Weshalb sich immer mehr Leute um Wahlen foutieren

«Wahlen sind eine Sternstunde der Demokratie.» So formulierte es vor vielen Jahren einmal ein Student von mir. Ein schöner Satz. Doch der Stern leuchtet deutlich schwächer als früher.

Bei den kantonalen Wahlen in Solothurn von gestern betrug die Wahlbeteilung 35 Prozent – ein neuer Tiefstwert. Dasselbe Bild zeigte sich vor Wochenfrist im Kanton Wallis.

Noch nie machten so wenig Walliserinnen und Solothurner von der Möglichkeit Gebrauch, die Regierung und das Parlament im eigenen Kanton zu wählen.

Die Politikwissenschaft unterteilt die Nicht-Wählerinnen und -Wähler in verschiedene Gruppen, etwa:
💠 die zufriedenen Desinteressierten
💠 die Inkompetenten
💠 die sozial Isolierten

Doch weshalb sinkt die Wahlbeteiligung? Ein paar Ansätze:

💬 Das Verständnis für Politik wird in den Schulen zu wenig vermittelt. Ich höre von meinen Studierenden immer wieder, dass auf der Stufe Sek oder Gymi Lehrpersonen vor ihnen standen, die Politik trocken und abstrakt, zuweilen sogar lustlos vermittelt hatten.

💬 Politik ist kompliziert, präziser: Politikerinnen und Politiker schaffen es oft nicht, ihr Tun verständlich zu erklären.

💬 Die Informations- und Vermittlungsleistung der Medien wird immer bescheidener, weil ihre Ressourcen seit 25 Jahren schwinden.

💬 Der Anteil der Menschen, die keine Nachrichten mehr aufnehmen (die sogenannten News-Deprivierten), nimmt zu.

💬 Es geht bei Wahlen um wenig. Auf Sachebene können wir alle paar Monate abstimmen, d.h. beispielsweise Entscheidungen des Parlaments mit einem Referendum kippen.

Eine ergänzende Vermutung: Seit sich die geopolitische Lage destabilisiert hat und die Kanäle mit «Shit» geflutet werden (Steve Bannon), ziehen sich viele Leute zurück ins Schneckenhaus. Der Lärm hat sie ermüdet und sie kapseln sich deshalb aus Selbstschutz ab. Wie sollen solche Menschen wissen, welche Parteien im Wahlkreis Olten-Gösgen zur Verfügung stehen oder welche Auswirkungen der doppelte Pukelsheim auf die Sitzverteilung im Wallis hat?

Die tiefe Wahlbeteiligung, eine Form der A-là-carte-Demokratie, macht mir Sorgen. Klar ist: Nur gut informierte Menschen können überlegte Entscheidungen an der Urne treffen. Im Umkehrschluss sind sie: Wahlvieh.

Kein Vertrauen, kein Team – ein Debakel

Nein, das Verteidigungsdepartement «implodierte nicht praktisch über Nacht», wie das die NZZ heute schreibt. Es wird durchgeschüttelt, weil vier Schüsselfiguren in den nächsten 12 Monaten den Hut nehmen und die Ruag von einem neuen Skandal eingeholt wurde.

Was ins Auge sticht: Armeechef Thomas Süssli reichte seine Kündigung am 30. Januar ein, Christian Dussey, der Chef des Nachrichtendiensts, bereits am 20. Januar.

VBS-Chefin Viola Amherd liess die vertraulichen Dokumente zu diesen brisanten Personalien aber erst gestern Dienstagmorgen hochladen und für die heutige Sitzung des Bundesrates traktandieren. Auf diese Weise haben einzelne Mitarbeitende aus den anderen sechs Departementen Zugriff.

⚡️ Zwischen den Kündigungen von Dussey bzw. Süssli und Amherds Information an den Gesamtbundesrat liegen 25 bzw. 35 Tage. Der Armeechef ist seit dem Beginn des Ukrainekriegs vor drei Jahren die wichtigste Figur in der Bundesverwaltung. Weshalb wurde der Gesamtbundesrat nicht viel früher über Süsslis Rücktritt informiert?

