgerechnet, den farblosen SVP-Konkurrenten Hansjörg Knecht abzufangen. Das wollen wir näher betrachten.

Frauen predigen, selber kandidieren

Zunächst setzte Wermuth sich parteiintern gegen Nationalrätin Yvonne Feri durch, die vermutlich bessere Chancen gehabt hätte, weil sie im Gegensatz zu Wermuth nicht polarisiert. Doch das Thema Frauenförderung pausierte gerade, was das Alphatier mit einer kommunikativen Meisterleistung zu kaschieren vermochte. Einzig der junge Journalist Hannes von Wyl schaffte es, «Feminist Wermuth» zu überführen.

Die Maschinerie kam nach der Nomination erst recht auf Touren: Wermuth stellte zwei Profi-Campaigner an, baute ein Netzwerk mit mehr als 5000 Supportern auf (mehrheitlich ausserhalb der SP-Strukturen), investierte nach eigenen Angaben mehr als 300‘000 Franken, akzentuierte sein linkes Profil und lieferte den professionellsten Wahlkampf des Jahres 2019. Die Aargauerinnen und Aargauer belohnten das nicht: Wermuth erreichte 29 Prozent und lag damit weit hinter Thierry Burkart (FDP, 43%) und Knecht (SVP, 38%). Das Resultat ist schlecht und muss eine herbe Enttäuschung sein für ihn, obwohl er öffentlich das Gegenteil sagte.

Mit diesen 29 Prozent holte Wermuth gerade einmal das linke Lager ab. Zwei Tage später gab er forfait, verkaufte das aber als Frauenförderung – eine weitere kommunikative Meisterleistung.

Er fürchtete das Verlierer-Image

In den zweiten Wahlgang wurde die grüne Grossrätin Ruth Müri geschickt, während sich SP und Grüne auf die gemeinsame Regierungsratskandidatur von Yvonne Feri verständigten. (Es fand zum selben Zeitpunkt eine Ersatzwahl statt, Feri scheiterte knapp.) Dass Wermuth seine chancenlose Kandidatur zurückzog, weil er das «Verlierer»-Image fürchtete, ist die unbequeme Wahrheit.

Wie man als SP-Mitglied im stockbürgerlichen Aargau den Sprung in den Ständerat schafft, zeigte Pascale Bruderer vor acht Jahren. Die Realpolitik mitgestalten (wie Bruderer es tat) versus 100-prozentige Linientreue, das ist eine Frage, welche die hiesige Sozialdemokratie umtreibt.

Für die neuen Leader, so scheint es, ist die reine Lehre wichtiger. Sie jubeln Bernie Sanders und Jeremy Corbyn zu, zwei alten weissen Männern – pardon, aber der musste sein! Beide konnten in den letzten Jahren die Positionen ihrer Parteien verschieben. Indessen haben sie keine Chance, US-Präsident bzw. Premierminister in Grossbritannien zu werden. So stürzte Corbyns Labour-Partei, die u.a. mit einem Verstaatlichungsprogramm punkten wollte, jüngst mit einem Minus von  7.8 Prozentpunkten ab.

Zurück zur SP. Sie ist eine Volkspartei und vereint die 22-jährige Ethnologiestudentin in Genf und den pensionierten Eisenbahner in Erstfeld, die selbständige Treuhänderin in Muttenz und den Heilpädagogen im Toggenburg. Wie die Basis auf die inhaltliche Neupositionierung (à la Corbyn?) und die kompromisslose Rhetorik reagieren wird, ist offen.

Mit 16.8 Prozentpunkten hat die SP im Herbst das schlechteste Resultat in ihrer Geschichte erzielt. Die nächste Bilanz wird am 22. Oktober 2023 gezogen.

 

Weitere Einschätzungen und Interviews:

Cédric Wermuth, ein Geschenk für die Grünen (21. Dezember)
Blick, Christian Dorer

Der Parteipräsident*in (22. Dezember)
SonntagsBlick, Frank A. Meyer

– Interview mit dem neuen SP-Nationalrat Jon Pult (23. Dezember)
Republik, Dennis Bühler

Das Interview mit Mattea Meyer (Abo, 7. Januar 2020)
Tamedia, Raphaela Birrer, Markus Häfliger

Die SVP-Spitze hat sich mit Franziska Roth verzockt, den Schaden tragen alle

Bis am Ostermontag hatte die SVP schweizweit fünf amtierende Regierungsrätinnen. Seit heute sind es noch vier. Die Aargauer Gesundheitsdirektorin Franziska Roth ist per sofort auf der Partei ausgetreten, wie sie an einer Medienkonferenz in Aarau erläuterte. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, nachdem die Spitze der Aargauer SVP von Roth ultimativ gefordert hatte, die Regierungsarbeit bis im Sommer verbessern zu müssen. Im Gang ist zudem eine Untersuchung, was im Departement für Gesundheit und Soziales (DGS) wieso nicht rund läuft.

