Das Kreuz der CVP mit dem C

Auch dieser letzte Effort vor den eidgenössischen Wahlen nützte nichts.

Die CVP bleibt auf der Kriechspur. Eben erst rutschte sie bei den kantonalen Wahlen in Freiburg um 4 Prozentpunkte ab und verlor 6 Sitze. Das ist schmerzhaft, gerade in einer Hochburg. Dasselbe Bild wurde bei Nationalratswahlen zum Standard: 1979 erreichten die Christlichdemokraten noch 21.3 Prozentpunkte, am 23. Oktober dieses Jahres waren es noch 12.3. Das entspricht einem Minus von 9 Prozent. (Zum Vergleich: Die FDP verlor in derselben Zeitspanne 8.9 Prozentpunkte.)

Dieser Tage wurden aus der C-Gemeinschaft Stimmen laut, die den Parteinamen CVP abschaffen wollen. Namentlich der Kantonalpräsident der CVP Aargau, Franz Hollinger, machte solche Aussagen gegenüber den Medien – und steckte prompt zum Teil heftige Kritik ein.

Diese Kontroverse weckt bei mir Erinnerungen. Im Frühling 2004 war eine vergleichbare Debatte schon einmal entbrannt. Ich wurde damals von der CVP zur traditionellen Zurzacher Tagung eingeladen. Meine Aufgabe: Die Partei wachrütteln. Die Verarbeitung der Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler hatte eben begonnen.

Ich entschied mich, mit diesem Referat kräftig zu provozieren. Insbesondere auf das C hatte ich es abgesehen. Das C bedeute für die allermeisten Leute “katholisch”, und das verunmögliche es der CVP, neue Wählersegmente zu erobern. Gerade in den urbanen und stark bevölkerten Kantonen auf der Achse St. Gallen – Lausanne sei es ein Kreuz mit dem C. Es funktioniere auch nicht als Klammer, die das Land zusammenhalte. Dafür sei die Partei in etlichen Kantonen viel zu schwach und insgesamt zu heterogen aufgestellt (Beispiel: Fristenlösung).

Die Optionen, die ich den Parteimitgliedern aufgezeigt hatte:

Es war keine Brandrede. Aber meine Provokation sorgte für eine lange und intensive Diskussion. Natürlich äusserte sich eine klare Mehrheit gegen eine Abschaffung des C – und ich entgegnete, dass der Leidensdruck vermutlich noch weiter steigen müsse. Eine weitere Stufe ist jetzt erreicht. Reto Nause, früher Generalsekretär der CVP Schweiz und seit 2009 Mitglieder der Berner Stadtregierung, sprach in einem Interview im “Sonntag” von einer neuen Mittepartei.

Solche Ideen dürften in den nächsten Jahren (noch) nicht mehrheitsfähig werden. Das liegt nicht nur an den theoretisch anvisierten Ehepartnern – vorab an der BDP und der GLP -, sondern auch an der CVP selber. In den Sonderbundskantonen ist die Partei zu stark verwurzelt, um einen solchen Wurf ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das zeigen Aussagen der Freiburger Parteibasis im “Echo der Zeit” von gestern Abend. Der Mut fehlt, die Gefahr des Scheiterns wäre beträchtlich.

Ein grosses Problem der CVP ist es, dass sie auf der Achse St. Gallen – Lausanne mehrheitlich nur eine marginale Bedeutung hat. Also dort, wo heute rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt, in den fünf bevölkerungsreichsten Kantonen, die zusammen 106 der 200 Nationalratssitze beanspruchen.

Eine Fusion mit der FDP, die seit einigen Jahren immer mal wieder aufgewärmt wird, oder mit den anderen christlichen Parteien EVP und EDU bleibt toter Buchstabe. Wenn die Achse St. Gallen – Lausanne in den nächsten 10 bis 20 Jahren nicht konsequent mit einem Masterplan beackert werden kann, dürfte die CVP zur Alpen-CSU werden, die sich bei 10 Prozentpunkten einpendelt. Mit dem gravierenden Unterschied, dass die CSU im Freistaat Bayern weiterhin allmächtig ist.