⚡️ Es dauerte gerade einmal eine Stunde, bis die brisanten Personalien den Medien gesteckt wurden.

Einmal mehr zeigt sich: Die sieben Mitglieder der Landesregierung vertrauen einander nicht, sie schauen nur für sich. Der Verteilkampf ums Geld und persönliche Animositäten verhindern, dass sich so etwas wie Teamgeist entwickeln könnte.

Wie die Sache abgelaufen ist, schildert CH Media hier.

Foto: Getty Images 

So wird das nichts mit dem Angriff auf den zweiten FDP-Sitz

 

Ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, Bundesrat Ignazio Cassis kündigt in ein paar Monaten seinen Rücktritt an, weil er gesundheitlich angeschlagen ist. Cassis nahm im Herbst 2017 Einsitz in der Landesregierung und deshalb ist allen klar, dass er nicht mehr fünf oder sechs Jahre bleiben wird. Wer bei der FDP seinen Sitz erben möchte, hat sich längst in Stellung gebracht.

Kaum hat sich also Cassis erklärt, so unser Gedankenspiel, prescht die Spitze der Mitte-Partei vor und meldet: «Wir greifen den FDP-Sitz an!» Nach all dem, was die letzten Wochen passiert ist, könnten sich Journalistinnen und Parteistrategen ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. Die Glaubwürdigkeit hat arg gelitten, die Partei wirkt wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt, man nimmt sie seit ihrer verzweifelten Suche nach Kandidierenden nicht mehr ernst.

Martin Pfister, Regierungsrat aus dem Kanton Zug, ist also der zweite Kandidat neben Bauernpräsident Markus Ritter. Am Montagmittag, als die Anmeldefrist ablief, fand man auf seiner Website gerade einmal vier Sätze zu seiner Bundesratskandidatur. Im Verlaufe des Nachmittags war diese dann längere Zeit offline. Eine Medienkonferenz gibt es laut Pfisters Website noch nicht, für Fragen der Journalisten steht er nicht zur Verfügung. Auf der Website der Mitte-Kantonalpartei wiederum findet man sechs Sätze und – inzwischen – einen Medientermin. Am Donnerstag um 10 Uhr lädt sie nach Baar ein.

Mit Verlaub, aber diese Ankündigung ist ein Fehlstart, Martin Pfister muss damit rechnen, als  «last minute Martin» etikettiert zu werden. Er wollte seine Partei vor einer Schmach bewahren, das ehrt ihn. Jetzt wird er verheizt.

Vor 20 Jahren habe ich Martin Pfister, als er noch nicht einmal im Kantonsparlament sass, kennengelernt. Er ist integer, ein guter Kopf. Zweimal wurde er mit dem besten Resultat als Regierungsrat wiedergewählt. Er mache einen «sehr soliden Job», sagen meine Vertrauenspersonen – keine Mitte-Parteigänger – im Kanton Zug.

Mit leeren Händen stehen die Frauen da. Niemand aus ihrem Kreis wollte kandidieren. Dies nachdem die Präsidentin der Mitte-Frauen unmittelbar nach Viola Amherds Rücktrittsankündigung Anspruch auf einen Platz auf dem Ticket angemeldet hatte.

Dass Amherds Rücktritt kommen wird, war seit zwei Jahren klar. Man hätte sich darauf vorbereiten können. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Die Mitte konnte bei den eidgenössischen Wahlen 2023 leicht zulegen. Sie kommt bis auf 0,2 Prozentpunkte an die FDP heran und hat diese in Sitzen sogar überholt. Die Lust, dem früheren Feind aus Kulturkampf-Zeiten den zweiten Sitz im Bundesrat abzujagen, war lange spürbar.

