Nemo ist nicht Bundesrätin Keller-Sutter

Seit Monaten hat sich ein Mob auf Nemo eingeschossen. Aus dem Nichts kommt das nicht. Dennoch sollten Medien und PR-Leute verantwortungsvoller mit dem Star aus Biel umgehen. Der Abbruch eines Interviews mit ihm schadet letztlich allen.

Direkt nach dem Auftritt am Lakelive Festival sprach Nemo mit dem «Bieler Tagblatt». Als die Journalistin eine Frage zum «politisch aufgeladenen ESC» in Malmö stellte, intervenierte die Presseverantwortliche des Stars. Schliesslich brach Nemo das Gespräch ab, weil «sich jede Frage wie eine Provokation anfühlt». Am Samstag wurde das Rumpf-Interview publiziert und schlägt seither Wellen.  (Es ist hier als PDF verlinkt.)

Natürlich, es gehört zum Job der Journalistinnen und Journalisten, Fragen zu stellen. Natürlich, Interviews sollen kritisch sein. Tatsache ist, dass sie es in den Bereichen Sport, Kultur und Showbusiness oftmals nicht sind, weil den Medienschaffenden die Distanz fehlt oder sie sogar Fans sind. Selbst Roger Schawinski, der härteste Talker der Nation, stellte keine harten Fragen mehr, als er Emil zu Gast in seiner Sendung hatte.

Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Sängerinnen wollen alle dasselbe: in den Medien gut herüberkommen. Vor, während und nach Interviews tun sie und ihre Entouragen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollen die Bedingungen diktieren, Redaktionen lassen sich nicht selten darauf ein, weil sie Prominenz und Exklusivität hoch gewichten. Das Resultat sind glattgebügelte Interviews, die uns beim Lesen langweilen.

Ich habe früher oft über Musik geschrieben und viele Interviews geführt, etwa mit Marla Glen, Kuno Lauener, 4 Non Blondes oder Gianna Nannini. Das war manchmal beglückend und manchmal zäh. Und manchmal sagten die Stars Dinge, die sie in die Bredouille gebracht hätten. Ich liess allzu Provokatives oder Unreflektiertes stets weg – zuweilen müssen Künstlerinnen und Künstler vor sich selbst geschützt werden.

Der Fall von Nemo ist anders gelagert: Das Talent aus Biel wird seit Monaten im grossen Stil mit Bösartigkeiten und Hass eingedeckt: Zum einen, weil es nicht-binär ist und ein drittes Geschlecht propagiert, zum anderen, weil es beim ESC den Boykottaufruf gegen Israel mitgetragen haben soll.

Nemo zu den Vorgängen in Malmö keine kritischen Fragen zu stellen, wäre unjournalistisch, natürlich, aber die Medien haben auch eine Verantwortung, nicht unnötig Öl ins Feuer zu giessen. Was im «Bieler Tagblatt» seinen Anfang nahm, hat den Mob sofort mobilisiert.

Keine überzeugende Rolle spielte Nemos Management: Zunächst legte es schriftlich fest, dass die Journalistin auf politische Fragen verzichten solle, rückte aber später wieder davon ab. Zudem verzichtete es darauf, das Interview zurückzuziehen.

Was wir nicht vergessen sollten: Nemo ist gerade einmal 25 Jahre alt und erst seit dem letzten Mai auf der Weltbühne. Im eigenen Lager ist Nemo eine Ikone, für andere eine Hassfigur, allein der Name triggert enorm. Das legt nahe, einen anderen Massstab anzuwenden, als beispielsweise bei Karin Keller-Sutter, die seit 24 Jahren Berufspolitikerin ist.


Nachtrag vom 6. August 2024: 

Heute reagiert der Co-Chefredaktor der «Bieler Tagblatt» (BT) mit einem Leitartikel. Er schreibt, dass Nemo der Sache mit dem Interview-Abbruch schade. Sein Ansatz ist durchdacht, klar formuliert, was dieser schwierigen Debatte hilft. Der Leitartikel ist hier verlinkt (vor der Bezahlschranke).

 

Foto: Benjamin Ramsauer, SRF

Dieser Beitrag ist zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche, erschienen. 

Cassis’ Fehltritt auf der Weltbühne

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses Sprichwort drängt sich auf, um den jüngsten Fall von Bundespräsident Ignazio Cassis zu gewichten.

Es ist wertvoll, dass Cassis während der UNO-Generalversammlung den russischen Aussenminister Sergej Lawrow zu einem Gespräch traf. Auch wenn die Erfolgschancen im Promillebereich liegen, soll sich die offizielle Schweiz immer darum bemühen, ihre Guten Dienste anzubieten. So wie sie seit Langem erfolgreich den Austausch zwischen den USA und Iran sowie den USA und Kuba ermöglicht.

