Schluss mit den absurden Sortimentsbeschränkungen

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GAST-Beitrag von Jürg Grossen *

Das Wichtigste vorweg: Am 22. September stimmen wir über die Abschaffung einer bürokratischen Absurdität und nicht über eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten ab. Bei der Revision des Arbeitsgesetzes geht es nur darum, dass die wenigen Tankstellenshops, welche schon heute durchgehend geöffnet haben dürfen, auch nachts ihr ganzes Sortiments verkaufen können.

Heute müssen die Angestellten in diesen Geschäften jede Nacht einzelne Produkte absperren. So ist beispielsweise der Verkauf eines Cervelats in der Nacht erlaubt, der Verkauf einer Bratwurst aber verboten. Der absurde Grund: Der Cervelat kann auch roh und damit direkt vor Ort gegessen werden. Damit nicht genug, erlaubt ist beispielsweise auch der Verkauf von sechs einzelnen Flaschen “Blöterli”-Wasser, nicht aber der Verkauf von einem Sechserpack desselben Getränks, weil es in Plastik verpackt ist.

Mit Arbeitnehmerschutz hat diese Regelung nichts zu tun, denn die Angestellten sind ja sowieso anwesend. Sie würden mit einem Ja zum Arbeitsgesetz vielmehr entlastet, weil sie nicht mehr jede Nacht aufgebrachten Kunden erklären müssten, warum diese zwar eine heisse Pizza kaufen dürfen, die Tiefkühlpizza im gleichen Laden aber bis 5 Uhr morgens im Tiefkühler bleiben muss.

Wenn die Gegner des Arbeitsgesetzes nun mit einer Ausweitung der Nacht- und Sonntagsarbeit argumentieren, ist das falsch. Von der Revision des Arbeitsgesetzes sind nämlich nur Shops betroffen, welche schon heute durchgehend geöffnet haben dürfen. Aus diesem Grund verstehe ich die linken Parteien und Gewerkschaften, welche das Arbeitsgesetz bekämpfen, bis heute nicht. Mit den Ladenöffnungszeiten hat die Abstimmung schlicht nichts zu tun, diese sind und bleiben auf kantonaler Ebene geregelt. Selbst wenn man gegen eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten ist, kann man also mit gutem Gewissen ein Ja zum Arbeitsgesetz in die Urne legen.

Als Unternehmer habe ich kein Verständnis für unnötige Gesetze und ein nächtliches Bratwurstverkaufsverbot in sowieso geöffneten Geschäften ist eine bürokratische Überregulierung wie ich sie erst selten gesehen habe. Wenn das Arbeitsgesetz abgelehnt wird, wäre das ein fatales Signal und ein regelrechter Freipass für eine noch grössere Regulierungswut.

Setzen Sie deshalb ein Zeichen gegen diese absurde Bürokratie und sagen Sie wie der Bundesrat, die Mehrheit des National- und Ständerates und diverse Wirtschafts-, Gewerbe- und Konsumentenverbände Ja zur Revision des Arbeitsgesetzes.

* Jürg Grossen ist Nationalrat der Grünliberalen. Er lebt und arbeitet in Frutigen. Der Meinungsbeitrag Contra Arbeitsgesetz ist gestern erschienen.

 

Foto Jürg Grossen: zvg

Wer eine Reform will, stimmt Ja

 

jo_lang_580_gruene_chGAST-Beitrag von Jo Lang *

Jährlich sind in der Schweiz rund 40‘000 junge Männer wehrpflichtig. Etwa 60 Prozent von ihnen beginnen eine Rekrutenschule, aber nur 27 Prozent erfüllen die Wehrpflicht vollständig. In Zürich, Genf oder Neuenburg ist der Prozentsatz der Militärtauglichen etwa 25 Prozent tiefer als in den Kantonen Luzern, Ob- und Nidwalden. Für die jungen Männer aus städtischen Gebieten und besser gestellten Familien ist die Wehrpflicht bereits abgeschafft.

Für die Armee ist das weiter nicht tragisch, weil sie gar nicht mehr Leute braucht. Der Bundesrat selber sieht im Armeebericht 2010 für den Verteidigungs-Auftrag bloss noch 22‘000 Soldaten vor. Das entspricht ziemlich genau einem Rekrutenjahrgang. Aber die Wehrpflicht dauert ein Jahrzehnt länger. Der freisinnige Genfer Regierungsrat und Hauptmann Pierre Maudet fordert einen Armeebestand von 20‘000 Soldaten. Andere Reform-Militärs schlagen 30’000 bis 50‘000 Personen vor. Dafür braucht es pro Jahr höchstens einen Achtel der männlichen Wehrpflichtigen. Zudem wird die aus der Wehrpflicht resultierende Bestandsgrösse für die Wirtschaft zu einer immer schwereren Belastung. Die gut 6 Millionen Diensttage verursachen jährlich etwa 4 Milliarden Franken Opportunitätskosten.