Mit dem neuen Parteinamen, obschon weiterhin CVP drin ist, will die Mitte das Mittelland von St. Gallen bis Genf erobern, dort, wo heute die Mehrheit der Menschen lebt. Und jetzt spottet das halbe Land über die sie. So wird das nichts mit dem zweiten Bundesratssitz.

Die nächsten Wochen bis zur Bundesrats-Ersatzwahl werden nicht einfacher. Ob sich die peinliche Phase sogar elektoral niederschlägt, werden die kantonalen Wahlen im Wallis vom 2. März und eine Woche später in Solothurn zeigen.

Der «Chrampf» der Mitte um die Amherd-Nachfolge

Wenn eine Partei einen Sitz im Bundesrat ersetzen darf, hat sie die Chance, kleine Festspiele zu inszenieren. Voraussetzung dafür ist, dass die Schlüsselfiguren mitmachen und sich ans gleiche Drehbuch halten. Kaum etwas interessiert die Medien mehr als die Kapitel vor dem Wahltermin. Endlich einmal etwas Spannung und Glamour in einem Land, das nie einen König hatte! Parteien können ihr Personal ins beste Licht rücken und, wenn sie es geschickt machen, sogar Inhalte und Positionen vermitteln.

Der Mitte ist das nicht geglückt. Kaum hatte Viola Amherd ihren Rücktritt am 15. Januar bekanntgegeben, taten sich Gräben auf zwischen den katholisch geprägten Stammlanden (die am «C» im Parteinamen lieber festgehalten hätten, C für christlich) und den bevölkerungsstarken Kantonen, dort, wo die Parteimitglieder sozial-liberaler, progressiver und jünger sind. Keck preschten die Mitte-Frauen vor. Gerhard Pfister, der in der Partei mehr als acht Jahre lang einen Führungsanspruch hatte und sie schliesslich 2023 stabilisierte, war plötzlich nicht mehr «Master of Ceremony».

Inzwischen steht zwar «Mitte» drauf, es ist aber weiterhin CVP drin. Und diese CVP war immer ein Chor, in dem man gleichzeitig Arien vor Gershwin, Volkslieder aus dem 18. Jahrhundert und Popsongs singt. Das klingt meistens: kakophonisch.

Statt die Aufmerksamkeit zu nutzen und auf das Karussell zu steigen, sagten mehr als ein halbes Dutzend mögliche Papabili ab. Die Partei macht dieser Tage einen pitoyablen Eindruck. Satiriker Bänz Friedli, gerade mit seinem neuen Programm auf Tournee, träufelt Zitronensaft in die offene Wunde. Wie immer befähigt, Tagesaktuelles einzubauen, fragt er, ob jetzt «Verzweiflungskandidaturen» kämen.

Heute wird der St. Galler Nationalrat Markus Ritter von seiner Kantonalsektion ins Rennen geschickt, und das ist kein Verzweiflungskandidat. Aus der Zentralschweiz ist spürbar, dass Ständerätin Andrea Gmür sich sehr für die Amherd-Nachfolge interessiert. Klar ist: Wer immer die Walliserin im Bundesrat ersetzt, muss das VBS übernehmen – ein grosses Departement mit einigen Fürsten, ein paar kalten Kriegern und vielen Baustellen.

Darüber habe ich im «TalkTäglich» von TeleZüri und seinen Schwestersendern TVO (Ostschweiz), TeleM1 (AG/SO) und TeleBärn gesprochen – zusammen mit Gastgeber Oliver Steffen und Doris Kleck, der Co-Bundeshausleiterin von CH Media. Hier gibt’s den Talk zum Nachschauen.

Viola Amherd und Gerhard Pfister gehen: Zwei Rücktritt, zwei Hypothesen

Im August 1995 trat Otto Stich (SP) vor die sommerlich-schläfrigen Medien und gab seinen Rücktritt bekannt. Niemand hatte damit gerechnet, der Solothurner Bundesrat freute sich spitzbübisch. Gestern schaffte Viola Amherd (Die Mitte, Foto links) dasselbe Kunststück.

