GAST-BEITRAG von Samuel Kullmann*
Die Politikabstinenz der jungen Generation schwappt regelmässig in die Massenmedien. Allgemein wird jungen Menschen selten grosses politisches Interesse zugesprochen. Etablierte Parteien wiederum beklagen sich über fehlenden Nachwuchs. Doch selbst wenn junge Politikerinnen und Politiker sich organisieren und selber kandidieren, rechtfertigt der fehlende Erfolg nur selten den Aufwand.
Obwohl aus demokratietheoretischer Sicht Parlamente einigermassen repräsentativ sein sollten, ist die Gruppe der 18- bis 29-Jährigen in allen Parlamenten auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene massiv untervertreten. Erklärungen sind schnell zur Hand: Jungen fehle in der Regel ein grosser Bekanntheitsgrad und sie hätten nur bescheidene finanzielle Mittel zur Verfügung. Oft wird ihnen nahegelegt, sich zuerst durch die politischen Institutionen hochzuarbeiten und so ihre Sporen abzuverdienen.
Ist es wirklich so einfach? Spielen nicht institutionelle Faktoren eine viel grössere Rolle für die politische Untervertretung der Jugend als allgemein angenommen? Falls ja, wie könnten demokratische Lösungsvorschläge aussehen? Die Erörterung dieser Fragen war Gegenstand einer Arbeit, die ich zum Thema Parlamentsforschung verfasst habe. Die Arbeit bezog sich auf die Bernischen Parlamentswahlen 2006 (Grosser Rat).
Abbildung 1: Altersstruktur der Kandidierenden für den Grossen Rat im Kanton Bern.
Abbildung 2: Altersstruktur der Gewählten.
Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass der Anteil der Kandidierenden zwischen 18 und 29 Jahren 20,5 Prozent beträgt, was dem Postulat einer pauschalen Politikverdrossenheit der Jugend klar widerspricht. Ganz anders hingegen zeigt sich das Bild bei der Altersstruktur der gewählten Grossratsmitglieder (Abbildung 2): Lediglich 1,9 Prozent der Gewählten sind 29 Jahre oder jünger. Im Vergleich zur Restbevölkerung ist die Jugend unter 30 im Grossen Rat im Verhältnis 1:10 untervertreten. Obwohl 18-Jährige seit 1991 das passive Wahlrecht haben, bleibt dieses Bürgerrecht für ihre Generation mangels realer Wahlchancen so gut wie bedeutungslos.
Doch was kann man tun, um jungen Kandidierenden bessere Wahlchancen zu ermöglichen? Daniel Bochsler (2005) schreibt:
“Schon seit langem hat die politikwissenschaftliche Forschung davon Abstand genommen, Wahlverfahren zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl zu unterscheiden (vgl. Duverger 1951). Führende Wahlsystemforscher nennen die Grösse der Wahlkreise als entscheidendes Merkmal von Wahlsystemen (Taagepera/Shugart, 1989, 112ff.).”
Im Kanton Bern lag die Hürde für einen sicheren Sitz zwischen 3,5 (Wahlkreis Mittelland) und 7,7 Prozent (Berner Jura). Die stärkste junge Liste (Jungfreisinnige) scheiterte jedoch mit 2,4 Prozent deutlich an dieser Hürde. Da junge Kandidierende auch auf Stammlisten kaum Chancen haben, bestände ein Lösungsvorschlag darin, ein Wahlverfahren einzuführen, welches Junglisten stärkt.
Ein solches Wahlverfahren kann der so genannte “Doppelte Pukelsheim” sein. Es handelt sich um ein biproportionales Wahlverfahren, was bedeutet, dass die Sitzverteilung sowohl in Bezug auf die Gesamtheit der Wahlkreise wie auch auf den einzelnen Wahlkreis möglichst proportional sein soll. Das Verfahren wurde bereits in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Aargau eingeführt.
Auf die Schweiz bezogen: Tritt eine Jungpartei in allen 26 Kantonen mit einer eigenen Liste an und erreicht dabei 1,5 Wählerprozente, dann sind dieser Jungpartei 3 Sitze im Nationalrat garantiert. In welchen Kantonen diese Sitze der Jungpartei zufallen, wird über einen mathematischen Algorithmus ermittelt.
Dieses Sitzzuteilungsverfahren garantiert eine möglichst hohe Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen. Einen hohen Erfolgswert der Wählerstimme hatte bei den Nationalratswahlen 2007 beispielsweise die SP, welche mit 19,55 Prozent der Stimmen 21,5 Prozent der Sitze holte, also eigentlich 4 Sitze “zu viel”. Auch die SVP erzielte mit 29,01 Prozent der Stimmen 31 Prozent der Sitze, auch 4 Sitze “zu viel”.
Einen geringen Erfolgswert hatte die EVP vorzuweisen, welche mit 2,45 Prozent lediglich 1 Prozent der Sitze machte, 3 “zu wenig”. Der Erfolgswert für alle jungen Listen war gleich 0, da keine junge Liste die jeweilige Wahlkreishürde überwinden konnte.
Doppelter Pukelsheim würde Karriere der Jungen beschleunigen
In meiner Forschungsarbeit habe ich anhand dreier Modellrechnungen aufgezeigt, dass die Jungparteien im Kanton Bern bei den Grossratswahlen 2006 zusammen bis zu 21 Sitze (13,1 Prozent der Sitze) hätten erhalten können, wenn der “Doppelte Pukelsheim” zur Anwendung gekommen wäre. Die jungen Listen hätten natürlich vor allem auf Kosten ihrer Mutterparteien Sitze geholt. Die Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Blöcken hätten sich kaum verändert, d.h. weder rechte noch linke Parteien wären irgendwie bevorzugt worden.
Die Basis der Demokratie ist, dass jede Stimme gleich viel zählt. Wegen teilweise hohen Wahlhürden (in 17 Kantonen liegt die Wahlhürde über 10 Prozent!) ist dies in der Schweiz nur beschränkt der Fall. Biproportionale Wahlverfahren wie der “Doppelte Pukelsheim” garantieren, dass jede Stimme bestmöglich in Sitze umgewandelt und der Wählerwille so gut wie nur möglich abgebildet wird. Gerade Jungparteien hätten dadurch eine äusserst gute Chance auf eine einigermassen repräsentative Vertretung in Parlamenten.
Eine Änderung des heutigen Wahlsystems erfordert aber immer noch eine mehrheitliche Zustimmung bei den heutigen Entscheidungsträgern. Die etablierten Parteien müssen sich der Frage stellen, ob sie ihre jungen Listen weiterhin als strategisch geschickte Stimmenlieferanten einsetzen oder als gleichberechtigte politische Partner mit realen Wahlchancen fördern wollen.
* Samuel Kullmann (25) studiert im Hauptfach Politologie an der Uni Bern und im Nebenfach Judaistik an der Uni Luzern. Er wohnt in Uetendorf (BE) und war selbst zwei Mal Grossratskandidat. Seinen ersten Beitrag im wahlkampfblog verfasste er im Sommer 2011 über Frauen-Kandidaturen.
– Foto Samuel Kullmann: zvg
– Grafiken: Staatskanzlei des Kantons Bern