Cassis’ Fehltritt auf der Weltbühne

Publiziert am 22. September 2022

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses Sprichwort drängt sich auf, um den jüngsten Fall von Bundespräsident Ignazio Cassis zu gewichten.

Es ist wertvoll, dass Cassis während der UNO-Generalversammlung den russischen Aussenminister Sergej Lawrow zu einem Gespräch traf. Auch wenn die Erfolgschancen im Promillebereich liegen, soll sich die offizielle Schweiz immer darum bemühen, ihre Guten Dienste anzubieten. So wie sie seit Langem erfolgreich den Austausch zwischen den USA und Iran sowie den USA und Kuba ermöglicht.

Das Foto, das seit gestern Mittwoch in den (sozialen) Medien kursiert, zeigt Lawrow und Cassis beim Händeschütteln. Beide blicken in die Kamera. Die Suggestivkraft von Bildern ist enorm. Es erstaunt deshalb nicht, dass das russische Aussenministerium dieses Foto via Twitter verbreitete (siehe Printscreen oben). Die Botschaft ist zu gut, um sie nicht für Propagandazwecke zu nutzen. Der Aussenminister der Schweiz rehabilitiert eine der Schlüsselfiguren Russlands, und das just am Tag an dem Wladimir Putin eine Teilmobilmachung befohlen hat.

Dumm gelaufen.

Es ist weit mehr als das, und deshalb treffen kritische Worte wie «unsensibel» und «ungeschickt» daneben.

Cassis ist Lawrow in die Falle getappt, wie ich im Interview mit dem Online-Portal «Blue News» ausführe (nachträglich eingefügt).

Ich arbeitete 1996/97 in Bosnien, also direkt nach dem Krieg dort, und zwar im Hauptgebäude der OSZE-Mission in Sarajevo. Es kam regelmässig zu Treffen zwischen Diplomaten, Spitzenpolitikerinnen und mutmasslichen Kriegsverbrechern. Es galt, sich jeweils im Vorfeld gut zu überlegen, welche Bilder man ermöglichen wollte. Mit den Handys konnte man damals keine Fotos machen, Social Media existierten noch gar nicht. Es war einfacher als heute, aber immer noch knifflig.

Doch zurück zur UNO. An ihren Anlässen sind stets Fotografen zugegen, die in der Regel zu Beginn auf den Auslöser drücken dürfen. Das ist Standard.

Selbstverständlich darf Cassis Lawrow die Hand geben. Es macht aber einen himmelweiten Unterschied, ob er dabei für einen Fotografen händeschüttelnd posiert oder dem Russen für ein paar Sekunden die Hand gibt, ihm entschlossen ins Gesicht blickt und sich von der Seite ablichten lässt.

Es ist die Aufgabe von Cassis’ Beraterstab, im Vorfeld jede Eventualität und jedes Risiko zu antizipieren und den Chef darauf vorzubereiten. Womöglich hat er das nicht getan. Oder er hat es getan, aber der Aussenminister reagierte im entscheidenden Moment falsch.

Cassis bemüht sich seit Jahren, als Macher wahrgenommen zu werden und an Statur zu gewinnen. Dabei unterlaufen ihm immer mal wieder kommunikative Fehler. Im vorliegenden Fall wollte er gestärkt von der Weltbühne New York in die Schweiz zurückkehren. Er, der sich mit entschlossenem Blick an einen Tisch mit Lawrow zeigt (siehe unten). Wegen seines Fehltritts bleibt uns freilich das «Handshake»-Foto in Erinnerung.


Nachtrag:

Was ich der Nachrichtensendung «Telegiornale» von RSI zum Thema sagte.

– Komplett anderer Meinung ist Alt-Bundesrat Pascal Couchepin: Er findet die Kritik an Cassis «lächerlich», wie er gegenüber der «Tagesschau» von SRF sagte.

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