Am 6. Januar hatte Gerhard Pfister (rechts) seinen Rücktritt als Mitte-Präsident auf Juni angekündigt, neun Tage später folgt Amherd. Sie beendet ihre politische Karriere bereits Ende März. Gibt es einen Zusammenhang?

Die Gilde der Kaffeesatzleser hat jetzt Konjunktur. Zwei Hypothesen.

A) Der Plan
Es gibt Journalistinnen und Politbeobachter, die davon ausgehen, dass Pfister mit einigem Vorlauf von Amherds Entscheidung wusste. So konnte er sich mit seiner Ankündigung die Pole Position für die Nachfolge sichern. Der ausgebuffte Stratege weiss, wie man das Spiel liest.

B) Die List
Amherd wollte eigentlich nach der Frauen-Fussball-EM im Sommer ihren Rücktritt ankündigen. Doch weil diese Absicht derart logisch war und herumgeboten wurde, zudem die Mühsal mit den harzigen Geschäften immer mehr nervt, verschob sie den Termin auf März. Auf diese Weise überlistete sie alle und kann – mutmasslich – einen alleinigen Abgang aus der Landesregierung geniessen. Sie überlistet insbesondere Pfister, der die Partei weiterhin präsidiert und damit unter Zugzwang kommt.

Eine Doppelrolle – Präsident und Bundesratskandidat – ist generell nicht ideal, gerade bei der Mitte, weil Pfister sie stark geprägt hat. Will der Zuger Bundesrat werden, muss er die Führung der Partei schleunigst an das Vizepräsidium abgeben. Pfister hat nicht nur Freunde unter der Bundeshauskuppel, andere heiss gehandelte Kandidaten seiner Partei sind populärer. Eine Imagekorrektur braucht Zeit, acht Wochen sind eine kurze Phase.

Hypothese B klingt abenteuerlich, ich weiss. Aber hey, man sollte Walliserinnen nie unterschätzen.

Zwei Interviews, die ich zu diesem Thema gegeben haben, sind hier verlinkt:

🗞️ Über den Einfluss der SVP und die Lust, für den Bundesrat zu kandidieren – «Watson»

📺 Über mögliche Nachfolger und die Chancen eines Doppelrücktritts mit Ignazio Cassis  – Live-TV-Interview von gestern Nachmittag
«20 Minuten» (Dauer: 20 Minuten)

Foto: Die Mitte (Website)

Es geht nichts über geschicktes Timing

Viele Medien zeigten sich überrascht, als Gerhard Pfister (im Bild rechts) seinen Rücktritt als Parteipräsident auf Mitte Jahr bekanntgab. Das überrascht mich, weil der Zeitpunkt ideal ist für beide: die Partei und Pfister.

➡️ Die Vorbereitungen für eidgenössische Wahlen beginnen inzwischen zwei Jahre vor dem Wahltermin. Es macht also Sinn, wenn schon im Sommer dieses Jahres eine neue Kraft die Führung der Partei übernimmt.

➡️ Gerhard Pfister werden schon seit Jahren Bundesrats-Ambitionen nachgesagt. Die letzten neun Jahre haben gezeigt, dass er Parteipräsident kann. Der logische – und letzte – Karriereschritt wäre: Bundesrat. Der ausgebuffte Stratege hat sich für die Nachfolge von Viola Amherd (links) in eine ausgezeichnete Position gebracht. Es geht nichts über geschicktes Timing.

🟧 Amherd wurde im Dezember 2018 gewählt, ist also seit sechs Jahren im Amt. Sie erkämpfte ein Volks-Ja zu neuen Kampfjets (2020), schuf das neue Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (2023), holte sich bei der Ausrichtung der Bürgenstock-Konferenz gute Noten (2024) und kann sich während der Fussball-EM der Frauen im Juli den Medien und Massen volksnah zeigen. Kaum jemand im Bundeshausperimeter glaubt, dass sie die Legislatur beenden wird, also bis Ende 2027 bleibt. Naheliegend ist vielmehr, dass Sie auf Ende dieses oder nächsten Jahres aufhört.