Die Volksinitiative „Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht“ hat eine Freiwilligen-Miliz zur Folge. Diese ist offen für Männer und Frauen. Gemäss den Reformvorschlägen, die mehrheitlich von freisinnigen Offizieren stammen, braucht es pro Jahr aus dem Potenzial von 80‘000 Personen 3000 bis 5000 Freiwillige. Wer an die Verankerung des Milizprinzips in der schweizerischen Gesellschaft wirklich glaubt, der hat keine Zweifel, dass sich diese Personen finden lassen. Und wer mit dem billigen „Rambo“-Argument kommt, dem sei die Frage gestellt: Hat es heute unter den 50‘000 Offizieren und Unteroffizieren, von denen die meisten freiwillig bedeutend mehr leisten, als die Wehrpflicht verlangt, mehr Rambos als unter der Truppe?

Die Aufhebung der Wehrpflicht birgt eine weitere Chance: die Schaffung eines Freiwilligen Zivildienstes – nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen. Diese sind heute vom Zivildienst ausgeschlossen. In Deutschland ist der freiwillige Zivildienst ein grosser Erfolg. Auf die Schweiz umgerechnet, machen 8000 Frauen und Männer mit. Für den heutigen Zivildienst schliessen sich jährlich 2500 Männer an.

Der Mythos, die Wehrpflicht diene dem nationalen Zusammenhalt und dem solidarischen Verhalten, wird durch die Frauen widerlegt. Diese haben in der Regel nicht nur eine sozialere Einstellung. Bei ihnen ist der politische Röstigraben weniger breit als bei den Männern.

Wer für eine Änderung des unredlichen Status Quo ist, stimme am 22. September Ja. Je höher der Ja-Anteil für die Volksinitiative Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht ausfällt, desto grösser sind die Chancen für eine Reform.

 

* Jo Lang ist Vize-Präsident der Grünen Schweiz und ehemaliger Nationalrat. Der Meinungsartikel gegen die Abschaffung der Wehrpflicht erschien am letzten Samstag.

Foto Jo Lang: gruene.ch

Wehrpflicht schafft Sicherheit

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GAST-BEITRAG von Daniel Slongo *

Die Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) will keine Wehrpflicht mehr. Ihre Absicht ist klar: Sie will die Armee in Etappen abschaffen. Mit der Milizarmee, die auf der Wehrpflicht basiert, steht ein bewährtes Modell auf dem Spiel. Die Sicherheit von Land und Bevölkerung wäre ohne Wehrpflicht nicht mehr im gleichen Masse gewährleistet. Leidtragend wären auch die Gemeinden und die Kantone.

Das Gefühl der relativen Sicherheit seit dem Fall des Eisernen Vorhanges ist trügerisch. Gewiss: Bewaffnete Konflikte in Europa haben abgenommen. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen aber nicht. Sie sind heute diffuser, komplexer und damit weniger greifbar.  Organisierte Kriminalität, Terrorismus, Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus, unkontrollierte Migration, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Cyberwar, politischer und wirtschaftlicher Nachrichtendienst, Natur- und Technologiekatastrophen etc. müssen in der aktuellen Sicherheitspolitik berücksichtigt werden.

Verteidigungskompetenz muss erhalten bleiben

Gerade die Ereignisse der letzten paar Jahre rund um Europa herum zeigen, dass seriöse Prognosen kaum möglich sind. Es wäre fahrlässig und unglaubwürdig, in der Sicherheitspolitik auf das Prinzip Hoffnung zu setzen. Die Verteidigungskompetenz muss erhalten werden. Sie darf nicht in die Hände von wenigen Freiwilligen gelegt werden, wie dies die Initiative der Gruppe Schweiz ohne Armee verlangt. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass sich auf freiwilliger Basis zu wenig und zu wenig qualifiziertes Personal zum Dienst meldet.

Neben Aussen- und Wirtschaftspolitik, Polizei, Grenzwache, Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienst und Justiz, ist die Armee als einziges strategisches Mittel der Regierung in der Schweiz ein entscheidendes sicherheitspolitisches Glied. Ereignisse der letzten Jahre – wie zum Beispiel die Waldbrände im Simplon-Gebiet, der Erdrutsch in Gondo, Überschwemmungen in der ganzen Schweiz – haben gezeigt, wie schnell die zivilen Behörden auf die subsidiäre Unterstützung einer rasch einsatzbereiten Armee angewiesen sind.

Mit einer Abschaffung der Wehrpflicht wäre die Armee zu klein, um ihre verfassungsmässigen Aufgaben zu erfüllen. Die zivilen Partner müssten zusätzliche Aufgaben übernehmen, die Mehrkosten hätten primär die Kantone und Gemeinden zu tragen. Die Armee ist und bleibt auf absehbare Zeit das einzige schweizweit einsetzbare robuste Mittel bei Krisen, Katastrophen und Konflikten. Ihr mit der Aufhebung der Wehrpflicht das Personal zu entziehen, wäre sicherheitspolitisch fatal.

 

 * Daniel Slongo ist Generalsekretär der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG). Anfang nächster Woche wird ein Meinungsartikel der Befürworter erscheinen.

 

Foto Daniel Slongo: zvg

Mit dem neuen Epidemiengesetz passen wir uns an die heutigen Realitäten an

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GAST-Beitrag
von Ursula Zybach *

Für einen wirksamen Schutz vor Epidemien sind gesetzliche Grundlagen unerlässlich. Die Generationen unserer Eltern und Grosseltern haben dies erkannt und bereits 1970 ein Epidemiengesetz geschaffen. Es war ein gutes Gesetz, das den damaligen Bedürfnissen entsprach. Seither sind jedoch über 40 Jahre vergangen – ein halbes Menschenleben!