Mit ihrem Parteiaustritt düpiert Roth die SVP, aber die Probleme bleiben auch als parteilose Regierungsrätin dieselben. In den letzten zwei Jahren wurden mir aus ihrem Departement und dem Kantonsparlament immer wieder Informationen zugetragen, die man auf einen Nenner bringen kann: Das Amt überfordert Franziska Roth. Sie ist in der Politik nie richtig angekommen, die Feinmechanik des Regierens blieb ihr fremd. Dasselbe wurde Johann Schneider-Ammann als Bundesrat immer mal wieder vorgeworfen. Aber der Berner konnte dieses Manko kompensieren, indem er clever-vifes Personal um sich scharte. Roth hingegen überwarf sich mit mehreren Schlüsselfiguren ihres Departements, die in der Folge gingen oder gegangen wurden, und isolierte sich zusehends.  

«Franziska Roth mangelt es an Willen, Interesse und Talent, das Regierungsamt auszufüllen.»

Medienmitteilung der SVP des Kantons Aargau

Kaum war Roths Medienkonferenz zu Ende, wurde auch schon die gepfefferte Reaktion der SVP-Kantonalpartei publik. Die Medienmitteilung mit dem Titel «Hoffnungslos» trägt die Handschrift des Fraktionschefs Jean-Pierre Gallati, laut Kollegen ein «harter Hund».

«Franziska Roth mangelt es an Willen, Interesse und Talent, das Regierungsamt auszufüllen. (…) Die SVP Aargau muss anerkennen, dass sie das Leistungsvermögen von Franziska Roth falsch eingeschätzt hat und bittet die Aargauerinnen und Aargauern in aller Form um Entschuldigung für diese im Jahr 2016 beschlossene Nomination.»

Wann haben wir jemals eine solche Abrechnung zur Kenntnis nehmen müssen?

Blenden wir zurück: Fast auf den Tag genau vor drei Jahren wurde Roth als Regierungsratskandidatin nominiert. Es musste eine Frau sein, die gegen die amtierende Gesundheitsdirektorin Susanne Hochuli (Grüne) antritt. Von der SVP-Rennleitung glaubte niemand an Roths Chance, nachdem schon 2012 Parteipräsident und Nationalrat Thomas Burgherr als Sprengkandidat gescheitert war. Mit anderen Worten: Roth war eine Pro-forma-Kandidatin. Die Ausgangslage veränderte sich schlagartig, als Hochuli im Sommer 2016 überraschend bekanntgab, nicht mehr zu kandidieren.

Schon im Wahlkampf überzeugte Roth nicht

Als Wahlkämpferin überzeugte Roth nicht, sie blieb die schwer greifbare Unbekannte, und viele Beobachter bezweifelten, dass sie das Zeug zur Regierungsrätin hat. Im zweiten Wahlgang konnte sie sich gegen ihre Kontrahentinnen, Nationalrätin Yvonne Feri (SP), und Grossrätin Maya Bally (BDP) durchsetzen. Ihr Lager war schlicht stärker, die SVP Aargau ist eine 38-Prozent-Partei. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte konnte sie zwei Sitze in der Regierung übernehmen. Nichts ist für eine Partei wichtiger, als eigene Leute in Exekutivpositionen zu haben.

Fazit: Von 2009 bis 2016 konnte die SVP-Fraktion mit der grünen Gesundheitsdirektorin Hochuli ein Feindbild pflegen. Das war bequem, zumal zeitweise die Anzahl Asylbewerber in die Höhe schnellte.

Im Wahlkampf 2016 pries Parteipräsident Burgherr Franziska Roth als die neue starke Frau im Departement für Gesundheit und Soziales an. Sie werde dort aufräumen. Heute müssen wir feststellen: Die SVP-Spitze hat sich verzockt. Den Schaden tragen aber alle, nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im DGS. Das Malaise dauert noch bis Ende 2020. Wir können ausschliessen, dass Roth als Parteilose Chancen auf eine Wiederwahl hätte.