Die Folien meines Referats an der Zurzacher Tagung 2004 zum Herunterladen:

Die CVP, gestern, heute – und morgen? Referat von Mark Balsiger (PDF)

P.S.  Patrik Müller, Chefredaktor beim “Sonntag”, vertritt einen anderen Standpunkt. Er schreibt, dass nur das C die CVP retten könne. Das C stehe ja nicht für Kirche und auch nicht für Katholizismus, sondern für die Grundwerte unserer christlich geprägten, westlichen Gesellschaft.

Weitere Analysen, die später erschienen sind:

Ohne “C” würde die CVP zerfallen (14.04.2012, Michael Hermann, Sonntag)
Ratlos, zerrieben und erschöpft (20.04.2012, Claudia Blumer, TA/Newsnet)

Mediendokumentation der CVP zum 100-Jahr-Jubiläum (22.04.2012; PDF)

Sujets:

– CVP-Plakate: Thomas Merz
– Folien/ppt: Mark Balsiger
– Grafik: border-crossing

Pendlerblatt “News”: Ganz versenken oder als Kampfblatt im Aargau positionieren?

Es lag ja schon lange in der Luft: bei “News” sind Veränderungen fällig. Die Pendlerzeitung aus dem Hause Tamedia streicht die Segel nicht ganz, ab Ende August kriegt man sie nur noch im Grossraum Zürich.

Mit “News” leistete sich Tamedia den Luxus, zwei andere Zeitungen aus dem eigenen Haus, “Tages-Anzeiger” und “20Minuten”, zu kannibalisieren. Nachdem im Mai das Gratisblatt “.ch” eingestellt worden war, hätte man ein schnelles Aus von “News” erwarten dürfen. Mit “News” ging es Tamedia-CEO Martin Kall nur um eines: “.ch” aus dem Markt bugsieren.

Die Frage, die übrig bleibt: Wird “News” bald komplett versenkt oder tüftelt man an der Werdstrasse in Zürich an einer Strategie, um die Position des Aargauer Quasimonopolisten Peter Wanner mit seinen AZ Medien anzugreifen? Zuerst das Limmattal, dessen Bevölkerung wirtschaftlich und kulturell ohnehin komplett auf Zürich ausgerichtet ist, dann andere Regionen.

Vor 20 Jahren versuchte der “Tages-Anzeiger”, sich im Aargau besser zu etablieren. Doch die Pläne, in Aarau oder Baden eine ersthaft dotierte Redaktion aufzubauen, wurden nie umgesetzt. Damals ging es auch um einen publizistischen Anspruch, heute nur noch um den schnöden Mamon.

Mark Balsiger

Pendlerzeitung “.ch” wird per sofort eingestellt – wann folgt “News”?

punktch1Zwanzig Monate nach seiner Lancierung ist “.ch” (Punkt CH) Geschichte: Die Gratiszeitung wird per sofort eingestellt, wie der Verlag in einer Medienmitteilung von heute Morgen schreibt. Angesichts der “Schwere der Wirtschaftskrise” sei es für den Verwaltungsrat nicht mehr realistisch, dass “.ch” wie geplant bis Ende 2011 die Gewinnzone erreichen werde.

Die Einstellung kommt nicht überraschend, allerdings bin ich davon ausgegangen, dass erst im Sommer die Luft zu dünn wird.

Die grosse Frage, die sich nun stellt: Was geschieht mit der Pendlerzeitung “News”, die von Tamedia verlegt wird? Sie gilt als Antwort auf die Lancierung von “.ch”. Dass “News” vorab den “Tages-Anzeiger”, aber auch “20 Minuten” kannibalisiert, ist eine Tatsache. Das wird bei Tamedia in Kauf genommen, weil es um das BIG Game geht.

Wenig beschönigend darf man von einem Zeitungskrieg sprechen, der im Gange ist. Auf dem Schlachtfeld “Pendlerzeitungen” will Tamedia-CEO Martin Kall den Mitkonkurrenten “.ch” über die Klippe jagen. Das hat er nun vor allem dank der Wirtschaftskrise geschafft. Die Legitimation von “News” ist deshalb ab sofort infrage gestellt. Gut möglich, dass schon in ein paar Wochen auch dieses Blatt eingestellt wird. Das geht allerdings nur mit einem kommunikativen Rückwärtssalto. Man darf gespannt sein.