Vieles hat sich seither verändert: Wir Menschen sind mobiler, städtischer, globaler geworden. Erreger von übertragbaren Krankheiten reisen mit uns und unsern Güterströmen von einem Kanton zum anderen und in kürzester Zeit auch um die ganze Welt. Zudem haben sich auch die Erreger von übertragbaren Krankheiten verändert, sie haben zum Beispiel Artenbarrieren übersprungen oder sind resistent geworden gegen unsere Medikamente. Spätestens die Erfahrungen mit der Lungenkrankheit SARS haben es gezeigt: Den veränderten Bedrohungsmustern ist das Gesetz von 1970 nicht mehr gewachsen.

Deshalb wurde es umfassend überarbeitet. Es geht bei der Abstimmung vom 22. September somit um die Frage, ob die Schweiz ihr Schutz-Dispositiv gegen ansteckende Krankheiten den Gefahren von heute anpassen will, oder ob sie weiterhin mit dem Werkzeugkasten des letzten Jahrhunderts zurechtkommen muss.

Eine Revolution findet mit dem revidierten Gesetz nicht statt: Was sich bewährt hat – etwa die Impfpraxis, wie wir sie heute kennen – wird unverändert weitergeführt. Einige entscheidende Elemente werden jedoch an heutige Gegebenheiten angepasst. So sollen gefährliche Infektionskrankheiten besser als bisher verhütet, bekämpft, überwacht und früher erkannt werden. Weiter sollen nationale Programme den Schutz der Bevölkerung verbessern, Infektionen im Spital bekämpfen und die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen verhindern. Ein dreistufiges Eskalationsmodell regelt die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen in Krisensituationen, ein ständiges Koordinationsgremium stellt deren Zusammenarbeit im Alltag sicher.

Über solche Anpassungen an heutige Realitäten stimmen wir am 22. September ab. Und nicht etwa über einen wie auch immer gearteten Impfzwang, wie uns die Gegner glauben machen wollen: Einen solchen gibt es heute nicht und wird es auch morgen nicht geben. Vielmehr wird der Handlungsspielraum der Kantone, obligatorische Impfungen zu verfügen, stark eingeschränkt. Das heutige Epidemiengesetz erlaubt es den Kantonen nämlich ohne nähere Bedingungen, Impfungen für obligatorisch zu erklären. Mit dem neuen Gesetz dürfen Impfobligatorien dagegen nur noch bei einer erheblichen Gefahr, nur für einzelne Personengruppen und ausschliesslich für eine befristete Zeit erlassen werden. Und auch dann gilt wie bereits heute: Jede Person kann frei entscheiden, ob sie sich impfen lassen will oder nicht.

Kurz: Das umfassend revidierte Epidemiengesetz schützt uns besser vor den Gefahren der heutigen Zeit. Diese Anpassung ist im Interesse der öffentlichen Gesundheit dringend nötig. Deshalb braucht es ein klares Ja am 22. September.

 

* Ursula Zybach ist Präsidentin Public Health Schweiz und wohnt in Spiez (BE). Vor Wochenfrist erhielt Nationalrat Lukas Reimann (svg/SG) namens der Gegner Gelegenheit, hier Stellung zu beziehen.

 

Foto Ursula Zybach: zvg

Gegen staatliche Zwänge

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GAST-BEITRAG von Lukas Reimann *

Die persönliche Freiheit des Menschen und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sind elementar für eine freie Gesellschaft. Der eigene Körper ist ein höchstpersönliches Gut, und der Staat hat kein Recht, den Bürgern vorzuschreiben, was sie mit ihrer Gesundheit, ihrem Körper anstellen sollen. Das beginnt mit regelmässigem Händewaschen und endet beim Entscheid, sich impfen zu lassen. Der Staat darf informieren, die Konsequenzen eines Verhaltens vor Augen führen, aber nicht die Freiheit der Entscheidung nehmen. Doch genau dies geschieht mit dem Epidemiengesetz.

Erinnern Sie sich an Sars? Obwohl die Opferzahl weltweit unter 1000 Personen und damit deutlich unter der jährlichen Opferzahl der saisonalen Grippe lag, rief die WHO die höchste Pandemiestufe 6 aus. Oder an die Millionen von Steuerfranken, die der Bund für Impfstoffe gegen die Schweinegrippe in den Sand setzte. Das neue Epidemiengesetz wird damit begründet, dass der Bund schneller handeln können müsse. Die vergangenen Fälle zeigen, dass bisher zu schnell und unüberlegt gehandelt wurde. Ohne die genauen Folgen und Nebenwirkungen von neuen Impfstoffen zu kennen, wurden grossflächig Impfungen angeordnet.

Krisen lösen die immergleichen Mechanismen aus: Politiker werden auf unklarer Faktenlage aktiv, schränken Freiheiten ein und «nehmen Geld in die Hand», verschwenden Steuermittel zur Förderung eines imaginativen Gemeinwohls. Grundlegende liberale Überzeugungen verschwinden aus dem Blickfeld. Neu würden noch mehr Kompetenzen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) abgetreten, statt dass vor Ort die Situation beurteilt und entschieden wird: Mit dem neuen Gesetz wird die WHO uns diktieren können, wann sich Schweizer Bürger impfen lassen müssen.