Ein erster Formtest für alle Parteien

Der Kanton Aargau bildet in Bezug auf die Parteienlandschaft und -stärke die Schweiz im Kleinen ab. Das ist schon seit Jahrzehnten so. Am 23. Oktober bestimmt er, wer in der Regierung und im Parlament (Grosser Rat) einzieht. Just ein Jahr nach den eidgenössischen werden so die Aargauer Wahlen zum ersten wichtigen Formtest für die Parteien.

aargau_grosser_rat_612_sitzverteilung_2016Grafik: So präsentiert sich die Sitzverteilung im Aargauer Grossen Rat von 2013 bis 2016.

Nachfolgend eine Grafik, die die einleitende Aussage stützt; das Dokument können Sie herunterladen:

Resultate: NR-Wahlen 2015 schweizweit & Aargau; Grossratswahlen 2012 (PDF)

Die Wähleranteile im Aargau korrelieren mit denjenigen auf nationaler Ebene. (Basel-Landschaft kommt auch noch ähnlich nahe.) Das gilt für die grossen Parteien genauso wie für die EVP und die neueren Mitteparteien BDP und GLP. Einzig bei der SVP ist eine grosse Differenz auszumachen, die inzwischen nicht weniger als 8.6 Prozentpunkte beträgt, d.h. im Aargau ist die Volkspartei deutlich stärker (38.0 Prozent, vgl. schweizweit: 29.4 Prozent).

Bei den Nationalratswahlen im Aargau vor Jahresfrist legte die SVP 3.3 Prozent und die FDP sogar 3.4 Prozentpunkte zu – ein veritabler Rechtsrutsch. Beide Parteien gewann je einen Sitz hinzu (SVP: neu 7, FDP: neu 3 Sitze). Können SVP und FDP bei den Grossratswahlen heute in drei Wochen einen vergleichbaren Vormarsch verbuchen, haben sie im 140-köpfigen Parlament eine Mehrheit; die aktuelle Sitzverteilung stellt die Grafik oben dar. (Die beiden Grossräte der EDU wirken in der SVP-Fraktion mit.)

Unter besonderer Beobachtung ist die CVP, die vor Jahresfrist erstmals in ihrer Geschichte unter die 10-Prozent-Marke rutschte. Auch für BDP und GLP gilt am 23. Oktober: verlieren verboten. Passiert es doch, könnten sie die Fraktionsstärke (mindestens 5 Sitze) einbüssen, was weniger Einfluss und eine Verwässerung ihres Parteiprofils zur Folge hätte.

Die Grossratswahlen im viertgrössten Kanton werden zum ersten Formtest für alle Parteien. Ins Auge sticht die Wahlbeteiligung: Bei Nationalratswahlen hat sie sich im Aargau (und schweizweit) bei 48 Prozent eingependelt, bei Grossratswahlen erreicht sie jeweils etwa 32 Prozent. (In den meisten anderen Kantonen gibt es allerdings eine vergleichbar grosse Differenz.) Auch das Zusammenlegen des Termins für Regierungs- und Grossratswahlen brachte 2012 keine höhere Wahlbeteiligung.

Es ist möglich, dass die Dynamik um die zwei frei werdenden Regierungssitze von Roland Brogli (CVP) und Susanne Hochuli (Grüne) zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Auch die Herbstsession des eidgenössischen Parlaments könnte einen Effekt auf die Grossratswahlen haben, im Speziellen die Entscheidung des Nationalrats, bei der Masseneinwanderungsinitiative auf einen “Inländervorrang light” zu setzen. Das kann einzelne Wählersegmente überproportional mobilisieren, etwa bei der SVP (“Verfassungsbruch, sapperlott!”) oder bei der FDP (aus deren Reihen kam der siegreiche Lösungsansatz).

Gemäss einer Umfrage von Ende September, welche die “Aargauer Zeitung” (AZ) beim Marktforschungsinstitut Demoscope in Auftrag gab, verlöre die SVP am 23. Oktober 2.9 Prozent, die CVP sogar 3.5 Prozent, die FDP könnte hingegen 3.3 Prozent zulegen. (Der Stichprobenfehler wird in der AZ-Berichterstattung nicht genannt, dürfte aber plus/minus 3.1 Prozent betragen.) Doch Vorsicht: Umfragen sind keine Prognosen, sondern Momentaufnahmen. Vor vier Jahren wies die damalige Umfrage für die SVP einen Verlust von 3.5 Prozent aus; ihr Resultat am Wahltag blieb aber stabil.