Das Foto, das seit gestern Mittwoch in den (sozialen) Medien kursiert, zeigt Lawrow und Cassis beim Händeschütteln. Beide blicken in die Kamera. Die Suggestivkraft von Bildern ist enorm. Es erstaunt deshalb nicht, dass das russische Aussenministerium dieses Foto via Twitter verbreitete (siehe Printscreen oben). Die Botschaft ist zu gut, um sie nicht für Propagandazwecke zu nutzen. Der Aussenminister der Schweiz rehabilitiert eine der Schlüsselfiguren Russlands, und das just am Tag an dem Wladimir Putin eine Teilmobilmachung befohlen hat.

Dumm gelaufen.

Es ist weit mehr als das, und deshalb treffen kritische Worte wie «unsensibel» und «ungeschickt» daneben.

Cassis ist Lawrow in die Falle getappt, wie ich im Interview mit dem Online-Portal «Blue News» ausführe (nachträglich eingefügt).

Ich arbeitete 1996/97 in Bosnien, also direkt nach dem Krieg dort, und zwar im Hauptgebäude der OSZE-Mission in Sarajevo. Es kam regelmässig zu Treffen zwischen Diplomaten, Spitzenpolitikerinnen und mutmasslichen Kriegsverbrechern. Es galt, sich jeweils im Vorfeld gut zu überlegen, welche Bilder man ermöglichen wollte. Mit den Handys konnte man damals keine Fotos machen, Social Media existierten noch gar nicht. Es war einfacher als heute, aber immer noch knifflig.

Doch zurück zur UNO. An ihren Anlässen sind stets Fotografen zugegen, die in der Regel zu Beginn auf den Auslöser drücken dürfen. Das ist Standard.

Selbstverständlich darf Cassis Lawrow die Hand geben. Es macht aber einen himmelweiten Unterschied, ob er dabei für einen Fotografen händeschüttelnd posiert oder dem Russen für ein paar Sekunden die Hand gibt, ihm entschlossen ins Gesicht blickt und sich von der Seite ablichten lässt.

Es ist die Aufgabe von Cassis’ Beraterstab, im Vorfeld jede Eventualität und jedes Risiko zu antizipieren und den Chef darauf vorzubereiten. Womöglich hat er das nicht getan. Oder er hat es getan, aber der Aussenminister reagierte im entscheidenden Moment falsch.

Cassis bemüht sich seit Jahren, als Macher wahrgenommen zu werden und an Statur zu gewinnen. Dabei unterlaufen ihm immer mal wieder kommunikative Fehler. Im vorliegenden Fall wollte er gestärkt von der Weltbühne New York in die Schweiz zurückkehren. Er, der sich mit entschlossenem Blick an einen Tisch mit Lawrow zeigt (siehe unten). Wegen seines Fehltritts bleibt uns freilich das «Handshake»-Foto in Erinnerung.


Nachtrag:

Was ich der Nachrichtensendung «Telegiornale» von RSI zum Thema sagte.

– Komplett anderer Meinung ist Alt-Bundesrat Pascal Couchepin: Er findet die Kritik an Cassis «lächerlich», wie er gegenüber der «Tagesschau» von SRF sagte.

CS-Chef Tidjane Thiam macht Krisenkommunikation auf Instagram

 

Es gilt als Standard in der Krisenkommunikation: Wird ein CEO oder eine Verwaltungspräsidentin angegriffen, reagiert nicht diese Person, sondern deren Unternehmung. Der Chef der Credit Suisse, Tidjane Thiam, machte es gestern anders. Auf einen kritischen Bericht in der «NZZ am Sonntag» (hinter der Bezahlschranke) reagierte er persönlich und weist die Vorwürfe zurück, indem er seinen neuen Instagram-Account als Kommunikationskanal nutzt.

Vier Fragen und Antworten zu dieser verunglückten Kommunikation, die ich auf Anfrage der «Blick»-Redaktion verfasste. Zunächst aber das Posting Thiams auf Instagram:

Der CEO reagiert via Social Media zu einem kritischen Medienbericht, während die CS schweigt – was ist davon zu halten?

Die Vorwürfe der «NZZ am Sonntag» sind happig. Gerade weil sie sich an Tidjane Thiam direkt richten, hätte er nicht selber reagieren dürfen. Das wäre die Aufgabe der Medienstelle gewesen, am besten mit einer Medienmitteilung und via Twitter – bei 340’000 Follower ein Must. Dass Thiam ausgerechnet Instagram als Kommunikationskanal wählte, ist eine Fehlentscheidung. Thiam hat dort erst seit sieben Tagen einen Account; in der Bio hält er fest: «Views are my own». Doch diese Trennung funktioniert nicht, Schlüsselpersonen werden immer mit ihrem Arbeitgeber verknüpft wahrgenommen.