Obwohl es sich beim Impfobligatorium um besonders einschneidende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte handelt, ist die Vorlage voll von «Kann-Vorschriften» und unbestimmten Rechtsbegriffen. Bereits in einer besonderen Lage, zum Beispiel die jährliche saisonale Grippewelle, soll es für «betroffene Bevölkerungskreise» ein Impfobligatorium geben. Wer sind die betroffenen Bevölkerungskreise? Alle Jungen? Alle Senioren? Alle Bewohner eines Gebietes? Zu Recht haben in der Vernehmlassung verschiedene Kantone gefordert, die Begriffe müssten bei so weitreichenden Einschnitten in die Persönlichkeitsrechte klar definiert werden. Doch dies fand keine Berücksichtigung.

Befürworter meinen, es gäbe nur ein Impfobligatorium, aber keinen Impfzwang. Ist das faktisch nicht dasselbe? Das Gesetz verpflichtet die Institutionen zu «geeigneten Massnahmen» und die Kantone dazu, dafür zu sorgen, dass alle von Impfempfehlungen Betroffenen geimpft sind. Das wäre ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit. Es mag sinnvolle Impfungen geben, aber es muss jeder selber entscheiden können. Alles andere erinnert an Diktaturen. Mit der Gesetzesrevision würde auch die Fichierung der Bürger eine komplett neue Dimension erreichen, welche die Fichenaffäre in den Schatten stellt: Krankheitsdaten sollen in einer Datenbank mit Daten über Reisewege, Aufenthaltsorte und Kontakte mit Personen, Tieren und Gegenständen verknüpft werden und auch an ausländische Behörden weitergegeben werden.

«Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will», schrieb Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ich will mich nicht zwingen lassen und selbst entscheiden. Nur ein Nein zum neuen Epidemiegesetz sichert die Entscheidungsfreiheit beim Impfen.

Der Webauftritt des Komitees gegen das neue Epidemiengesetz EpG ist hier verlinkt.

* Lukas Reimann ist Nationalrat (svp) aus dem Kanton St. Gallen. Er wurde 2007 gewählt. Nächste Woche erhält hier jemand aus dem Lager der Befürworterinnen und Befürworter des EpG die Gelegenheit, Stellung zu beziehen.

 

Foto Lukas Reimann: sf.tv

 

“Ich fordere eine Asylpolitik, die die echten Dramen zu verhindern versucht”

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GAST-BEITRAG von David Herzog*

Seit es das Asylgesetz gibt, ist es ein Drama mit ihm: Innert 32 Jahren wurde das Gesetz nicht weniger als zehn mal geändert und verschärft. Und es spricht viel dafür, dass die Salamitaktik die nächsten 32 Jahre so weiter gehen wird. Denn mit diesem inszenierten Drama lässt sich auf einfache Weise politisches Kapital schlagen, immer und immer wieder. Aber sind durch diese Inszenierung auch Probleme gelöst worden? Oder wurden diese nur bewirtschaftet aus politischem Kalkül?

Die innenpolitischen Massnahmen haben keine statistisch erkennbare Auswirkung auf die Zahl der Asylgesuche. Diese schwankt in der Schweiz im Gleichschritt mit den anderen westeuropäischen Ländern – zwischen 10’000 (in den Jahren 1987, 2005, 2007) und 47’000 (im Jahr 1999). Allenfalls ist es ein Wettbewerb zwischen den europäischen Staaten darum, möglichst weniger attraktiv zu sein als die Nachbarstaaten. Also ein Race to the bottom, der aber, da alle Staaten mitmachen, niemandem etwas bringt. Die Zahl der Asylsuchenden in Europa wird dadurch nicht geringer.

Die permanente Asylhysterie lenkt bloss von den echten Dramen ab, die sich im Flüchtlingswesen ereignen. 1500 Flüchtlinge ertranken vergangenes Jahr im Mittelmehr. Zigtausende Menschen zahlen viel Geld an Schlepper in der Hoffnung, aus dem Elend entrinnen zu können. Damit alimentieren das Schlepperbusiness. Vier Fünftel aller Flüchtlinge weltweit haben in Entwicklungsländern Zuflucht gefunden, was für diese Zufluchtsländer eine schwere zusätzliche Belastung ist (neben allen anderen Problemen, die diese Länder haben).

Das Drama hat aber auch kein Ende für jene, die es in die Schweiz geschafft haben. Während Jahren zwingen wir sie zum Nichtstun, weil wir sie mit einem Arbeitsverbot belegen – und wundern uns dann, dass einige von ihnen in dieser ausweglosen Situation mit Dealen beginnen. Traumatisierten Menschen geben wir nicht genügend Zeit, um das Erlebte schildern zu können. Wir nehmen Kindern ihre Väter weg und stecken sie in Ausschaffungshaft, um sie zur Ausreise zu bewegen. Und wir entreissen Kinder ihrem jahrelang gewachsenen sozialen Umfeld und verweisen sie des Landes.