Die Resultate der Grossratswahlen 2009, 2012 sowie die AZ-Umfrage von Ende September 2016:

umfrage_gr_ag_612_aargauer_zeitung_2016_09_30

Die grüne Regierungsrätin, drei Asylbewerber aus Schwarzafrika und viel, viel Neid

Während viele Regierungsräte derzeit in den Ferien sind, macht Susanne Hochuli Schlagzeilen. Auf dem Bauernhof der Aargauer Gesundheitsdirektorin in Reitnau lebt seit Kurzem eine dreiköpfige Asylbewerberfamilie. Mit dieser Tat als Privatperson erntet die Politikerin Lob und Kritik. Der Vorwurf der Inszenierung ist realitätsfremd.

hochuli_blog_telem1_az_580_Bildschirmfoto 2013-08-04 um 14.45.28Im Spätherbst 2011 haben Heckenschützen und die SVP zum Halali auf die grüne Regierungsrätin geblasen. Susanne Hochuli trug die Idee des Bundes mit, in der 550-Seelen-Gemeinde Bettwil eine Asylunterkunft für 140 Menschen zu eröffnen. Die Wogen gingen hoch, der Widerstand war schnell gebündelt, Hochuli wurde kritisiert, diffamiert und bedroht. Immer wieder bekam sie zu hören, sie solle doch gefälligst bei sich zu Hause Asylbewerber aufnehmen.

Genau das hat Hochuli nun getan. In einer separat zugänglichen Wohnung ihres umgebauten Bauernhofes wohnt seit Kurzem eine Frau aus Angola mit ihren beiden Kindern. Die junge Familie ist seit zehn Monaten im Asylbewerbungsprozess.

Jede Schweizer Gemeinde muss nach einem Verteilschlüssel, der sich an der Einwohnerzahl orientiert, Asylbewerber aufnehmen. Kommt sie dieser Bestimmung nicht nach, muss sie bezahlen. Hochuli entlastet also mit ihrer Entscheidung die Gemeinde Reitnau finanziell. Dass sie aber einen marktüblichen Mietzins für die Wohnung verlangt, die der kantonale Sozialdienst entrichtet, ist richtig. Jeder andere Anbieter von Wohnraum tut das auch.

In Leserbriefspalten und Online-Foren wittern viele Kritiker, etliche davon mit einem wüsten Vokabular, Orthografiefehlern und anonym, eine “PR-Aktion der mediengeilen Regierungsrätin”. Man kratzt sich verwirrt am Kopf und fragt: Profilierung, wozu? Die nächsten Regierungsratswahlen sind erst im Herbst 2016, Ständerätin wird Hochuli nie, Bundesrätin sowieso nicht. Die Grünen sind weit davon entfernt, einen Sitz in der Landesregierung zu ergattern.

Gestern bemühte die “Aargauer Zeitung” in einem Kommentar ein bekanntes Sprichwort, das auch oft als PR-Formel herhalten muss: “Tue Gutes und sprich darüber”. Die gute Tat sei gleichzeitig auch eine “Inszenierung”, moniert der Journalist, Hochuli hätte besser nicht darüber gesprochen.

Hochuli wurde für viele Leute zu einer Projektionsfläche

Mit Verlaub, aber diese Forderung ist realitätsfremd: In einem Dorf bleibt nicht lange unbemerkt, wenn eine bekannte Politikerin unter dem eigenen Dach Asylbewerber aufnimmt. Ist diese Politikerin zudem verantwortlich für das Asyldossier und für viele Menschen eine Projektionsfläche, hat ein solcher Fall Newswert erster Güte. Hätte Hochuli ihre temporären Mieter aus Schwarzafrika verschweigen wollen, wäre sie von den Medien an den Pranger gestellt worden. Aus diesem Grund wählten die Regierungsrätin und ihr Kommunikationschef wohlweislich die pro-aktive und dosierte Form der Information.

Hochuli vermische Privates und Berufliches, kritisieren verschiedene Politikerinnen. Das stimmt zweifellos, entspricht aber ihrem Naturell. Sie ist kein Gutmensch, sondern eine Pragmatikerin, die sich von ihren Überzeugungen leiten lässt. Im Kleinen des Privatlebens wie im etwas Grösseren der Politik will sie gestalten – auch wenn sie damit aneckt oder die eigene Partei vor den Kopf stösst wie im Frühling beim überzeugten Einstehen für die Aslygesetzrevision.