Am Sonntagabend zählte Thiams Instagram-Account erst 600 Abonnenten, das ist eine sehr bescheidene Reichweite. Instagram ist grundsätzlich ein Kanal für Brands, Stars, Sternchen und zahllose Fotos – es geht um Selbstinszenierung. (Diese betreibt Thiam mit seinen Fotos vom WEF 2020 auch.) Für Krisenkommunikation eignet er sich nicht. Auf Twitter hätte Thiams Replik sofort Wirkung erzielt, weil dort die Leute sind, die sich für ihn und Wirtschaftsthemen interessieren.


Welche Gefahren birgt eine Kommunikation, die offenbar nicht abgesprochen ist?

Tidjane Thiam hat sich am Sonntag offensichtlich für einen Sololauf entschieden. Das lässt anklingen, was er von der Zusammenarbeit mit der Medienstelle der CS hält. Er reagierte, die CS kommunizierte nur auf hartnäckiges Nachhaken und auch dann nur ganz knapp – das ist pitoyabel. Erst wegen Thiams Reaktion springen jetzt viele anderen Medien auf, und weil die CS faktisch schweigt, kriegt die jüngste Enthüllung noch mehr Gewicht.

Die CS mauert bereits seit geraumer Zeit. Welches Zeugnis stellen sie der Bank und dem CEO hinsichtlich der aktuellen Kommunikationsstrategie aus?

Es ist auch eine Strategie, Probleme auszusitzen und nicht zu kommunizieren. Allerdings kann die Krise so noch grösser werden. Das kann sich eine Bank, die auf das Vertrauen der Kunden angewiesen ist, aber nicht leisten.


Was könnte die CS besser machen?

Der Beschattungsskandal ist seit September publik. Dabei geht es ja nicht nur um grosse Egos, hohe Testosteronspiegel und Machtkämpfe. Die Ergebnisse der Untersuchung von externer Stelle, einer grossen Wirtschaftskanzlei, sollten so bald als möglich vorliegen, sonst schwelt die Krise weiter. Zudem dürften die Aufseher der Finanzmarktaufsicht (Finma) die CS durchleuchten wollen. Derweil scheint sich Verwaltungsratspräsident Urs Rohner entschieden zu haben, diese Sache auszusitzen. Womöglich liegt das daran, dass er Thiam vor fünf Jahren zur CS geholt hatte.


Ergänzender Medienbericht: 

Neue Enthüllungen bringen CS-Chef Thiam in Rage
(CH-Media, Daniel Zulauf, 28. Januar 2020)

Vom Messerstecher-Inserat bis zum wurmstichigen Schweizer Apfel: Provokation funktioniert noch immer

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren. Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen.

Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in dieselbe Falle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU.

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Am Ende dieses Postings wird ein Sujet aus der antisemitischen Nazi-Zeitung «Der Stürmer» gezeigt. Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Dieselbe Bildsprache wurde bereits in den Dreissigerjahren verwendet

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.

Analogie zu den Dreissigerjahren: Die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» publizierte einmal dieses Sujet namens «Der Wurm». Es war gegen die Juden gerichtet.
Quelle: AZMedien/TeleM1

Die Jugend ist erwacht

Klimastreik in Bern – 18. Januar 2019 © Raphael Hünerfauth – http://huenerfauth.ch

Seit Jahren habe ich mich immer mal wieder genervt: «Diese apolitische Jugend, mon Dieu!» Stets «Jolo», voll easy chillen, Mann – und jetzt das: Schülerinnen und Schüler gehen auf die Strasse, demonstrieren gegen den Klimawandel und stellen klare Forderungen auf. Was vor Weihnachten im kleinen Stil begann, wurde am Samstag gross. Die Jugend ist erwacht: In rund einem Dutzend Schweizer Städte nahmen insgesamt mehr als 50‘000 Leute teil. Dass an einem schulfreien Tag so viele Junge mitmachten, ist ein neckisches Detail.

Der Klimawandel kann zu einem Megathema werden. Die Jugendlichen haben ihr Mobilisierungspotential noch lange nicht ausgeschöpft. Demonstrieren macht ihnen Spass, das Planen und gemeinsame Erleben verbindet, der Erfolg ist ansteckend, man will dabei sein, findet es megacool. Sie haben eine Klimastreik-Bewegung aufgebaut, die sich mit Social Media und WhatsApp-Gruppen organisiert und bei Bedarf auch offline trifft. Die Gefahr, dass ihre Kampagne von etablierten Akteuren vereinnahmt werden könnte, haben sie frühzeitig erkannt. Bewusst distanziert sich die Bewegung von der institutionellen Politik, Spenden von Parteien nimmt sie nicht an.