Abschaffung des Botschaftsverfahrens verschärft die Probleme

Ich will weniger Drama! Ich fordere eine Asylpolitik, die diese echten Dramen zu verhindern oder zu mildern versucht. Die Vorlage, über die wir nun abstimmen, macht das Gegenteil: Die Abschaffung des Botschaftsverfahrens und die Statusänderung für Kriegsdienstverweigerer verschärfen die Probleme. Und sie gibt dem Bundesrat den Freipass, ohne Gesetzgebungsverfahren am Volk vorbei weitere Verschärfungen testweise einzuführen.

Ich will weniger Drama! Wir haben in der Schweiz weniger als einen Asylsuchenden pro 150 Einwohner. Ist das eine Belastung, die die Hysterie rechtfertigt? Ich meine: Nein. Eine Belastung ist es gewiss, aber keine, die es rechtfertigen würde, die Situation der Hilfesuchenden weiter zu verschlechtern statt zu verbessern. Und keine, die es rechtfertigen würde, ein solches Gesetz per Dringlichkeitsbeschluss in Kraft zu setzen, bevor das Volk darüber abstimmen konnte. Das ist undemokratisch und für sich alleine schon ein Grund für ein überzeugtes Nein am 9. Juni.

 

* David Herzog führt seit einigen Jahren ein eigenes Blog. Er gehört zur Piratenpartei.

 

Foto David Herzog: zvg

“Beim Botschaftsverfahren werden lediglich 4,5 Prozent der Asylgesuche anerkannt”

Inland - Nationalrat

GAST-BEITRAG von Gerhard Pfister *

Wir haben das Asylwesen nicht im Griff. Der Unmut in der Bevölkerung ist gross. Ein Asylverfahren dauert fast vier Jahre. 80 bis 90 Prozent der Gesuche werden abgelehnt, weil es keine Asylgründe gibt. Die Schweiz hat zusammen mit Schweden am meisten Asylbewerber pro Kopf in Europa. Die Gesuche haben letztes Jahr mit 28‘631 ein Rekordhoch erreicht. Die Kriminalität der Asylbewerber stieg 2012 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent. Inzwischen gehen 12,6 Prozent der begangenen Straftaten in der Schweiz auf Personen im Asylbereich zurück – und das bei einem Bevölkerungsanteil von 0,5 Prozent! Abgesehen von einigen verblendeten Ideologen ist allen klar, dass der Handlungsbedarf im Asylwesen ausgewiesen ist.

Der Widerstand gegen die Revision ist umso unverständlicher, als dass alle Vorschläge dieser Revision von SP-Bundesrätin Sommaruga kommen. Und nicht nur sie wirbt für die Vorlage: Auch andere namhafte SP-Politiker wie Pascale Bruderer oder Hans Stöckli setzen sich für das neue Asylgesetz ein. Unter diesen Umständen ist es verantwortungslos, dass die SP alles ablehnt und die eigene Bundesrätin feige im Stich lässt.

Das sind die wesentlichen Punkte der Vorlage:

–  Die Asylverfahren werden beschleunigt: Grundgedanke der Revision ist die Zentralisierung der Verfahren, welche die Asylverfahren deutlich verkürzen werden. In Bundeszentren versammeln sich sämtliche Spezialisten für die Asylabklärungen und ermöglichen so zügige Entscheide. Asylgesuche, die keine weiteren Abklärungen benötigen, können so im Schnellverfahren erledigt werden. Die aufwändige Verteilung auf die Kantone entfällt.

–  Wehrdienstverweigerung und Desertion sollen nicht mehr als alleiniger Asylgrund gelten. Das ist eine Reaktion auf ein Gerichtsurteil, das die Gesuche aus Eritrea förmlich explodieren liess. Es machte die Schweiz äusserst attraktiv im Vergleich zu andern europäischen Ländern. Die Präzisierung, dass die Wehrdienstverweigerung alleine nicht mehr zum Asyl qualifiziert, ist ein wichtiges Signal. Gleichzeitig bleibt garantiert, dass alle, die an Leib und Leben bedroht sind, weiterhin Asyl in der Schweiz erhalten.

–  Es entfällt die Möglichkeit, auf einer Schweizer Vertretung im Ausland ein Asylgesuch zu stellen. Die Schweiz war bis vor kurzem das einzige europäische Land, das diese Option kannte. Als Konsequenz wurden die Schweizer Botschaften von Asylgesuchen überschwemmt. Alleine auf den Botschaften in Syrien und Ägypten wurden innerhalb kurzer Zeit 7000 bis 10‘000 Gesuche eingereicht – ein Ansturm dem die Botschaften nicht gewachsen sind. Der riesige Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Resultat, denn lediglich 4,5 Prozent der Asylgesuche werden über das Botschaftsverfahren anerkannt. Diese Flüchtlinge werden dank dem humanitären Visum weiterhin die Möglichkeit haben, in die Schweiz kommen.

–  Es werden besondere Zentren für renitente Asylsuchende geschaffen. Davon profitiert nicht nur die lokale Bevölkerung rund um die Asylunterkünfte, sondern auch jene Asylsuchende, die sich anständig benehmen. Sie werden nicht mehr Opfer von Pöbeleien, Drohungen, sexuellen Belästigungen oder Lärm.