Die Aargauerin weiss um die symbolische Wirkung ihrer jüngsten Geste: Die Asylproblematik wird damit nicht gelöst, aber sie geht alle etwas an, und das erschöpft sich nicht beim Verfassen von gehässigen Online-Kommentaren.

Die heftige Kritik an Hochuli hat noch einen anderen Grund: Neid – viel Neid. Im letzten Jahr versuchten Heckenschützen und die SVP, sie aus dem Amt zu drängen – mit dem Schlagwort “Bettwil”. Der Coup misslang gründlich: Thomas Burgherr, Präsident und Sprengkandidat der Aargauer Volkspartei, hatte bei den Regierungsratswahlen keine Chance. Hochuli liess ihn mit 24’000 Stimmen Differenz hinter sich, und das mit einer 7,5-Prozent-Partei im Rücken. Burgherrs SVP kommt auf 32 Prozent.

Mark Balsiger

 

Printscreen: Aargauer Zeitung / Beitrag Tele M1

Weitere Beiträge aus der Sonntagspresse von heute:

Asyl bei der Sozialchefin (NZZ am Sonntag)
Auf dem Hof der Regierungsrätin entscheiden die Frauen (SonntagsZeitung)
Mutter Courage und ihre Flüchtlingsfamilien (Schweiz am Sonntag)
“Platzierungen bei Privaten – das ist der total falsche Weg”
(Schweiz am Sonntag)

Der Artikel aus dem SonntagsBlick ist online nicht verfügbar.

 

Der Aargau setzt auf Konstanz

Keine Überraschung bei den Regierungsratswahlen im Aargau: Die vier Bisherigen werden mit guten Ergebnissen wieder gewählt. Der Sitz des abtretenden Peter Beyeler (fdp) ergattert sein Parteikollege Stephan Attiger. Der Angriff von SVP-Präsident Thomas Burgherr blieb chancenlos. Ein Kommentar.

Die Resultate lassen keine Zweifel aufkommen: Die Aargauer Wählerinnen und Wähler  sprechen der Regierung ihr Vertrauen aus. Die vier Bisherigen Roland Brogli (cvp), Susanne Hochuli (grüne), Urs Hofmann (sp) und Alex Hürzeler (svp) kamen alle strahlend ins Ziel.

Das hat seine Gründe: Sie wuchsen nach den Wahlturbulenzen vor vier Jahren schnell zu einer Mannschaft zusammen. Sie harmoniert, hat die Dossiers im Griff und gestaltet mit einem guten Gespür für das Machbare. Charismatiker wie früher beispielsweise Thomas Pfisterer (fdp) oder Ueli Siegrist (svp) hat die Regierung nicht in den eigenen Reihen. Dafür überzeugt sie als Kollektiv und hat keine überforderten Mitglieder mehr, wie das in früheren Konstellationen der Fall war.

Stephan Attiger (fdp) passt von seiner Art her gut in dieses Gremium. In seinen sieben Jahren als Badens Stadtammann (so heisst im Kanton Aargau der Stadtpräsident) hat er sich einen soliden Leistungsausweis geholt. Das nährt die Hoffnung, dass die Regierung auch die nächsten vier Jahre einen guten Job machen wird. Der erneute Versuch der SVP, als klar wählerstärkste Partei einen zweiten Sitz zu erkämpfen, war chancenlos. Thomas Burgherr klassierte sich mit deutlichem Rückstand auf dem sechsten Platz. Die Gründe für sein Nicht-Reüssieren sind vielfältig.

Ein paar Vermutungen:

Erstens ist Burgherr nicht aus dem Holz geschnitzt, das es für eine erfolgreiche Sprengkandidatur gebraucht hätte. Er politisiert als Grossrat solid, aber eine rprägende Figur ist er nicht. Im Wahlkampf schaffte er es nicht, über sich hinauszuwachsen und sich als echte Alternative zu präsentieren.

Zweitens haben Burgherr die Querelen der Kantonalpartei, die seit Längerem immer wieder aufbrechen, geschadet. Das gilt wohl auch für die Probleme, die die SVP Schweiz seit einem Jahr heimsuchen, der Fall Zuppiger oder die Affäre Mörgeli, um nur zwei zu nennen.