Die Medien fahren das Thema gross, es ist in Schulzimmer und an den Familientisch geschwappt. Damit hat die Politisierung der Teenager begonnen, teilweise vielleicht sogar ihrer Eltern. Toll, wenn das eine dauerhafte Wirkung hat. Es ist allerdings auch gut möglich, dass die Klima-Bewegung bald wieder zerfällt. Wenn sich das Demonstrieren abnutzt und die Aufmerksamkeitsprämien ausbleiben, könnten viele das Interesse wieder verlieren.

Greta Thunberg gab im letzten Sommer die Initialzündung für die Kundgebungen, die inzwischen weltweit stattfinden. Zu Beginn demonstrierte die 16-jährige Schwedin alleine, Freitag für Freitag marschierte sie mit ihrem selbstgebastelten Plakat zum Regierungsgebäude in Stockholm. An der UNO-Klimakonferenz im Dezember las sie den Politikern vor der Weltpresse die Leviten. Spätestens seit ihrer Zugreise ans WEF in Davos kennen sie alle. In den sozialen Medien erfährt sie viel Zuspruch, wird aber auch mit Häme und Hass eingedeckt.

Die Prognose sei gewagt: Greta bleibt dran. Lange bevor sie sich übrigens öffentlich engagierte, setzte sie in ihrer Familie einen Sinnes- und Verhaltenswandel durch. Das sollte Schule machen. Demonstrieren ist gut, sein eigenes Verhalten dauerhaft verändern auch. Dafür braucht es allerdings eine enorme Selbstdisziplin. Nur ein Beispiel: Keine Altersgruppe in der Schweiz fliegt mehr als die 18- bis 24-Jährigen (siehe Grafik). Seit sich Easyjet & Co. durchgesetzt haben, kosten viele Destinationen noch zwei oder drei Drinks. Nach Barcelona für 20 Stutz, eine hippe Metropole, ist alleweil cooler als ein paar Tage Bergün zu verbringen.


Greta würde sich für Bergün entscheiden, und das führt uns zur zentralen Frage: Wieviel Greta steckt in uns?

P.S.
Simone Meier vom Online-Portal «Watson» war bei der Klimademo in Zürich dabei. Sie schreibt: «Wenn wir alle Glück haben, dann gelingt es vielleicht, aus einem Protest Politik zu machen. Es wäre nicht das erste Mal. Aber es wäre eins der ersten Male, dass sie von einer Seite initiiert worden wäre, mit der weder Wirtschaft noch Politik gerechnet haben. Gewissermassen aus der Zukunft.»

Ihren kompletten Kommentar gibt es hier.

Die Wir-Schweiz bleibt stärker als die Ich-Menschen

Der Abstimmungskampf dauerte fünf Monate, war ausgesprochen intensiv und leider oftmals gehässig. In der Schweizer Mediendatenbank werden vom 1. Oktober letzten Jahres bis am 28. Februar rund 7500 verschiedene Artikel referenziert. Pro Tag erschienen über dieses Thema also durchschnittlich 50 Texte. Das ist rekordverdächtig. «No Billag» liess kaum jemanden kalt, es ging faktisch nur um die SRG, die Vorlage spaltete das Land. Umso wichtiger ist das klare Resultat: Das Volk sagte mit 71,6 Prozent wuchtig Nein zur Verstümmelung bestehender Radio- und TV-Sender.

Über Monate hinweg arbeiteten sich Zehntausende von Menschen an der SRG und ihren Angestellten ab – von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer bis zur Wutbürgerin in der hinterfinstersten Gasse in Klein-Basel. Er war eine Abrechnung, unversöhnlich, demagogisch, mitunter sogar hasserfüllt. Das Reizwort «Flüchtlinge» wurde ersetzt durch «SRG» und sie musste für alles hinhalten, am Schluss sogar für die sibirische Kälte der letzten Wochen. In ihren Kommentaren liessen allerdings auch viele «No Billag»-Gegner Anstand und Respekt vermissen.

Es gibt Parallelen zur Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative vor zwei Jahren: Auch damals machte die Zivilgesellschaft den Unterschied. (Okay, der Begriff wurde in den letzten Jahren sehr oft verwendet.) Zehntausende von Einzelpersonen haben sich erneut für ein Nein stark gemacht. Dazu kamen die Efforts von Künstlerinnen, Comedians wie Giacobbo/Müller, Schauspielern, Volksmusik- und Sportverbänden. Operation Libero ist inzwischen auf derselben Flughöhe wie die grossen Parteien, das Komitee «Nein zum Sendeschluss» wiederum konnte 1,5 Millionen Franken an Spenden generieren. Zudem erhielt es von den Kreativen unentgeltlich rund hundert Videos zur Verbreitung, viele davon waren hochwertig produziert. Die Reichweite war mit 200’000 Leuten pro Tag so gross wie nie zuvor.