Eine Option wäre, dass “News” in Zukunft nur noch als Kampfblatt im Kanton Aargau verteilt wird. Dort will Tamedia die Position der AZ Medien von Peter Wanner angreifen. Die Vorbereitungen für diese Schlacht haben zwar bereits begonnen, bislang sind aber kaum Bauern gefallen.

Die SP krankt auch in der Krise

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Kantonale Wahlen eignen sich vorzügig, um die Temperatur der Bevölkerung und der Parteien zu messen. Nach den Parlamentswahlen in den Kantonen Aargau und Solothurn von Anfang März kann man konstatieren: die SP hat nicht nur Fieber, sie ist sogar ernsthaft krank.

Genauso wie die Konjunktur ein Auf und Ab zeigt, steigt und sinkt die Wählerstärke der SP auf nationaler Ebene. In den letzten 40 Jahren schwankte sie zwischen 19,0 und 24,9 Prozent.

Die massiven Verluste der SP im Aargau (- 4,2% bzw. minus 8 Sitze) und im Kanton Solothurn (- 4,2% bzw. minus 4 Sitze) reihen sich ein in eine Serie von Niederlagen, die bereits 2004 ihren Anfang nahm. In der Mehrzahl der Kantone hat die SP seither verloren, ein klarer Trend ist aber trotzdem noch nicht zu erkennen. Bei den Nationalratswahlen 2007 verlor sie 3,8 Prozent, für Schweizer Verhältnisse ist das ein Erdrutsch.

Mitten in der Wirtschaftskrise taumelt auch die SP. Gerade angesichts der Wirtschaftslage, die die soziale Frage und die Arbeitsplatzsicherheit in den Vordergrund rücken, sind die jüngsten Wahlresultate eine dicke Überraschung.

Woran krankt die SP? Ich mache fünf Gründe aus:
1. Mobilisierung
2. Potpourri an Themen
3. Dogmatische Positionen
4. Bundesratsmitglieder
5. Konkurrenz durch Grünliberale

Das Problem der Mobilisierung (1) hat die SP schon seit vielen Jahren, und das ist der einzige Punkt in meiner Auflistung, der sich hart nachweisen lässt. Die Sozialdemokraten bringen viele Parteigänger und -sympathisanten nicht an die Urnen. Im Gegensatz zur SVP, die ihr Potential teilweise bis zu 95 Prozent ausschöpft.

Die Partei schafft es nicht, sich über Jahre hinweg auf ein paar wenige Themen zu konzentrieren (2). Sie tritt mit dem Anspruch an, fast überall kompetent zu sein, und ist das womöglich auch. Allein: die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist knallhart. Entsprechend bleibt beim breiten Publikum, das sich nur am Rande für Politik interessiert, wenig hängen. Oder die Themen kommen an wie ein Potpourri.

Herr und Frau Schweizer sind nüchtern und pragmatisch. Die Abkehr vom jahrzehntelang als “unverhandelbar” bezeichneten Bankgeheimnis, die sich binnen weniger als zwei Wochen durchsetzte, zeigt das exemplarisch. Gleichzeitig hat die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ein Problem mit dogmatischen Überzeugungen (3), die mitunter giftig oder arrogant artikuliert werden. Vereinzelte SP-Mitglieder müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, auf einem Auge blind zu sein. Bei den anderen Parteien zeigt sich eine ähnliche Problematik, allerdings scheint es, dass man ihnen gegenüber toleranter ist.

Heutzutage werden Parteien vor allem durch ihre Mitglieder im Bundesrat wahrgenommen (4). Das liegt vor allem am Mediensystem, das radikal personalisiert. Die Bundesräte machen in diesem Spiel allerdings aktiv mit und versuchen sich mit grossen Auftritten und Reisen ins Ausland zu profilieren.