 

* Gerhard Pfister ist seit 2003 Nationalrat der CVP Zug. Nach Pfingsten erhält ein Gegner der Asylgesetzrevision, über die wir am 9. Juni abstimmen werden, die Möglichkeit, sich in einem Gast-Beitrag zu äussern.

Foto Gerhard Pfister: parlament.ch

Journal B vermag seine eigenen Ansprüche noch nicht einzulösen

Die Menschen hinter den News sollen im Journal B im Vordergrund stehen. Ziel dieser Online-Zeitung ist es, eine einordnende Berichterstattung zu ermöglichen und Geschichten zu erzählen, die neue Blickwinkel auf das alltägliche Geschehen der Region Bern eröffnen. Eine Bilanz nach fünf Monaten.

Bild Journal B

GAST-BEITRAG von Sharon Sue Siegenthaler*

Das Journal B setzt gemäss eigenen Angaben auf einen modernen und übersichtlichen Auftritt. Der Aufbau mit der Frontseite in grauer Farbe und den drei Ressorts „Alltag“ in grüner Farbe, „Politik“ in blauer Farbe und „Kultur“ in roter Farbe wirkt gut strukturiert. Die unterschiedlichen Farben ermöglichen eine Zuteilung der Artikel zu den jeweiligen Ressorts, womit das Online-Magazin übersichtlich aufgebaut und benutzerfreundlich ist. Das Journal B bietet zudem einen Blog an, in violetter Farbe, sowie verschiedene Dossiers in gelber Farbe. Der chronologische Aufbau ist logisch und intuitiv.

Das Design ist tatsächlich modern und innovativ, für meinen Geschmack aber etwas gewöhnungsbedürftig. Schade, dass es auf der Frontseite nur wenige und zu kleine Bilder gibt. Fotos, Illustrationen, Grafiken und Tabellen unterstützen die Informationsvermittlung. Hier besteht Verbesserungspotenzial.

Täglich werden neue Artikel veröffentlicht, meist sind es zwischen drei und vier. Das ist positiv. Leserinnen können Themenvorschläge und Ideen einbringen, womit Raum geschaffen wird für Dialoge und Diskussionen. Das Journal B beansprucht nicht, tagesaktuelle Informationen zu liefern. Wenn aber schon nicht die Breaking-News im Vordergrund stehen, sollten die Artikel ausführlicher sein als in den beiden grossen Berner Tageszeitungen. Positiv sind Geschichten, die weder in „Bund“ noch „BZ“ zu finden sind, wie beispielsweise der Text über das Herzogstrassenfest. Allerdings dürfte das Thema nicht auf überdurchschnittliches Interesse stossen, da das Strassenfest nur ein Quartier in der Stadt Bern betrifft.

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Inhaltlich besteht ebenfalls noch Verbesserungspotenzial. Das Organisationskomitee des Fests wird mehrmals zitiert, aber nicht die einzelnen Mitglieder. Wo bleiben die Menschen hinter den News? Das Ziel, Protagonisten zu Wort kommen zu lassen, wird verfehlt. Ein Interview und mehr Hintergrundinformationen wären sehr spannend gewesen. Zudem fehlen Bilder, die als Blickfang dienen und den Artikel visualisieren und attraktiv machen. Gesichter sollten gezeigt werden. Gut finde ich, dass die Artikel verständlich geschrieben sind mit kurzen und einfachen Sätzen. Das ist ein Plus.

Einmal berichtete das Journal B über den geplanten RBS-Tiefbahnhof. Während „Bund“ und „BZ“ denselben Inhalt präsentieren, hebt sich der Artikel im Journal B ab, weil er nicht das Projekt an sich behandelt, sondern Baudirektorin Barbara Egger sich zur Problematik der Kosten äussert, und zwar seit der ersten Version im Jahr 2008. Hier hätte das Journal B Hintergrundinformationen liefern und mit einer Geschichte einen neuen Blickwinkel eröffnen können, der zudem mit Bildern hätte ergänzt werden müssen. Während „Bund“ und „BZ“ sogar eine Bildstrecke auf den jeweiligen Online-Ausgaben haben, gibt es im Artikel vom Journal B lediglich eine Grafik. Hier ist eine Chance verpasst worden.

Das Nutzungskonzept für den Loryplatz ist ein Thema, das die Berner bewegt. Hier müsste es Geschichten geben, die den Blick auf zusätzliche Aspekte ermöglichen und damit über die Berichterstattung von „BZ“ und „Bund“ hinausgehen. Anstelle von Bildern gibt es ein kurzes Video. Ich persönlich hätte ein Bild bevorzugt, da das Video nicht viel aussagt. Dieser Artikel generierte lediglich einen Kommentar.

Mit eigenen Ansätzen, Hintergrundinformationen und überzeugenden Fotos könnte das Journal B tatsächlich einen Gegentrend zur heutigen Informationsflut setzen. Bislang schafft es die Online-Zeitung noch nicht, ihre Ansprüche einzulösen.

 

Screenshot:  Journal B
Foto Herzogstrassefest: adi

 

* Sharon Sue Siegenthaler arbeitet zurzeit bei Border Crossing, wo sie zwei Projekte in Medien- und Öffentlichkeitsarbeit mitbetreut.