Bei Bundesratswahlen ist Standard, dass Fraktionen Zweiertickets präsentieren. Ob dieses oder nächstes Jahr: Die Mitte-Fraktion wird nicht darum herumkommen, Pfister zu nominieren. Seine Verdienste für die Partei sind gross, und sie sind breit anerkannt. Ihm gelang es zusammen mit Generalsekretärin Gianna Luzio, seiner wichtigsten Vertrauten, die Partei zu stabilisieren, mit der BDP zu fusionieren und ihr einen neuen Namen zu verpassen.

Das «C» ist weg, nachdem sich das katholische Milieu schon zuvor aufgelöst hatte, und damit wird Die Mitte auch im urbanen Mittelland wählbar. Die CVP hätte übrigens bereits 1970 die Chance gehabt, einen Namen ohne «C» zu wählen: Zur Auswahl stand damals u.a. Schweizerische Volkspartei (SVP). Die heutige SVP hiess damals noch Bauern-Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) und notierte bei 10 Prozentpunkten. Die Parteienlandschaft sähe heute anders aus, wenn die Katholisch-Konservativen am entscheidenden Parteitag in Solothurn den Mut gehabt hätten, über ihren Schatten zu springen.

Doch zurück zu Pfister. Wenn er will, steht sein Name dereinst auf dem Zweierticket. Als Parteipräsident wäre das deutlich schwieriger. Die Wetten laufen.

Foto: Die Mitte (Website)

Die Volksinitiative braucht ein Update

Wir sind stolz auf sie. Seit ihrer Einführung im Jahr 1891 konnte das Schweizer Stimmvolk 234 Mal über eine Volksinitiative befinden, im Durchschnitt also etwa zwei Mal pro Jahr. Sie brachten immer wieder lange, intensive, manchmal auch gehässige Debatten in die Stuben und Sääle. Das ist ein wichtiger Teil. 

Diese Woche hat der Ständerat die ersten Weichen gestellt, damit Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden digital gesammelt werden können. Dieser Entscheid steht unter dem Eindruck des Skandals, der im September bekannt worden war. Kommerzielle Sammler hatten mutmasslich Tausende von Unterschriften gefälscht. Das ist Gift für das Vertrauen in die Demokratie.

Die Skepsis gegenüber dem digitalen Sammeln von Unterschriften ist weiterhin gross. Doch es geht nicht nur um Sicherheit und Datenschutz. Das Sammeln würde einfacher, was zu noch mehr Volksinitiativen führen kann. Unter den Strich wäre das positiv, wenn die Begehren echte Debatten anstossen und die Demokratie so revitalisiert wird. Die kritische Betrachtung: Volksinitiativen treiben das Parlament und das Volk vor sich hin, was zu Politik-Müdigkeit führt.

Zu Beginn war die Volksinitiative das Instrument der Opposition, also der SP und der Katholisch-Konservativen. Sie brachten regelmässig Grundsatzfragen aufs Tapet. In den Neunzigerjahren begann sich der Charakter der Volksinitiative zu verändern. Inzwischen ist sie oft ein Marketing-Vehikel, listig formuliert und emotional aufladbar. Es geht um Aufmerksamkeit, Spenden und Mitgliederwerbung. Zuweilen wird sie verwendet als Druckmittel oder Drohkulisse. Die Vordenker des modernen Bundesstaats würden sich im Grab umdrehen, wenn sie mitbekämen, was aus ihrer Volksinitiative geworden ist.