Die SP hat den Malus, dass ihre beiden Mitglieder in der Landesregierung den Zenit überschritten haben. Moritz Leuenberger wurde 1995 gewählt, damals noch keine 50 Jahre alt. Er marschierte als 68er durch die Institutionen bis ganz nach oben, und war in seinen ersten Bundesratsjahren für die Linke ein Hoffnungsträger. Bei den eidgenössischen Wahlen 1999 lieh Leuenberger sein Konterfei sogar für eine Plakatkampagne der SP.

Seit geraumer Zeit ist Leuenberger aber zur Belastung für die eigene Partei geworden. Und auch bei Micheline Calmy-Rey ist inzwischen der Lack ab. In den ersten Jahren war sie jeweils das populärste Mitglied im Bundesrat. Das hat sich nach ihren regelmässigen Provokationen und Tritten in den Fettnapf geändert.

Schliesslich kriegte die SP im urbanen Raum eine neue Konkurrenz: die Grünliberalen (5). In den Städten und Agglomerationen gibt es eine gut gebildete Bevölkerungsschicht, die ökologisch denkt und handelt, mit der Rhetorik und den Themen der SP aber nur beschränkt etwas anfangen kann. Diese Schicht scheint mit den Grünliberalen eine (neue) Heimat gefunden zu haben.

Die SP krankt also auch in der Krise. Christian Levrat, seit einem Jahr Parteipräsident der SP Schweiz, hat alle Hände voll zu tun. Bei seiner Einschätzung zu den elektoralen Schlappen in den Kantonen Aargau und Solothurn nannte er zwei Gründe:

1. die Mobilisierung
2. die fehlende Zuspitzung

Mit Verlaub, Levrat ist ein Meister der Zuspitzung. Er politisiert mit List und Lust, ist ein ausgebuffter Campaigner, und er tanzt seinen Gegenspielern regelmässig auf der Nase herum. Ein fähiger Mann, beim eigenen Parteivolk beliebt, bloss: reicht das, um wieder Wahlen zu gewinnen?

Foto Christian Levrat: blick.ch

Aargauer Wahlkampf: Die Schlussphase ist dumpf und erschütternd

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Ich beklagte schon wiederholt, dass die Kandidierenden ihren Wahlkampf zu wenig engagiert führen. Wenn Engagement allerdings durch dumpfe Provokation ersetzt wird, erleidet die Politik in ihrer Gesamtheit einen irreparablen Schaden.

In den letzten Tagen hat im Aargau das Inserat eines vorgeschobenen Elternkomitees “Keiner wählt Rainer” für Wirbel gesorgt (siehe Inserat oben). Diese Geschmacklosigkeit gegen Regierungsrat Rainer Huber (cvp) haben die Grossräte Urs Haeny (fdp) und Andreas Glarner (svp) zu verantworten.

Glarner sorgte schon wiederholt für Wirbel mit umstrittenen Plakatsujets. Wir erinnern uns: 2007 ging er mit ähnlichen Provokationen auf Stimmenfang:

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Glarner – laut Eigenwerbung “Hardliner statt Weichspüler” – ist nicht bloss ein Grossrat unter vielen, er ist Fraktionschef der grössten Partei im Aargau. Für den Sprung in den Nationalrat reichte es ihm nicht.

Mit der neuerlichen Entgleisung erweisen Glarner & Co. den offiziellen SVP- und FDP-Kandidierenden einen Bärendienst.

Quellen:
– Inserat: aargauerzeitung.ch
– Plakatsujet: andreas-glarner.ch

Mit Christian Dorer wird ein kreativer Kopf Chefredaktor der “Mittelland Zeitung”

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Als wir uns zum ersten Mal begegneten, hatte er gerade den Stimmbruch hinter sich. Am Wochenende wurde seine Ernennung zum Chefredaktoren der “Mittelland Zeitung” publik. Christian Dorer konnte schon als Kantonsschüler ausgezeichnet schreiben, ab Februar 2009 wird der 33-jährige eine der auflagenstärksten Tageszeitungen der Schweiz führen. Eine steile Karriere.

