Cédric Wermuth hat einen Plan – für die SP, die Gesellschaft und sich selber. Der Aargauer Nationalrat ist ein gerissener Stratege, dossiersicher, selbstbewusst, zuweilen arrogant und rhetorisch beschlagen. Nicht viele Politiker in Bundesbern können dem 33-Jährigen das Wasser reichen. Das wissen viele SP-Mitglieder, gute Beobachter und er selber.
Seit Jahren liegt in der Luft, dass Wermuth Parteipräsident der SP Schweiz werden will. Allerdings gilt als ausgemacht, dass nach der 12-jährigen Ära Levrat eine Frau folgen sollte. Der Vorschlag, der gestern Abend mit wohlwollender Unterstützung der «Wochenzeitung» lanciert wurde, ist ein Co-Präsidium: Wermuth zusammen mit der Zürcher Nationalrätin Mattea Meyer. Beide kennen sich schon lange: Meyer war früher seine Assistentin, ihr Lebenspartner Marco Kistler wiederum der Mastermind der 1:12-Initiative und von Wermuths Ständeratskampagne.
Auf Twitter schrieb ich, dass schon seit Jahren die verdeckte «Operation Occupy SP» durch ehemalige Juso im Gang sei – eine Provokation. Natürlich sind viele Mitglieder der Bundeshausfraktion ehemalige Juso; das hat Tradition. Auffällig ist hingegen, wie homogen sie sich diese präsentiert. Laut der Verortung von Smartvote besteht der sozialliberale Flügel noch aus einer Person: Ständerat Daniel Jositsch (ZH). Die wenigen anderen Vertreter verabschiedeten sich inzwischen von der Politik (Pascale Bruderer, AG) oder wechselten zu den Grünliberalen (Chantal Galladé, Daniel Frei, beide ZH).
Grautöne gibt es keine, Feindrhetorik aber zuhauf
Die inhaltliche Homogenität der SP-Fraktion ist ein zentraler Punkt, der andere ist die Rhetorik der Leute, die je länger, desto mehr den Ton angeben. Im Auftritt sind Wermuth, Meyer, Fabian Molina (ZH), Samira Marti (BL), Tamara Funiciello (BE) & Co. gleich: kompromisslos und fundamentalistisch. Für sie gibt es nur Schwarz oder Weiss, richtig oder falsch. Die Grautöne, die die Schweizer Politik seit vielen Jahrzehnten prägen, halten sie für überholt. Sie wollen Staat und Gesellschaft umbauen.
Die neuen Wortführerinnen und Wortführer sind ideologisch beinhart. Sie zweifeln nie an ihren Überzeugungen, vielmehr stehen die anderen im Schilf oder sind zu dumm. Man ist entweder auf der richtigen Seite oder ein Feind. Dass politische Projekte nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen des Absenders scheitern können, scheinen sie ausgeblendet zu haben.
Der Plan «Präsidium» wird im April nächsten Jahres verwirklicht: Ich zweifle keinen Moment daran, dass Wermuth am Parteitag gewählt wird. Die Sache ist von langer Hand geplant, er kann auf das Payback seiner jahrelangen Basisarbeit zählen. Einen anderen Plan setzte Wermuth am 20. Oktober in den Sand: seine eigene Ständeratskandidatur. Er hatte sich Chancen ausgerechnet, den farblosen SVP-Konkurrenten Hansjörg Knecht abzufangen. Das wollen wir näher betrachten.
Frauen predigen, selber kandidieren
Zunächst setzte Wermuth sich parteiintern gegen Nationalrätin Yvonne Feri durch, die vermutlich bessere Chancen gehabt hätte, weil sie im Gegensatz zu Wermuth nicht polarisiert. Doch das Thema Frauenförderung pausierte gerade, was das Alphatier mit einer kommunikativen Meisterleistung zu kaschieren vermochte. Einzig der junge Journalist Hannes von Wyl schaffte es, «Feminist Wermuth» zu überführen.
Die Maschinerie kam nach der Nomination erst recht auf Touren: Wermuth stellte zwei Profi-Campaigner an, baute ein Netzwerk mit mehr als 5000 Supportern auf (mehrheitlich ausserhalb der SP-Strukturen), investierte nach eigenen Angaben mehr als 300‘000 Franken, akzentuierte sein linkes Profil und lieferte den professionellsten Wahlkampf des Jahres 2019. Die Aargauerinnen und Aargauer belohnten das nicht: Wermuth erreichte 29 Prozent und lag damit weit hinter Thierry Burkart (FDP, 43%) und Knecht (SVP, 38%). Das Resultat ist schlecht und muss eine herbe Enttäuschung sein für ihn, obwohl er öffentlich das Gegenteil sagte.
Mit diesen 29 Prozent holte Wermuth gerade einmal das linke Lager ab. Zwei Tage später gab er forfait, verkaufte das aber als Frauenförderung – eine weitere kommunikative Meisterleistung.
Er fürchtete das Verlierer-Image
In den zweiten Wahlgang wurde die grüne Grossrätin Ruth Müri geschickt, während sich SP und Grüne auf die gemeinsame Regierungsratskandidatur von Yvonne Feri verständigten. (Es fand zum selben Zeitpunkt eine Ersatzwahl statt, Feri scheiterte knapp.) Dass Wermuth seine chancenlose Kandidatur zurückzog, weil er das «Verlierer»-Image fürchtete, ist die unbequeme Wahrheit.
Wie man als SP-Mitglied im stockbürgerlichen Aargau den Sprung in den Ständerat schafft, zeigte Pascale Bruderer vor acht Jahren. Die Realpolitik mitgestalten (wie Bruderer es tat) versus 100-prozentige Linientreue, das ist eine Frage, welche die hiesige Sozialdemokratie umtreibt.
Für die neuen Leader, so scheint es, ist die reine Lehre wichtiger. Sie jubeln Bernie Sanders und Jeremy Corbyn zu, zwei alten weissen Männern – pardon, aber der musste sein! Beide konnten in den letzten Jahren die Positionen ihrer Parteien verschieben. Indessen haben sie keine Chance, US-Präsident bzw. Premierminister in Grossbritannien zu werden. So stürzte Corbyns Labour-Partei, die u.a. mit einem Verstaatlichungsprogramm punkten wollte, jüngst mit einem Minus von 7.8 Prozentpunkten ab.
Zurück zur SP. Sie ist eine Volkspartei und vereint die 22-jährige Ethnologiestudentin in Genf und den pensionierten Eisenbahner in Erstfeld, die selbständige Treuhänderin in Muttenz und den Heilpädagogen im Toggenburg. Wie die Basis auf die inhaltliche Neupositionierung (à la Corbyn?) und die kompromisslose Rhetorik reagieren wird, ist offen.
Mit 16.8 Prozentpunkten hat die SP im Herbst das schlechteste Resultat in ihrer Geschichte erzielt. Die nächste Bilanz wird am 22. Oktober 2023 gezogen.
Weitere Einschätzungen und Interviews:
– Cédric Wermuth, ein Geschenk für die Grünen (21. Dezember)
Blick, Christian Dorer
– Der Parteipräsident*in (22. Dezember)
SonntagsBlick, Frank A. Meyer
– Interview mit dem neuen SP-Nationalrat Jon Pult (23. Dezember)
Republik, Dennis Bühler
– Das Interview mit Mattea Meyer (Abo, 7. Januar 2020)
Tamedia, Raphaela Birrer, Markus Häfliger