Ursprünglich brauchte es für das Zustandekommen 7,6 Prozent der Stimmberechtigten, inzwischen weniger als 2 Prozent. Diese Hürde ist tief – zu tief, finde ich. Doch die Diskussion darüber wollen die Akteure nicht führen, weil niemand als «Abbauer der Volksrechte» gebrandmarkt werden will. Vor zehn Jahren regte ich in einem Gastbeitrag in der «Handelszeitung» an, die Unterschriftenzahl moderat zu erhöhen. Anstelle der statischen Zahl 100‘000, die in der Bundesverfassung steht, würde man besser eine dynamische Zahl verwenden, zum Beispiel 2,5 Prozent. Bei 2,5 Prozent der Stimmberechtigten bräuchte es zurzeit 137‘000 gültige Unterschriften, bei 3 Prozent wären es 165‘000 Unterschriften. Die Schweiz mutierte deswegen nicht zur Plutokratie, es geht um ein pragmatisches Update.

Die Volksinitiative ist das wertvollste Instrument der Schweizer Politik. Wird es inflationär genutzt, verliert es einen Teil seines Wertes.

Ergänzend, zum Thema «Initiativenflut», eine Grafik von Swissinfo. Sie zeigt, dass im Jahr 2011 insgesamt 24 Volksinitiativen ergriffen wurden – bislang ein Rekordwert.

Foto: Stefan Lanz/20 Minuten

Diese Ja-Lawine kam nicht aus dem Nichts

Das ist historisch: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz ist eine linke Volksinitiative, die den Ausbau des Sozialstaats verlangt, mehrheitsfähig. Die Bürgerlichen und die Wirtschaftsverbände haben zu lange unterschätzt, wie populär die 13. AHV-Rente ist. Ein Abstimmungskommentar. 

Während Jahrzehnten war für die Schweizerinnen und Schweizer klar: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Bevölkerung. Sinnbildlich dafür steht die Abstimmung über eine sechste Ferienwoche, die das Volk 2012 mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatte. (Keiner der 23 Stände stimmte dafür.)

Nicht markant besser erging es der AHV-plus-Initiative: Sie wurde 2016 mit 59.4 Prozent Nein abgelehnt, bei immerhin fünf Ständen, die Ja stimmten (GE, JU, NE, VD und TI). Diese Initiative verlangte eine Erhöhung aller AHV-Renten um 10 Prozent.

Die AHV-plus-Initiative und die Initiative für eine 13. AHV-Rente, die eine Rentenerhöhung von 8.3 Prozent bedeutet, sind miteinander vergleichbar. Seit September 2016 ist in diesem Land offensichtlich etwas ins Rutschen geraten.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten ist zum Schluss gekommen, dass sie sich etwas gönnen darf: 58.2 Prozent und 15 Stände sagten Ja, die Stimmbeteiligung betrug 58.3 Prozent (siehe Grafik am Schluss dieses Postings.) Die Volksinitiative der Gewerkschaften kam nur durch, weil konservative Schichten der Mitte und der SVP mitgenommen wurden. Der Respekt vor hohen Mehrkosten ist geschwunden. Das Geld ist ja irgendwo vorhanden, glauben viele. Dieser Glaube kommt nicht von irgendwoher:

– Während der Pandemie schoss der Bund fast überall viel, viel Geld ein (insgesamt rund 30 Milliarden Franken).
– Das Budget der Armee wird bis 2035 auf 10 Milliarden Franken erhöht, also nahezu verdoppelt.
– Nachdem die raffgierigen Manager der Credit Suisse sich die letzten 20 Jahre nicht weniger als 42 Milliarden Franken Boni ausbezahlt hatten, ging das Licht der Grossbank aus. Der Bund versprach bei der Übernahme durch die UBS eine Defizitgarantie in Milliardenhöhe, die Schweizerische Nationalbank (SNB) ein Darlehen von bis zu 200 Milliarden Franken.

Angesichts solcher Summen scheinen 4 oder 5 Milliarden Franken, die die Rentenerhöhung pro Jahr kostet, verkraftbar.

Das Ja zur 13. AHV-Rente ist keine Überraschung. Eine Mehrheit hat allerdings nicht aus Solidarität mit den Bedürftigen Ja gestimmt, sondern aus Egoismus. Das simple Motto: Jetzt bin ich an der Reihe!