Dorer verdingte sich als freier Mitarbeiter beim damaligen “Aargauer Tagblatt”, schrieb über Jungbürgerfeiern und Turnerabende, Vernissagen und Fasnachtsumzüge. Die Abgabe der Manuskripte wurde jeweils am Folgetag um 14 Uhr erwartet – eine Auflage, die einen lernt, effizient zu arbeiten. Gerade weil die Veranstaltungen oft bis tief in den Abend hinein dauerten und am nächsten Morgen wieder die Schule im Vordergrund stehen musste. Womöglich profitierte Dorer auch vom Gen in der Familie: seine Mutter ist seit vielen Jahren als Redaktorin tätig.

Nach einem abgebrochenen Studium, einem Abstecher in eine Lokalredaktion der “Aargauer Zeitung” und der Ringier-Journalistenschule arbeitete Dorer ab 2001 im Bundeshaus. Zuerst für den “Blick”, später für den “SonntagsBlick”, dessen stellvertretender Chefredaktor er vor zwei Jahren wurde. “Puuh, Boulevard!”, reklamiert da jemand. Falsch, finde ich. Dorer hat es bei Ringier verstanden, komplexe Sachverhalte konzis und unverzerrt auf den Punkt zu bringen.

Christian Dorer ist kreativ, er bringt immer wieder eigene, gut recherchierte Geschichten. Zudem ist er neugierig, richtig neugierig. Unvoreingenommen geht auf seine Gesprächpartner ein, hört ihnen gut zu, fragt nach. Das scheint mir besonders wichtig, denn: viele Medienschaffende haben heute keine Fragen mehr – bestensfalls noch Suggestivfragen. Der Thesenjournalismus grassiert. Das ist nicht Dorers Ding.

Er hat eine weitere Qualität: Im Gegensatz zu anderen Medienschaffenden plustert sich Dorer nicht auf, er interpretiert seine Rolle als Beobachter und Beleuchter, nicht als Akteur. Im Auftritt ist er bescheiden und hoch anständig. Ich erinnere mich, wie ich ihn letztes Jahr im Bundeshaus sah. Er traf sich mit einer Bundesrätin zu einem Interview.

Nach eigenen Angaben versteht sich Dorer auch in Zukunft als Journalist. Seit einigen Jahren sind Chefredaktoren vorab als Manager tätig, kaum mehr als Publizisten. Das hat mit dem enormen Konkurrenzkampf zu tun. Im Mittelpunkt stehen Auflagen, Budgets und die Bedürfnisse der Werbewirtschaft. Der redaktionelle Teil wird schleichend marginalisiert, in den Redaktionen sitzt die Angst vor der nächsten Sparrunde, Entlassungen und Einstellungen.

Wir dürfen gespannt sein, wie Christian Dorer sich und sein Blatt in diesem schwierigen Umfeld positioniert. Der Anspruch von Verleger Peter Wanner ist seit Jahren derselbe: Die “Mittelland Zeitung” soll eine publizistische Stimme werden, die auf nationaler Ebene wahrgenommen wird. Dorer wird auch intern kämpfen und sich durchsetzen müssen. Die Messer sind gewetzt, nicht alle mögen dem Wiederzuzüger den neuen Job gönnen.

Foto Christian Dorer: www.is.blick.ch

Die Nationalhymne kommt in allen Schulstuben – danke, Milly Stöckli

Achtung, dieser Beitrag ist womöglich nicht ganz satirefrei

Es soll politische Gremien geben, die sich gelegentlich vergaloppieren, Papiertiger gebären, das Wesentliche nicht mehr vom Unwesentlichen trennen können – oder schlicht die Realitäten des Lebens ausblenden.

schweizer_fahne3.jpgDas darf man dem Aargauer Kantonsparlament bei seinem wichtigsten Entscheid des gestrigen Tages gewiss nicht unterstellen. Mit 58 zu 57 Stimmen befand es, dass die Nationalhymne in den Lehrplänen verankert werden muss. Für die Primarschüler heisst das: Sie haben künftig die vier Strophen des Schweizer Psalms auswendig zu lernen.

Diese frohe Botschaft ist inzwischen auch in den Schulstuben angekommen. Nach vorerst unbestätigten Angaben soll sie enthusiastische Reaktionen ausgelöst haben. Der halbe Aargau im kollektiven Freudentaumel, endlich einmal etwas, das verbindet!