Drittens zeigten CVP und FDP kein Interesse, zusammen mit der SVP ein Päckli zu schnüren. Ohne die gegenseitige Unterstützung aller Kandidaten der drei bürgerlichen Parteien ist das absolute Mehr nicht zu schaffen. Das zeigte sich schon vor vier Jahren, als Nationalrat Luzi Stamm als SVP-Sprengkandidat scheiterte.

Viertens haben die Bisherigen, also auch SVP-Regierungsrat Alex Hürzeler, frühzeitig und dezidiert klargemacht, dass sie gemeinsam weiterarbeiten möchten. Dieses Signal hat der Aargauer Souverän wahrgenommen.

Mark Balsiger

Medienspiegel zu den AG-Wahlen generell:

NZZ: Der Angriff der SVP bleibt erfolglos (Erich Aschwanden)
NZZ: Wider den Trend / Kommentar (Erich Aschwanden)
Newsnet: Die SVP macht weiter die Musik (Hubert Mooser)
Aargauer Zeitung: Die SVP profitiert von Bettwil, die FDP von Müller (Christian Dorer)

 

Foto neu formierter Aargauer Regierungsrat: keystone

 

Der erste grosse Formtest für alle Parteien

Im Kanton Aargau korrelieren die Wähleranteile der Parteien mit denjenigen auf nationaler Ebene so stark wie sonst nirgendwo. Das ist schon seit Jahrzehnten so. Die Parlamentswahlen (Grosser Rat) im Rüebliland vom 21. Oktober werden deshalb zum ersten grossen Formtest für die Parteien – just ein Jahr nach den Nationalratswahlen.

Zunächst eine Grafik, die die einleitende Aussage stützt:

Dieselbe Grafik als PDF-Dokument zum Herunterladen:

Ergebnisse Schweiz & Aargau: Nationalratswahlen 2011 & GR-Wahlen 2009 (PDF)

Der Aargau bildet die Veränderungen der Parteienlandschaft in der Schweiz im Kleinen ab, und das so präzis wie sonst in keinem anderen Kanton. Das gilt für die Wähleranteile der fünf grossen Parteien genauso wie für die EVP und den Landesring der Unabhängigen, der lange Zeit einen Nationalratssitz halten konnte, 1999 aber von der Bildfläche verschwand.

Bei den Nationalratswahlen vor Jahresfrist büssten die fünf grössten Parteien auf nationaler Ebene allesamt Prozentpunkte ein, die Verluste betrugen zwischen minus 0.8% (SP) und minus 2.6% (FDP). Die Gewinner hiessen BDP und GLP, die je 5.4 Prozentpunkte erreichten.

Diese beiden jungen Parteien werden im Aargau alles daran setzen, um diese Werte bei den Grossratswahlen vom 21. Oktober zu bestätigen. Im 140-köpfigen Aargauer Parlament hat die BDP derzeit 4 Sitze inne und bildet zusammen mit der CVP eine Fraktionsgemeinschaft. Die GLP wiederum holte bei den letzten Wahlen auf Anhieb 5 Sitze und erreicht damit Fraktionsstärke. Dank zwei Überläufern von der SP ist ihre Fraktion inzwischen sogar auf 7 Sitze angewachsen.

Die Grossratswahlen im viertgrössten Kanton werden zum ersten grossen Formtest für alle Parteien. Bei den etablierten Kräften geht es darum,  den Abwärtstrend zu brechen. Obwohl für alle einiges auf dem Spiel steht, dürfte sich der mediale Fokus, einem Naturgesetz gleich, auf die SVP richten. Sie musste bei den kantonalen Wahlen der letzten 12 Monate in Fribourg (Wahltermin: 13. November 2011), St. Gallen, Schwyz, Uri und Waadt (alle 11. März 2012), Thurgau (16. April) und Schaffhausen (23. September) zum Teil grosse Sitzverluste hinnehmen.

Eine Umfrage von Mitte September sagte der SVP (minus 3.5%) und der CVP (minus 2.1%) deutliche Verluste voraus. Der Stichprobenfehler betrug 3.1%.

Mark Balsiger

Ergänzend: Detailliere Angaben zu den Nationalratswahlen 2011 im Kanton Aargau zum Herunterladen:

Dokumentation NR-Wahlen 2011 Kt. Aargau (5 MB; PDF)

Wahlkampfwandern mit der “Land-Amme”

Die Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli gibt den Nik Hartmann. Seit bald zwei Wochen wandert sie zusammen mit ihrem Hund über Stock und Stein. Dabei twittert sie und füttert ihre Facebook-Seite mit Fotos und Anekdoten. Resonanz erzeugt das Wahlkampfwandern allerdings nicht auf den Social-Media-Kanälen, sondern in den etablierten Regionalzeitungen.