Die Wir-Schweiz bleibt also deutlich stärker als die Gruppe von Menschen, deren immergleiche «Ich-ich-ich»-Voten wir die letzten Monate gehört haben. Sie blenden aus, das Gemeinsinn unser Land stark gemacht hat.
Die Schlacht ist geschlagen, das Wasser bleibt unruhig, die SRG geht aber gestärkt aus dieser Abstimmung hervor. Sie sollte dem Kredit, den sie mit diesem Plebiszit erhalten hat, mit Demut und Offenheit begegnen. Es muss ihr gelingen, das Gärtchendenken, das sich mit der Konvergenz noch verstärkte, zu beenden. Die Arbeit der Leute in den Online-Abteilungen ist genauso wichtig wie bei Radio und Fernsehen. Ebenso wichtig ist ein Kulturwandel: Es reicht nicht mehr, wenn die Angestellten des Rundfunks einen guten Job machen. Die Programmschaffenden müssen in einen stetigen Austausch mit dem Publikum treten, zuhören, Inputs aufnehmen und vor allem: berührbar werden. Das kann in Schulen, Beizen und bei Service Clubs passieren, in der Stadt und auf dem Land. Mit Anbiederung hat das nichts zu tun. Die «Republik» zeigt, wie dieser Dialog funktionieren soll: «Wir wollen Gastgeber sein, nicht nur digital, auch physisch.»

Die SRG hat eine privilegierte Position. Als gebührenfinanziertes Medienhaus muss sie für die Menschen in unserem Land ein Anker im Sturm sein. Das ist möglich mit überzeugenden Inhalten, mit Dialog und mit Chefs, die intern geschätzt und extern glaubwürdig und empathisch sind. Das neue Generaldirektorengespann Gilles Marchand und Ladina Heimgartner kann diese Erwartungen hoffentlich einlösen.
Der US-Präsidentschaftskampf 2016 hat uns vor Augen geführt, wie mächtig Facebook, Algorithmen, russische Trollarmeen und Fake-News sind. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist anfällig auf eine ähnliche Entwicklung. Umso wichtiger ist die Rolle starker und unabhängiger Medien. Fakt ist: Die privaten Medien stecken in einer tiefen Finanzierungskrise. Die Presse hat von 2011 bis 2016 satte 37 Prozent ihrer Werbeeinnahmen eingebüsst. Das ist dramatisch. Insgesamt generierten sie 2016 noch 1,26 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Der Erlös der Online-Werbung in der Schweiz betrug 2016 bereits 1,09 Milliarden Franken. Der Löwenanteil dieser Summe fliesst zu den IT-Giganten im Silicon Valley, Apple, Amazon, Facebook und Google. Dort sitzt der Feind, nicht im Leutschenbach.

Ende der Neunzigerjahre führten die privaten Medienhäuser ohne Not die Gratiskultur ein. Damit haben sie sich selbst an die Klippen manövriert. Die Medienmanager glauben inzwischen nicht mehr daran, dass man mit Journalismus Geld verdienen kann. Entsprechend bauen sie die Portfolios um. Es geht darum, wer im kommerziellen Digitalgeschäft überlebt. Das Kerngeschäft von früher – die Information – wird dabei komplett marginalisiert. Nach 20 Jahren Gratiskultur ist die Bereitschaft, für Inhalte zu bezahlen, sehr bescheiden.

Übernahmen und Entlassungen werden auch die nächsten Jahre den Medienplatz Schweiz prägen. Das Trauerspiel um die Schweizerische Nachrichtenagentur sda ist ein aktuelles Beispiel. Umso wichtiger ist es, wenn sich das öffentliche Medienhaus SRG behaupten kann. Es hat eine Chance, wenn seine Vorgesetzten nun vieles richtigmachen.

Mark Balsiger

Disclaimer:
Ich war bei dieser Volksabstimmung Kampagnenleiter des Komitees «Nein zum Sendeschluss», also Partei.


Weitere Abstimmungskommentare:

Die «Aber» der schlechten Demokraten (Matthias Zehnder, privater Blog)
Die SRG kann nicht bleiben, wie sie ist (Patrick Feuz, Der Bund)
Es braucht dennoch eine SRG-Reform (Rainer Stadler, NZZ)
Was für ein Signal! (Kasper Surber, WOZ)
Volk beerdigt No Billag – Bürgerliche wursteln weiter
(Gabriel Brönnimann, Tageswoche)
Warum der No-Billag-Streit der Schweiz gut getan hat
(Jacqueline Büchi, Watson)
Nach der Schlacht ist vor der Schlacht (Dennis Bühler, Norwestschweiz)
Jubeltag für die SRG – Reformen sind dennoch nötig
(Claudia Blumer, Tages-Anzeiger)
Die Medienrevolution kommt sowieso (Dominik Feusi, Basler Zeitung)
SRG-Demut ist deplatziert (Erich Gysling, Infosperber)

Trump und die angebliche Big-Data-“Bombe”

U.S. President-elect Donald Trump arrives at a costume party at the home of hedge fund billionaire and campaign donor Robert Mercer in Head of the HarborDie “Bomben”-Story im letzten “Magazin”, die Donald Trumps Wahlsieg mit einer unglaublichen Digitalkampagne erklärt, drehte bis zu Beginn der neuen Woche. Inzwischen sind einige Repliken erschienen.