Der Vorstoss im Parlament lancierte Grossrätin Milly Stöckli. Nicht nur fromme Seelen erahnen vermutlich schon, welcher Partei sie angehört. Mitverantwortlich für das Schweizer-Psalm-Obligatorium sind – die Ausländer und deren Kinder. Das erklärte Stöckli am Rednerpult so:

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Die Nationalhymne ist also für Primarschüler obligatorisch, die Nation gerettet. Wir freuen uns auf weitere Reformen dieses Kalibers.


O-Ton: SR DRS, Regionaljournal Aargau Solothurn
Foto: picswiss.ch

Gratiszeitungen vermüllen die Bahnhöfe und fördern die Integration

“News”- schon am frühen Morgen beim Kaffee. Bei der Lektüre der bezahlten Qualitätszeitungen. Links im Blatt, ganzseitige Inserate, vierfarbig: Ein Mann, ganz in Schwarz, die Roger-Staub-Mütze übergezogen, das Gewehr schussbereit. Wir dürfen annehmen, dass es sich um einen Terroristen oder Freiheitskämpfer handelt. Es ist ein Bild wie wir sie schon zu Tausenden gesehen haben. Aus dem Nahen Osten. Den Krisenherden in Afrika. Afghanistan.

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Die Werber, die die neue Gratiszeitung “News” anpreisen, haben den ersten Test nicht bestanden. Konflikte, Schiessereien und dergleichen fernab der Heimat – das ist ein Overkill. Solche News interessieren uns kaum mehr, so abgebrüht, ja zynisch das klingen mag.

Doch zurück zu “News”: Branchenkenner sagen, dass es im Deutschschweizer Markt Platz für zwei Gratiszeitungen hat. Über Sein oder Nichtsein entscheidet nicht der Inhalt und das Layout. Wichtiger sind:

– die Werbewirtschaft
– die Potenz und Geduld der Investoren
– die Auflage, die die WEMF in einem Jahr erheben wird
– das Verhalten der Konkurrenz

“20 Minuten” hat sich längst etabliert und ist inzwischen klar die auflagenstärkste Zeitung. Bleibt der Kampf um Platz zwei. “News” sei nur lanciert worden, um das andere Gratisblatt “.ch” wieder vom Markt zu drängen. So die Behauptung, die sich hartnäckig hält. Markus Eisenhut, Co-Chefredaktor der “Berner Zeitung”, hielt am letzten Berner Medientag dagegen: “Wenn wir dieses Produkt nicht lanciert hätten, würde das ein ausländischer Verlag tun.”

Ich befasste mich vor einigen Jahren intensiv mit dem damals neuen Phänomen Gratiszeitung, diese Arbeit ist elektronisch leider nicht verfügbar. Das Forschungsobjekt war “Metro”, eine Zeitung, die von Sao Paolo bis Stockholm in etwa 100 grossen Städten mit Erfolg verbreitet wird. In der Schweiz hiess das Tochterblatt “Metropol”, dessen Produktion Anfang 2002 wieder eingestellt wurde.

Die Macher von “Metro” wollen einerseits der jungen Generation das Lesen von Zeitungen schmackhaft machen. Später, im Alter von 35 bis 40 Jahren, sollen sie an die Qualitätszeitungen herangeführt werden. Eine soeben veröffentlichte Studie des deutschen Journalistikprofessors Michael Haller zeigt auf, dass in diesem Alter das Bedürfnis nach vertiefter Information steigt.

Eine andere Zielgruppe: Migratinnen und Migranten, die die Landessprache(n) teilweise nur rudimentär beherrschen. Mit der regelmässigen Lektüre einer Gratiszeitung können sie ihre Sprachkompetenz sukzessive auf- und ausbauen, was wiederum die Integration dieser Menschen fördert. Auffälliger ist seit gestern die noch verstärktere Vermüllung der Bahnhöfe und Busstationen durch die Gratiszeitungen.

“News” kommt – wer muss gehen?