Die Eliten der bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände haben die Popularität dieses Anliegen zu lange unterschätzt. Sie hätten es im Parlament mit einem Gegenvorschlag entscheidend entschärfen können. Doch im Getöse des eidgenössischen Wahljahrs vertraute man auf den Knick der Volksinitiativen, die praktisch immer stark an Zustimmung verlieren, je näher der Abstimmungstermin rückt.

Im breiten Ja-Lager glaubte man bis zum Schluss an den Abstimmungserfolg, seine Kampagne war druckvoll und durchdacht. Der Subtext – zum 13. Monatslohn ist eine 13. AHV-Rente nur folgerichtig – entfaltete seine Wirkung. Die guten Umfrageresultate motivierten viele Leute erst recht, sich zu beteiligen, das individuelle Engagement war riesig.

Wenn in einem Steilhang der Schnee ins Rutschen kommt, entsteht eine Lawine. Genau das ist passiert in den letzten Monaten. Man muss allerdings nicht Bergführerin sein, um zu wissen: Lawinen kommen nicht aus dem Nichts. Es braucht Wind, viel Neuschnee oder einen markanten Temperaturanstieg, bis sie ins Tal donnern.

Das Ja ist ein Triumph für die Gewerkschaften: Sie hatten im Herbst 2022 das Referendum zur AHV-21-Reform knapp verloren, womit ihre Vetomacht gebrochen schien. (Es ging dabei u.a. um ein höheres Rentenalter der Frauen.) Jetzt sind sie zurück, Beobachter sprechen von einer «Zeitenwende» in der Sozialpolitik. Noch nie hat das Stimmvolk eine Volksinitiative, die den Sozialstaaat ausbaut, gutgeheissen. Es ist möglich, dass nun das frivole Geldausgeben weitergeht. Bereits sind neue Forderungen auf dem Tisch, dabei ist völlig unklar, wie die 13. AHV-Rente finanziert werden soll.

Foto: all-in.de
Grafik: Tamedia 

 

Nachtrag vom 5. März: Die Nachbefragung von Tamedia/LeeWas:

Ein Appell zum «zäme Schnurre»

Ein Plus von drei Prozentpunkten und neun Sitzen im Nationalrat ist in der Schweiz ein Erdrutsch. (Korrektur vom 25. Oktober: Weil das Bundesamt für Statistik die Parteistärken am Wahltag falsch zählte, beträgt das Plus der SVP jetzt nur noch 2.3 Prozent). Für progressive, liberale und linke Kreise ist der Wahlerfolg der SVP schwer zu verdauen. Sie hadern. Ein Blick zurück würde ihnen helfen, um dieselben Fehler nicht immer zu wiederholen.

Bis Ende der Achtzigerjahre war die SVP eine biedere 10-Prozent-Partei. 1992 pflügte die Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Parteienlandschaft um. Das knappe Nein war ein Triumph für die national-konservativen Kräfte, der rasante Aufstieg der neuen SVP begann.

Das Land war damals verzagt und kämpfte gegen eine hartnäckige Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit plagte die Menschen. Erst ab 1998, also noch vor dem Inkrafttreten der Bilateralen Verträge, begann die Wirtschaft wieder zu wachsen.

Seit 20 Jahren ist die SVP mit Abstand die grösste Partei. Ihre Wählerstärke hat sich inzwischen bei 25 bis 29 Prozentpunkten eingependelt. Das ist nicht gottgegeben.

Wer SVP wählt, wünscht sich die Schweiz von früher zurück. Wer SVP wählt, hat Angst vor der Zukunft. Dass viele Leute die Zuwanderung als bedrohlich empfinden, ist offensichtlich. Die SVP Schweiz spielte in ihrer Wahlkampagne erneut die Karte «Ausländer raus!» und duldet Brandstifter in den eigenen Reihen. Sie bewirtschaftet Probleme, steht aber abseits, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu erarbeiten.