Dass der Wahlerfolg nicht auf einen einzigen Faktor zurückzuführen ist, sollte eigentlich logisch sein. Mein 26-Erfolgsfaktorenmodell, 2006 für die überschaubare Schweiz entwickelt, liefert nur ein Indiz dafür.

Big Data und die präzise Ansprache der unterschiedlichsten Wählerinnen und Wähler entwickeln eine enorme Power, klar. Alexander Nix, CEO der britischen Datenfirma Cambridge Analytica, behauptete bei einer Firmenpräsentation (Link weiter unten), von allen mündigen US-Amerikanern, also von 220 Millionen Menschen, Profile zu haben.

Micro-Targeting bzw. Voter Targeting wird bei US-Wahlen schon seit Langem systematisch angewandt. Auch die Demokratische Partei soll präzise Profile von über 100 Millionen US-Bürgern besitzen – ein As in Hillary Clintons Kampagne. Weil die Wähler in den USA gläsern sind, ist dort das Sammeln von Daten deutlich einfacher als in der Schweiz.

Mir fehlt die Zeit, um selber eine Einschätzung zu diesem Fall zu machen. Deshalb die Links zu einigen Texten (wird weiter ergänzt):

Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt
Das Magazin, 3. Dezember 2016 / Mikael Krogerus & Hannes Grassegger

Hat ein Big Data Psychogramm Trump wirklich den Sieg gebracht?
jensscholz.com (Blog), 3. Dezember / Jens Scholz

Hat wirklich der grosse Big-Data-Zauber Trump zum Präsidenten gemacht?
Digitalistan (Blog WDR), 5. Dezember / Dennis Horn

Ich ganz allein allein habe Trump ins Amt gebracht
Spiegel online, 5. Dezember / Fabian Reinbold

Ist Facebook-Targeting wirklich schuld am Sieg von Donald Trump?
Wired, 5. Dezember / Elisabeth Oberndorfer

Das Ende des Wahlkampfs, wie wir ihn kennen
FAZ, 5. Dezember / Mathias Müller von Blumencron

Nein, Big Data erklärt Donald Trumps Wahlsieg nicht
Süddeutsche Zeitung, 6. Dezember / Matthias Kolb

Cambridge Analytica und die schmutzige Bombe
bug.de (Blog), 6. Dezember / Sascha Kösch

Nach Cambridge Analytica: Wie arbeiten die deutschen Parteien im digitalen Wahlkampf 2017?
Wired (Blog), 9. Dezember / Max Biederbeck & Chris Köver

Big-Data-Hokuskopus
Schweiz am Sonntag, 11. Dezember / Jan Fivaz

Big Data errreicht Schweizer Politik
Schweiz am Sonntag, 11. Dezember / Christof Moser

>>> The Power of Big Data and Psychoanalytics
Wie der CEO von Cambridge Analytica die eigenen Dienstleistungen anpreist.
Youtube-Video: Sein Auftritt dauert 11 Min. / hochgeladen: 27. September 2016

 

Früher erschienen und ohne Kontext mit der “Bomben”-Story:

Daten machen alles kaputt
Die Zeit, 4. November 2016 / Arun Chaudhary

Für aufstrebende Politiker ist Facebook eine unverzichtbare Plattform

schmid_federer_306_topelementDie Facebook-Page von Barbara Schmid-Federer zählte im Hochsommer 5200 Fans. Tausende von anderen Milizpolitikern wagen nicht einmal, von einer so grossen „Community“ zu träumen. Inzwischen hat die Zürcher CVP-Nationalrätin ihre Page vom Netz genommen. „Facebook ist nicht mehr das richtige Tool für den Wahlkampf“, erklärte sie gegenüber „Persönlich“, dem Online-Portal der Kommunikationsbranche. Beim Lesen dieses Interviews schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen: „Oh my God, Barbara!“ Ich kritisiere nicht ihre Entscheidung, sondern das Signal an andere Politiker, das sie damit medienwirksam aussandte.

Schmid-Federer ist eine begabte Wahlkämpferin. Auch weil sie früh und geschickt auf Social Media setzte, schaffte sie 2007 den Sprung in das nationale Parlament. Es ist ihre freie Entscheidung, dass sie Facebook nach zehn Jahren den Rücken kehrte. Sie ist etabliert, bewirtschaftet ihre Themen systematisch und pflegt gute Kontakte zu Journalistinnen und Journalisten. Dank dieser soliden Basis braucht sie den blauen Riesen nicht mehr, sie konzentriert sie lieber auf ihr Twitter-Konto. Auch dort wird sie wahrgenommen. Das gelingt ihr, weil sie bekannt ist und dieses Tool beherrscht.