Morgen erscheint erstmals die neue Pendlerzeitung “News”. Sie wird von “Tages-Anzeiger”, “Berner Zeitung” sowie der “Basler Zeitung” herausgegeben. Sie drängt in einen Markt, der völlig übersättigt ist. Worum geht es also bei dieser Neulancierung? Eine Auslegeordnung.

Die Gratiszeitungen heissen:

– “20 Minuten” (mit regionalen Splitausgaben Zürich, Basel, Bern, Luzern, Ostschweiz und Romandie)
– “Le Matin bleu”
– “heute” (wird als einzige Zeitung der Schweiz jeweils ab ca. 16 Uhr aufgelegt)
– “.ch” (seit September auf dem Markt)
– “cash daily”

“20 Minuten” ist die bislang einzige Gratiszeitung, die Profit macht. Und wie: Sie hat inzwischen die höchste Auflage aller Schweizer Zeitungen erreicht. Das freut die Werbewirtschaft, die stark auf diesen Titel setzt. Die Insertionstarife von “20 Minuten” konnten deshalb schon mehrfach angehoben werden. Eine Erfolgsgeschichte – ökonomisch.

Zu den Verlierern zählen die so genannten Bezahlzeitungen. Sie haben in den letzten Jahren gesamthaft 10 Prozent ihrer Auflagen verloren. Ergatterten sie 1993 noch 50 Prozent des Werbekuchens, waren es im Jahr 2005 noch 34 Prozent.

Für die Verleger ist darum klar: Sie müssen im Gratiszeitungsmarkt mitmischen – um jeden Preis. Es geht nicht um das wichtige Gut namens Information, sondern darum, Geld zu machen bzw. zu überleben. Mit den Gratiszeitungen sollen die Bezahlzeitungen quersubventioniert werden. Dass die Rechnung nicht aufgehen kann, liegt auf der Hand. Eine Vielzahl der Inserate, die wir bei unserem täglichen Zeitungskonsum überblättern, sind heute nicht mehr bezahlt.

Die Ankündigung von “News” brachte Peter Wanner in Rage. Der Chef der AZ Medien Gruppe (“Mittelland Zeitung”, Radio Argovia, Tele M1)  sagte am 1. November 2007 in einem Interview mit seiner Zeitung, dass “News” keine publizistische Funktion habe, sondern lediglich dazu diene, “.ch” zu vernichten: “Gleichzeitig soll der ‘Mittelland Zeitung’ im Werbemarkt Schaden zugefügt werden. ‘News’ ist nichts anderes als das Zerstörungsschiff der Kriegsflotte von Tamedia-Chef Martin Kall. Ich persönlich halte es für höchst bedenklich, wenn nun in der Medienbranche eine solche Bedrohungs- , Einschüchterungs- und Zerstörungspolitik Einzug hält.”

Diese Vermutung hört man oft in der Branche: “News” soll die Gratiszeitung “.ch” von PR-Berater Sacha Widgorovits verdrängen. Verschiedentlich wurde darauf spekuliert, dass alleine die Ankündigung von “News” ausreicht, damit Widgorovits das Handtuch wirft. Das ist nicht passiert. Bislang.

Die zweite Sorge Wanners: Die Knautschzone zwischen Zürich, Bern und Basel ist wirtschaftlich interessant, allein im Kanton Aargau leben rund 550’000 Menschen. Deswegen will “News” in diesem Dreieck den Quasi-Monopolisten, die “Mittelland-Zeitung”, herausfordern. Peter Wanner hat bereits angekündigt, mit einem “innovativen Produkt” gegen den Markteintritt von “News” zu kämpfen. Ich vermute, dass der Regionalteil, der der “Aargauer Zeitung” im Tabloidformat in 10 Splitversionen eingesteckt wird, die Antwort Wanners sein wird. Gratis aufgelegt.

Das wird ein regelrechter Mehrfrontenkrieg: “News” vs “.ch”, “News” vs Wanners neues Produkt, alle gegen alle. Die Frage ist: Wem geht zuerst der Atem aus? Und auch Ringiers “cash daily” und “heute” sind noch lange nicht über den Berg. Weiter: Wer soll das alles lesen – oder wenigstens durchblättern?