Vor Jahresfrist kurvte der damalige FDP-Präsident Fulvio Pelli auf seinem Rennrad durchs Mittelland. Dabei wurde er stets von pedalenden National- und Ständeratskandidaten seiner Partei begleitet. Die fünf Etappen lieferten gute Bilder und Stoff für hochsommerliche Berichte – die Medien stürzten sich dankbar darauf.

Langsamer, aber bedeutend länger ist Susanne Hochuli (Grüne) unterwegs: In 16 Wandertagen will die Aargauer Regierungsrätin über 300 Kilometer zurücklegen. Sie nennt es “Grenzwanderung”, und tatsächlich führte ihre Route bislang mehr oder weniger der Kantonsgrenze entlang. Die präzisen Etappen sind nicht bekannt, Hochuli ist alleine unterwegs, nur von ihrem Hund “Mira” begleitet. Was sie braucht, trägt sie in einem Rucksack mit, übernachtet wird bei Freunden, Bauern oder auch mal in einem Gasthof.

Wandern ist kontemplativ – für Hochuli, die am 21. Oktober wiedergewählt werden will, allerdings auch Wahlkampf. Von unterwegs twittert sie, macht Fotos, notiert ihre Erlebnisse und veröffentlicht alles auf ihrer Facebook-Page. Auch die Website ist ganz auf die Grenzwanderung der Frau Landammann, die sich inzwischen zur “Land-Amme” emanzipierte, ausgerichtet. So weit, so gut. Die Defizite werden erst bei einer genaueren Betrachtung sichtbar.

Die Aktualisierungen auf Hochulis Facebook-Page haben bislang gerade einmal 90 Personen abonniert (“Likes”), ein Dialog findet nicht statt. Das Kampagnenteam der Regierungsrätin lancierte diesen Kanal viel zu spät. Andere bekannte Politisierende haben ihre Facebook-Präsenz jahrelang systematisch aufgebaut und inzwischen mehrere Tausend “Freunde” oder “Likers”. Das ist eine Hausmacht, damit lassen sich potenziell neue Wählerinnen und Wähler binden.

Das Twittern entdeckte Hochuli im letzten Frühling. Die knappe Form entspricht ihr offensichtlich, ihre Tweets sind eine Mischung aus Information, Witz und Persönlichem. Schon nach wenigen Wochen heimste sie dafür ein Lob von der NZZ ein.

Exemplarisch ein paar Tweets der vergangenen Woche, als sie der Reuss entlang Richtung Norden wanderte:

Diese knappe Anekdote provozierte natürlich schnell eine Antwort:

Fast 600 Personen (die sog. “Follower”) haben die Tweets der Aargauer Regierungsrätin abonniert. Intuitiv scheint sie dieses Medium zu beherrschen. Es ist deshalb jammerschade, dass sie ihre Beobachtungen und Erlebnisse auf der Wanderung nicht regelmässiger über Twitter verbreitet; manchmal zwitschert sie tagelang überhaupt nicht.

So wenig Hochuli das Potenzial von Twitter und Facebook ausschöpft, so ergiebig ist die Berichterstattung in der etablierten Regionalpresse. Die Medienschaffenden stürzen sich in der Sauregurkenzeit geradezu auf die wandernde Politikerin. Die “Aargauer Zeitung” räumte ihr in den Splitausgaben im Freiamt und im Fricktal viel Platz ein, ebenso wie die “Neue Luzerner Zeitung” (die im Aargauer Freiamt ebenfalls verbreitet ist), “Die Botschaft” (Region Zurzach) und die “Neue Fricktaler Zeitung”. (Die Berichte der letztgenannten Medien sind online nicht verfügbar.)

Viel Unterstützung wird Hochuli von einer Organisation zuteil, die ihr eigentlich nicht grün ist: Gastro Aargau. Der Arbeitgeberverband für Hotellerie und Restauration initiierte im letzten Jahr den Stammtisch für den Aargauer Landammann. Dieser besucht im Verlauf seines Amtsjahres alle elf Bezirke des Kantons und nimmt jeweils für einen Abend in einer Beiz Platz. Für die Organisation und Bewerbung der Anlässe ist Gastro Aargau zuständig. Susanne Hochuli, die einen unkomplizierten Umgang mit den Leuten pflegt, profitiert von dieser Serie. Allein während ihrer Grenzwanderung finden drei Stammtische statt.