Auf Twitter sind vor allem Multiplikatoren und Meinungsmacherinnen präsent – Werber, PR-Beraterinnen, Prominente und, seit Mitte 2011, auch viele Medienschaffende. Politiker bezeichnen den Microblogging-Dienst oft „als Gesprächsangebot für Journalisten“. Tatsache ist, dass sich in der Twitter-„Bubble“, die nicht mehr als rund 200’000 Aktive umfasst, eine knallharte Hierarchie herausgebildet hat. Wer auf kommunaler oder kantonaler Ebene politisiert, wird ignoriert. Entsprechend wächst bei solchen Nutzern die Anzahl „Follower“ nur schleppend. Nur wer jahrelang hartnäckig dranbleibt und Vieles richtig macht, wird schliesslich eine Liga aufsteigen. Tatsache ist aber auch, dass auf Twitter kein Wählerpotenzial schlummert.

mark_zuckerberg_306Facebook ist seit der Gründung im Jahr 2004 ein „Föteli-Stream“. Zur Erinnerung: Mark Zuckerbergs Plattform hiess zuerst „Hot or not“, auf der seine Kommilitoninnen der Universität Harvard bewertet wurden. Ich teile Schmid-Federers Kritik, dass Politisierende auf Facebook immer mehr ihr Privatleben inszenieren – Hinz und Kunz übrigens auch. Die Grenzen werden verwischt und irgendeinmal ist alles Private öffentlich. Diese Entwicklung zeigt sich exemplarisch bei der „Fotomanie“ rund um die eigenen Kinder. Von der Geburt bis zum Schulabschluss werden die Sprösslinge im Bild präsentiert, ja vermarktet – bei jedem Sprung ins Planschbecken, jedem neuen Zahn, jedem Bienenstich und jedem Tor am Grümpelturnier. Es geht vielen Eltern um die Aufmerksamkeitsprämie, Kinder generieren mehr „Likes“ und „Jöö“-Kommentare als Katzen-Content. Sie blenden aus, dass Fotos und Videosequenzen, die auf Facebook hochgeladen wurden, für immer der Datenkrake gehören.

Bei den Jungen gilt Facebook schon seit Jahren als voll uncool und langweilig, und deshalb haben sich viele abgesetzt. Sie tummeln sich lieber auf Whatsapp, Instagram und Snapchat. Die Abwanderung der Jungen wurde aber von den über 50-Jährigen kompensiert. Insgesamt gibt es in der Schweiz 3,5 Millionen Facebook-Nutzer, davon sind ungefähr 2,5 Millionen wahlberechtigt. Die Forschung zeigt: Von der Alterskategorie der bis 25-Jährigen nimmt bei Nationalratswahlen jeder Vierte teil, bei den 50- bis 55-Jährigen ist es jeder Zweite.

Wo die potenziellen Wählerinnen und Wähler sind, sollten auch die Politiker nicht fehlen. Facebook ist zwar ein unsympathischer Konzern, der dank unserer Naivität und unserem Narzissmus Daten à discrétion sammeln kann. Für aufstrebende Politikerinnen und Politiker ist diese Plattform aber trotzdem unverzichtbar. Natürlich wüten dort Trolls. Natürlich ist die Bereitschaft, „Likes“ zu vergeben, drastisch gesunken. Natürlich sind auf die Schnelle keine grossen Sprünge mehr möglich, auch wenn man Werbung schaltet (so genannte Ads) und die Reichweiten mit bezahlten Postings erhöht. Keine Wirkung erzielt das Absondern von Parolen, „Wählt mich, wählt mich“-Schreie und Kurzbeiträge im Stil von „Spannende Debatte an der Delegiertenversammlung“. Wer aber über Jahre hinweg Diskussionen anstösst, Fragen stellt, Geschichten erzählt und einen glaubwürdigen Dialog führt, wird einmal in die Fussstapfen von Barbara Schmid-Federer treten können. Die Erfolgsformel, die ich kreierte, heisst „i-hasi“ – in Anlehnung an die mobilen Geräte aus dem Hause Apple. „i-hasi“ steht für:
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Mark Balsiger

Dieses Posting erschien zuerst bei “Persönlich”, dem Online-Portal der Schweizer Kommunikationsbranche.

Die Wahlen werden nicht im Netz gewonnen

iHasi.inddEs ist zu einem Ritual geworden.

Zu Beginn des Jahres 2007 proklamierten die Internet-Enthusiasten: “In diesem Wahljahr erfolgt der grosse Durchbruch des Internets.” Das Wahljahr 2007 ging zu Ende, der Durchbruch blieb aus.