In einem grösseren Kontext stellt sich eine weitere Frage: Was geschieht mit der “Basler Zeitung”? Wird sie von Tamedia geschluckt oder von Wanners “Mittelland-Zeitung”? Gut möglich, dass wir bereits im nächsten Jahr die Antwort erhalten werden.

Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit

Die Selbstkritik zuerst: Der Titel des Podiums, das wir organisierten, war sperrig: „Wahlkampf – gestern – heute – morgen“. Der Anlass, der gestern Abend im „Käfigturm“ in Bern in Szene ging, war das hingegen nicht.

Unter der Leitung von Artur K. Vogel, Chefredaktor bei der Tageszeitung „Der Bund“ diskutierten:

  • – Nadine Masshardt, SP, die jüngste Grossrätin im Kanton Bern (22-jährig)
  • – Johannes Matyassy, Kantonalpräsident der FDP Bern
  • – Prof. Dr. Roger Blum, Medienwissenschaftler an der Uni Bern
  • – Der Bloggende (Mark Balsiger, Co-Autor des Buches „Wahlkampf in der Schweiz“)

Ein paar Aussagen, die in dieser Diskussionsrunde sinngemäss fielen:

Johannes Matyassy, FDP:

– Medienpräsenz ist sehr wichtig. Doch das alleine reicht nicht. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit.
– Die FDP ist eine Partei voller Individualisten.
– Ich habe das Gefühl, dass bei uns sich alle für unsere Ständeratskandidatin Dora Andres einsetzen. Bei der SVP ist es umgekehrt: Kandidat Werner Luginbühl setzt sich für seine Partei ein.

Nadine Masshardt, SP:

– Jung sein ist noch kein Programm.
– Bei Gesprächen mit Unbekannten stelle ich fest, dass ich meistens auf Grund meiner inhaltlichen Arbeit angesprochen werde.
– Bei den Nationalratswahlen 2003 sind Kandidierende der SP auch dank des Strassenwahlkampfs gewählt worden.
– Für mich ist der persönliche Austausch mit den Menschen auf der Strasse sehr wichtig. Ich will mit ihnen diskutieren, ihre Anliegen hören.

Roger Blum:

– Wenn im redaktionellen Teil über einen Kandidaten berichtet wird, ist das glaubwürdiger als ein bezahltes Inserat.

Mark Balsiger:

– Der moderne Wahlkampf ist der Kampf um die Schlagzeilen von morgen.

Vor dem Podium beleuchtete Roger Blum in einem kurzen Referat den Wahlkampf.

Ein paar Aussagen Blums:

– In den 1850er Jahren nannten die Zeitungen im Kanton Basel-Landschaft manchmal erst eine Woche vor den Wahlen die Namen der Kandidaten.
– Während dieser Phase lag die Wahlbeteilung jeweils zwischen etwa 25 und 38 Prozent.
– 1967 spielte erstmals das Fernsehen im Wahlkampf eine Rolle: Die Parteien konnten in drei grossen Sendungen auftreten.
– Weil im Kanton Aargau das linksliberale „Team 67“ den deutschen Schriftsteller Günter Grass vor seinen Karren spannte, erschienen bei einer Versammlung einmal 5000 Leute. Bei den Wahlen holte das „Team 67“ nicht einmal 5000 Stimmen.
– Die Parteien haben die Herausforderungen der Mediengesellschaft noch zu wenig erkannt: Die FDP und die SP haben ihren den letzten 20 Jahren ihre herausragenden Köpfe, nämlich ihre Bundesräte und Parteivorsitzenden, viel zu wenig in der Vordergrund gestellt.

Berichterstattung:
Podium Politforum Käfigturm (“Bund”, 6. September 2007; PDF)

Mark Balsiger

P.S.  Einmal mehr absolute Transparenz: Ich berate weder Nadine Masshardt noch Johannes Matyassy im Wahlkampf. Sonst wären sie für uns als Podiumsteilnehmende nicht infrage gekommen. Das ändert nichts an meiner Überzeugung, dass Masshardt und Matyassy im Berner Wahljahr 2007 zwei ausgesprochen spannende Personen sind.