Wer der SVP einen Teil ihrer Wählerschaft wieder abluchsen will, muss besser sein, sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren und überzeugend kommunizieren. In meiner Beobachtung passiert zumindest im städtischen Raum etwas anderes: SVP-Wähler werden belächelt, ausgegrenzt und nicht selten dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, eine braune Gesinnung zu haben. Die Schlagworte sind oftmals genauso dumpfbackig wie diejenigen der Volkspartei.

Vor wenigen Wochen kam ich im Politforum Bern mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er sei, gestand er mir im Flüsterton, Mitglied der SVP. Das dürfe er nicht laut sagen, sonst werde er sofort an den Pranger gestellt.

Auf Twitter lärmt seit Jahren ein Mob, der sich an Reizfiguren wie Andreas Glarner oder Roger Köppel abarbeitet. Das generiert viele Likes und peitscht andere an, ins gleiche Horn zu stossen. Die SVP’ler, zahlenmässig deutlich schwächer, schlagen zurück. Der Kurznachrichtendienst setzt den Ton, der in alle anderen Kanäle und Medien schwappt. Das Klima wird noch giftiger.

In progressiven, liberalen und linken Bubbles wurde es zum Volkssport, alle SVP-Mitglieder pauschal auszugrenzen und mit Gülle zu überschütten. Das halte ich für kontraproduktiv. Genauso wie es ein Fehler war, Christoph Blocher 2007 die Wiederwahl im Bundesrat zu verweigern. Das ist bis heute ein Trauma für die Partei.

Ein Sprichwort aus China sagt: «Die Hand, die du nicht abhacken kannst, solltest du schütteln.» Statt sich stets nur in den eigenen Kreisen zu bewegen und Andersdenkende zu diffamieren, müsste man auf SVP-Wähler zugehen und den Dialog mit ihnen suchen. «Zäme schnurre» ist die Voraussetzung, um Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Ein nächster Schritt könnte sein, dass einzelne SVP-Wähler sich von ihrer Partei abwenden.

Wächst die Fundamentalopposition noch weiter, droht der Stillstand, aber das können wir uns angesichts der ungelösten Probleme nicht leisten.

Prognosen für die Ständeratswahlen in den Kantonen Aargau, Bern, Solothurn und Zürich

Der Wahltag ist da, für die Beteiligten beginnt das lange Warten. Ich habe mein Prognosemodell, das in den letzten Jahren fast immer zuverlässig war, angeworfen. Es funktioniert nur für Majorzwahlen. Ich konzentrierte mich auf die Ständeratswahlen in vier Kantonen.

Zunächst, natürlich, der Aargau – meine alte Heimat: Hier schafft es der bisherige FDP-Ständerat Thierry Burkart im ersten Wahlgang.

Im Kanton Bern ist die Ausgangslage offener. Laut meinem Prognosemodell zersplittern sich die Stimmen wegen den vielen guten Kandidaturen stark. Folglich schafft es auch der Bisherige Werner Salzmann nicht im ersten Wahlgang.

Im Kanton Solothurn tritt der langjährige SP-Mann Roberto Zanetti zurück. Seit 1999 konnte die SP dieses Sitz für sich beanspruchen, zuerst mit Ernst «Aschi» Leuenberger, nach dessen frühen Tod 2010 mit Zanetti. Die besten Karten, seinen Sitz zu erobern, hat FDP-Regierungsrat Remo Ankli. Laut Modell schafft der Bisherige Pirmin Bischoff, immerhin seit 2011 Ständerat, dieses Mal die Wiederwahl nicht im ersten Anlauf.

Wegen Ruedi Nosers (FDP) Rücktritt ist die Ausgangslage im Kanton Zürich offen und sehr spannend. Hier richtig zu rechnen, war noch anspruchsvoller als anderswo.


Mein Prognosemodell berücksichtigt die Parteistärke, den Support von «Alliierten» sowie den Bekanntheitsgrad. Die Gewichtung bleibt mein Geheimnis.