Anfang 2011 wiederholte sich dieselbe Ansage; konnte nicht eingelöst werden.

Im Januar 2015 ertönten wieder laute Stimmen: “Im Wahljahr 2015 kommt er bestimmt, der grosse Durchbruch.”

Nun, der Wahlkampf 2015 macht gerade Sommerpause, aber ich glaube nicht daran, dass die Kandidierenden in den verbleibenden 100 Tagen ihre Internet- und Social-Media-Nutzung noch fulminant intensivieren – und verbessern! – werden. Der Durchbruch kommt, aber schleichend: wenn die Digital Natives in der Mehrheit sind, also irgendwann zwischen den Jahren 2020 und 2025.

Zu diesen und anderen Fragen gab ich Daniele Mariani von “Swissinfo” dieser Tage ein Interview, das hier verlinkt wird.

 

Mark Balsiger

 

P.S.  All denjenigen, die schon im Netz unterwegs sind, sei unsere simple Social-Media-Formel “i-hasi” (oben) in Erinnerung gerufen.

 

 

Die „NZZ am Sonntag“, ein SVP-Twitterer und die Kristallnacht

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Seit vielen Jahren führt die „NZZ am Sonntag“ (NZZaS) eine Rubrik namens „Classe politique“. In diesen kurzen Texten kriegen normalerweise Einzelpersonen ihr Fett weg, mal witzig, mal süffisant, gelegentlich auch gesucht. Für Recherchen reicht es in der Regel nicht.

In den letzten beiden Ausgaben der NZZaS wurde ich in dieser Rubrik erwähnt. Richtig ist, dass ich in einen Rechtshändel verwickelt wurde. Unschön ist der Spin dieser Zeilen. So hat das Blatt ein entscheidendes Faktum geflissentlich ausgeblendet: Bei der Person, die gegen mich klagte, handelt es sich um den (ehemaligen) SVP-Schulpfleger aus der Stadt Zürich, der vor drei Jahren den längst berühmten Kristallnacht-Tweet veröffentlicht hatte. Die Glaubwürdigkeit des Kristallnacht-Twitterers ist derart angeschlagen, dass seine Nennung dem Text die Würze genommen hätte.

Wie der Stein ins Rollen kam: Ende Juni 2012 analysierte ich den Fall des Kristallnacht-Twitterers auf meinem Blog. Auf seine Forderung, seinen Namen zu anonymisieren oder diesen Text gar vom Netz zu nehmen, trat ich zunächst nicht ein – aus zwei Gründen:

  1.  Als gewählter Schulpfleger ist er eine öffentliche Person;
  2.  Die Dimension dieses Falles und der grosse Bekanntheitsgrad des damaligen SVP-Mannes im Netz machen ihn zu einer relativen Person der Zeitgeschichte.

Das Bezirksgericht Uster sah das anders. Ich muss Schadenersatz in der Höhe von 1735 Franken sowie 60 Prozent der Gerichtskosten (3000 Franken) bezahlen. Dieses Urteil focht ich nicht an, weil ich beruflich komplett ausgelastet war und keinen Sinn darin sah, mich weiter mit dieser Person, die nach eigenen Angaben gegen rund 20 Medienhäuser und Einzelpersonen prozessiert, auseinanderzusetzen. Der Kristallnacht-Twitterer wiederum zog das Urteil weiter, weil er eine grössere Summe wollte. Das Zürcher Obergericht lehnte dies im Frühling ab, das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.

Der Kristallnacht-Twitterer darf wieder namentlich genannt werden

Unschön ist die Rolle, welche die NZZaS in meinem Fall spielt: Sie verstösst meiner Meinung nach gegen die Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten. So dechiffrierte sie das anonymisierte Gerichtsurteil und fütterte die Rubrik „Classe politique“ mit meinem Namen und Foto – ein spannender Fall für Medienrechtler. Wenn sich solche profilieren möchten, feel free. (E-Mail an mich.)

Inzwischen hat das Zürcher Obergericht in einem anderen Fall entschieden, dass der Kristallnacht-Twitterer namentlich wieder genannt werden darf. Er sei eine relative Person der Zeitgeschichte – Bingo! Die doppelte Ironie der Geschichte: Bei den Gegnern des Kristallnacht-Twitterers, die vor Gericht diesen Erfolg errungen haben, handelt es sich um den „Tages-Anzeiger“ und… die NZZ.

Nebenbei: Dieser Gerichtsfall ist für mich eine Première, ich wurde zuvor noch nie mit einer Klage eingedeckt.

Zur Abrundung veröffentliche ich hier erneut mein Blogposting über den Kristallnacht-Twitterer vom 26. Juni 2012 – anonymisiert. Sonst flattert womöglich wieder eine Klage ins Haus.

Der Fall des Kristallnacht-Twitterers – Blogposting 2012 (PDF)


Mark Balsiger