Ihre Konkurrenten machen Ferien oder beissen Akten, Susanne Hochuli generiert derweil mit ihrem Wahlkampfwandern viel Aufmerksamkeit. Dank den etablierten Regionalzeitungen. Der grosse Social-Media-Boost ist ihr nicht gelungen. Aber womöglich war das ja auch gar kein Ziel.

Mark Balsiger

– Fotos: Facebook-Page von Susanne Hochuli


Soviel zum Sturm auf das Stöckli

In den Kantonen Aargau, St. Gallen, Uri und Zürich will das Volk nichts von SVP-Vertretern im Ständerat wissen. Der gross angekündigte “Sturm auf das Stöckli” ist damit zu einer Chiffre verkommen, über die die SVP-Gegner noch lange spotten werden. Dass allein die Ankündigung dieses Sturms eine derart grosse mediale Resonanz auslösen konnte, müsste zum Nachdenken anregen.

Wer robust wächst, bekommt Appetit auf mehr. Das gilt auch für die SVP. Bei den Nationalratswahlen 1987 erreichte sie noch bescheidene 11.0 Prozentpunkte, von 1991 an legte sie kontinuierlich zu, was 2007 bei 28.9% kulminierte – ein Wachstum, das die eigenen Leute berauschte und die Gegner verzweifeln liess.

Im Ständerat hingegen kam Blochers Partei bislang nicht vom Fleck, sie dümpelte mit 4 bis maximal 8 Sitzen vor sich hin. Die Erklärung ist einfach: Ständeratswahlen sind mit Ausnahme der Kantone Jura und Neuenburg Majorzwahlen, es braucht mehrheitsfähige Kandidaturen, die weit über die eigene Basis hinaus unterstützt werden. In den meisten Kantonen sind für eine Wahl 50 Prozent der Stimmen nötig – eine hohe Hürde.

Der am 7. April gross angekündigte „Sturm auf Stöckli“ ist, wie wir spätestens seit heute Abend definitiv konstatieren können, kläglich gescheitert. Die SVP hat im Ständerat nur noch 5 Sitze, 2 weniger als bei den Wahlen vor vier Jahren. Das “Volch” liess die Volkspartei im Stich, wie “TagesWoche”-Redaktor Philipp Loser schon vor ein paar Tagen treffend kommentierte.

Dass der Sturm chancenlos ist, war schon bei seiner Ankündigung klar. Die schweizweit bekannten SVP-Schlüsselfiguren, seit langem mit dem Etikett “Hardliner” stigmatisiert, vermögen nicht in die Mitte auszustrahlen, um dort die entscheidenden Stimmen zu holen.

Trotz dieser mehr als klaren Ausgangslage generiert die grosse Medienkonferenz von Brunner, Blocher und Baader im Bundesmedienzentrum einen Grossauflauf. Der Sturm auf die Agenda war geglückt, eine blosse Ankündigung beherrschte die Schlagzeilen aller Mediengattungen. Und sie blieb Thema, monatelang.

Es scheint sich zu einem ungeschriebenen Gesetz entwickelt zu haben: Wen die SVP ruft, strömen die Medienschaffenden herbei und berichten, analysieren und kommentieren auf Teufel komm raus. Dieser Magnetwirkung hat sich die SVP in den letzten 20 Jahren hart und mit viel Cleverness erarbeitet. Die Medienlogik unterstützt sie dabei kräftig.

Stellen wir uns vor, die FDP-Spitze mit Fulvio Pelli und Gabi Huber, flankiert von den Parteistars Karin Keller-Sutter (SG) und Pierre Maudet (Genf), hätte im Frühling ebenfalls zu einer Medienkonferenz gerufen, um einzig ihr Wahlziel für die Nationalratswahlen bekanntzugeben: 20 Prozentpunkte (vgl. 2007: 15.7%), also ähnlich utopisch wie der Sturm der SVP auf das  Stöckli.

Drei oder vier Bundeshausjournalisten hätten der Einladung Folge geleistet, sich entspannt auf die Bänke gefläzt und innerlich lächelnd den Ausführungen der FDP-Spitzenleute gelauscht. Hernach wären eine paar genüssliche Glossen über den hochmütigen Freisinn entstanden.

Mark Balsiger