 

Der Facebook-Auftritt von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf unter der Lupe

Zum Auftakt ihres Präsidialjahres im Januar 2012 begann Eveline Widmer-Schlumpf auch auf Facebook präsent zu sein. Sie bringt es inzwischen auf 1360 „Likes“. Ueli Maurer, der erst seit drei Wochen eine Page betreuen lässt, hat seine Bundesratskollegin bereits weit hinter sich gelassen. Weshalb zieht ihr Auftritt keine grösseren Kreise? Eine Spurensuche.

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GAST-BEITRAG von Sharon Sue Siegenthaler*

Was kann Eveline Widmer-Schlumpf und ihre Kommunikationsteam tun, um auf Facebook an Popularität zu gewinnen? Die Finanzministerin publiziert auf ihrer Fanpage zwar regelmässig neue Beiträge, aber es sind kaum solche in der „Ich-Form“ zu finden, was Bürgernähe vermissen lässt. Sich mit dem Publikunm auszutauschen ist jedoch zentral, um Nähe zu schaffen.

Aber nicht nur die „Ich-Form“ ist wichtig, sondern auch persönliche Beiträge. Vor vier Wochen postete die Magistratin: „Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachtstage, einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein gesundes 2013.“ Hier wären nach diesen Floskeln ein paar weitere Sätze gut invenstiert gewesen. Wieso nicht preisgeben, welche Vorsätze sie für das Jahr 2013 gefasst hatte?

Der Besucher möchte Informationen bekommen, die er über andere Medienkanäle nicht in Erfahrung bringen kann. Positiv aufgenommen würde auch, wenn Widmer-Schlumpf Postings und Fragen von interessierten Besuchern kommentieren würde. Das Zauberwort lautet “Dialog”. Wenn die Bundesrätin auf ihrer Seite Fragen stellen würde, könnte ein echter Dialog gepflegt werden. Der Effekt: Die Leute fühlten sich ernst genommen und hätten das Gefühl, die Bündnerin näher kennen zu lernen.

Gut finde ich, dass Widmer-Schlumpf ihre Facebook-Einträge mit Fotos ergänzt, wodurch sich der Besucher ein besseres Bild von ihren Aktivitäten machen kann. Leider wirkt sie aber auf einigen Bildern eher etwas steif und distanziert. So steht sie zum Beispiel mit Frankreichs Präsident François Hollande an einem Stehpult in einem grossen leeren Saal, geradezu verloren wirkend.

Clever wäre es, wenn sie eigene Fotos posten würde, die bei Bildagenturen nicht zu finden sind. Vereinzelt gibt es auf der Page solche Bilder, wie zum Beispiel dasjenige, welches die Bundesrätin im Flugzeug beim Kaffee zeigt (siehe oben). Dieses Foto wirkt sehr sympathisch.

Wichtig ist, die Page zu aktualisieren und den Dialog zu pflegen. Nicht steife Distanziertheit, sondern das Preisgeben von Persönlichem löst bei den Besuchern Interesse und Sympathie aus.

 

Foto: FB-Page von Eveline Widmer-Schlumpf


* Sharon Sue Siegenthaler arbeitet zurzeit bei Border Crossing, wo sie zwei Projekte in Medien- und Öffentlichkeitsarbeit mitbetreut.

Wie Junge Erfolg haben können

GAST-BEITRAG von Samuel Kullmann*

Die Politikabstinenz der jungen Generation schwappt regelmässig in die Massenmedien. Allgemein wird jungen Menschen selten grosses politisches Interesse zugesprochen. Etablierte Parteien wiederum beklagen sich über fehlenden Nachwuchs. Doch selbst wenn junge Politikerinnen und Politiker sich organisieren und selber kandidieren, rechtfertigt der fehlende Erfolg nur selten den Aufwand.

Obwohl aus demokratietheoretischer Sicht Parlamente einigermassen repräsentativ sein sollten, ist die Gruppe der 18- bis 29-Jährigen in allen Parlamenten auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene massiv untervertreten. Erklärungen sind schnell zur Hand: Jungen fehle in der Regel ein grosser Bekanntheitsgrad und sie hätten nur bescheidene finanzielle Mittel zur Verfügung. Oft wird ihnen nahegelegt, sich zuerst durch die politischen Institutionen hochzuarbeiten und so ihre Sporen abzuverdienen.

Ist es wirklich so einfach? Spielen nicht institutionelle Faktoren eine viel grössere Rolle für die politische Untervertretung der Jugend als allgemein angenommen? Falls ja, wie könnten demokratische Lösungsvorschläge aussehen? Die Erörterung dieser Fragen war Gegenstand einer Arbeit, die ich zum Thema Parlamentsforschung verfasst habe. Die Arbeit bezog sich auf die Bernischen Parlamentswahlen 2006 (Grosser Rat).

Abbildung 1: Altersstruktur der Kandidierenden für den Grossen Rat im Kanton Bern.

Abbildung 2: Altersstruktur der Gewählten.

Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass der Anteil der Kandidierenden zwischen 18 und 29 Jahren 20,5 Prozent beträgt, was dem Postulat einer pauschalen Politikverdrossenheit der Jugend klar widerspricht. Ganz anders hingegen zeigt sich das Bild bei der Altersstruktur der gewählten Grossratsmitglieder (Abbildung 2): Lediglich 1,9 Prozent der Gewählten sind 29 Jahre oder jünger. Im Vergleich zur Restbevölkerung ist die Jugend unter 30 im Grossen Rat im Verhältnis 1:10 untervertreten. Obwohl 18-Jährige seit 1991 das passive Wahlrecht haben, bleibt dieses Bürgerrecht für ihre Generation mangels realer Wahlchancen so gut wie bedeutungslos.

Doch was kann man tun, um jungen Kandidierenden bessere Wahlchancen zu ermöglichen? Daniel Bochsler (2005) schreibt:

“Schon seit langem hat die politikwissenschaftliche Forschung davon Abstand genommen, Wahlverfahren zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl zu unterscheiden (vgl. Duverger 1951). Führende Wahlsystemforscher nennen die Grösse der Wahlkreise als entscheidendes Merkmal von Wahlsystemen (Taagepera/Shugart, 1989, 112ff.).”

Im Kanton Bern lag die Hürde für einen sicheren Sitz zwischen 3,5 (Wahlkreis Mittelland) und 7,7 Prozent (Berner Jura). Die stärkste junge Liste (Jungfreisinnige) scheiterte jedoch mit 2,4 Prozent deutlich an dieser Hürde. Da junge Kandidierende auch auf Stammlisten kaum Chancen haben, bestände ein Lösungsvorschlag darin, ein Wahlverfahren einzuführen, welches Junglisten stärkt.

Ein solches Wahlverfahren kann der so genannte “Doppelte Pukelsheim” sein. Es handelt sich um ein biproportionales Wahlverfahren, was bedeutet, dass die Sitzverteilung sowohl in Bezug auf die Gesamtheit der Wahlkreise wie auch auf den einzelnen Wahlkreis möglichst proportional sein soll. Das Verfahren wurde bereits in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Aargau eingeführt.

Auf die Schweiz bezogen: Tritt eine Jungpartei in allen 26 Kantonen mit einer eigenen Liste an und erreicht dabei 1,5 Wählerprozente, dann sind dieser Jungpartei 3 Sitze im Nationalrat garantiert. In welchen Kantonen diese Sitze der Jungpartei zufallen, wird über einen mathematischen Algorithmus ermittelt.

Dieses Sitzzuteilungsverfahren garantiert eine möglichst hohe Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen. Einen hohen Erfolgswert der Wählerstimme hatte bei den Nationalratswahlen 2007 beispielsweise die SP, welche mit 19,55 Prozent der Stimmen 21,5 Prozent der Sitze holte, also eigentlich 4 Sitze “zu viel”. Auch die SVP erzielte mit 29,01 Prozent der Stimmen 31 Prozent der Sitze, auch 4 Sitze “zu viel”.

Einen geringen Erfolgswert hatte die EVP vorzuweisen, welche mit 2,45 Prozent lediglich 1 Prozent der Sitze machte, 3 “zu wenig”. Der Erfolgswert für alle jungen Listen war gleich 0, da keine junge Liste die jeweilige Wahlkreishürde überwinden konnte.

Doppelter Pukelsheim würde Karriere der Jungen beschleunigen

In meiner Forschungsarbeit habe ich anhand dreier Modellrechnungen aufgezeigt, dass die Jungparteien im Kanton Bern bei den Grossratswahlen 2006 zusammen bis zu 21 Sitze (13,1 Prozent der Sitze) hätten erhalten können, wenn der “Doppelte Pukelsheim” zur Anwendung gekommen wäre. Die jungen Listen hätten natürlich vor allem auf Kosten ihrer Mutterparteien Sitze geholt. Die Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Blöcken hätten sich kaum verändert, d.h. weder rechte noch linke Parteien wären irgendwie bevorzugt worden.

Die Basis der Demokratie ist, dass jede Stimme gleich viel zählt. Wegen teilweise hohen Wahlhürden (in 17 Kantonen liegt die Wahlhürde über 10 Prozent!) ist dies in der Schweiz nur beschränkt der Fall. Biproportionale Wahlverfahren wie der “Doppelte Pukelsheim” garantieren, dass jede Stimme bestmöglich in Sitze umgewandelt und der Wählerwille so gut wie nur möglich abgebildet wird. Gerade Jungparteien hätten dadurch eine äusserst gute Chance auf eine einigermassen repräsentative Vertretung in Parlamenten.

Eine Änderung des heutigen Wahlsystems erfordert aber immer noch eine mehrheitliche Zustimmung bei den heutigen Entscheidungsträgern. Die etablierten Parteien müssen sich der Frage stellen, ob sie ihre jungen Listen weiterhin als strategisch geschickte Stimmenlieferanten einsetzen oder als gleichberechtigte politische Partner mit realen Wahlchancen fördern wollen.

* Samuel Kullmann (25) studiert im Hauptfach Politologie an der Uni Bern und im Nebenfach Judaistik an der Uni Luzern. Er wohnt in Uetendorf (BE) und war selbst zwei Mal Grossratskandidat. Seinen ersten Beitrag im wahlkampfblog verfasste er im Sommer 2011 über Frauen-Kandidaturen.

– Foto Samuel Kullmann: zvg
– Grafiken: Staatskanzlei des Kantons Bern