Diese Ja-Lawine kam nicht aus dem Nichts

Das ist historisch: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz ist eine linke Volksinitiative, die den Ausbau des Sozialstaats verlangt, mehrheitsfähig. Die Bürgerlichen und die Wirtschaftsverbände haben zu lange unterschätzt, wie populär die 13. AHV-Rente ist. Ein Abstimmungskommentar. 

Während Jahrzehnten war für die Schweizerinnen und Schweizer klar: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Bevölkerung. Sinnbildlich dafür steht die Abstimmung über eine sechste Ferienwoche, die das Volk 2012 mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatte. (Keiner der 23 Stände stimmte dafür.)

Nicht markant besser erging es der AHV-plus-Initiative: Sie wurde 2016 mit 59.4 Prozent Nein abgelehnt, bei immerhin fünf Ständen, die Ja stimmten (GE, JU, NE, VD und TI). Diese Initiative verlangte eine Erhöhung aller AHV-Renten um 10 Prozent.

Die AHV-plus-Initiative und die Initiative für eine 13. AHV-Rente, die eine Rentenerhöhung von 8.3 Prozent bedeutet, sind miteinander vergleichbar. Seit September 2016 ist in diesem Land offensichtlich etwas ins Rutschen geraten.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten ist zum Schluss gekommen, dass sie sich etwas gönnen darf: 58.2 Prozent und 15 Stände sagten Ja, die Stimmbeteiligung betrug 58.3 Prozent (siehe Grafik am Schluss dieses Postings.) Die Volksinitiative der Gewerkschaften kam nur durch, weil konservative Schichten der Mitte und der SVP mitgenommen wurden. Der Respekt vor hohen Mehrkosten ist geschwunden. Das Geld ist ja irgendwo vorhanden, glauben viele. Dieser Glaube kommt nicht von irgendwoher:

– Während der Pandemie schoss der Bund fast überall viel, viel Geld ein (insgesamt rund 30 Milliarden Franken).
– Das Budget der Armee wird bis 2035 auf 10 Milliarden Franken erhöht, also nahezu verdoppelt.
– Nachdem die raffgierigen Manager der Credit Suisse sich die letzten 20 Jahre nicht weniger als 42 Milliarden Franken Boni ausbezahlt hatten, ging das Licht der Grossbank aus. Der Bund versprach bei der Übernahme durch die UBS eine Defizitgarantie in Milliardenhöhe, die Schweizerische Nationalbank (SNB) ein Darlehen von bis zu 200 Milliarden Franken.

Angesichts solcher Summen scheinen 4 oder 5 Milliarden Franken, die die Rentenerhöhung pro Jahr kostet, verkraftbar.

Das Ja zur 13. AHV-Rente ist keine Überraschung. Eine Mehrheit hat allerdings nicht aus Solidarität mit den Bedürftigen Ja gestimmt, sondern aus Egoismus. Das simple Motto: Jetzt bin ich an der Reihe!

Die Eliten der bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände haben die Popularität dieses Anliegen zu lange unterschätzt. Sie hätten es im Parlament mit einem Gegenvorschlag entscheidend entschärfen können. Doch im Getöse des eidgenössischen Wahljahrs vertraute man auf den Knick der Volksinitiativen, die praktisch immer stark an Zustimmung verlieren, je näher der Abstimmungstermin rückt.

Im breiten Ja-Lager glaubte man bis zum Schluss an den Abstimmungserfolg, seine Kampagne war druckvoll und durchdacht. Der Subtext – zum 13. Monatslohn ist eine 13. AHV-Rente nur folgerichtig – entfaltete seine Wirkung. Die guten Umfrageresultate motivierten viele Leute erst recht, sich zu beteiligen, das individuelle Engagement war riesig.

Wenn in einem Steilhang der Schnee ins Rutschen kommt, entsteht eine Lawine. Genau das ist passiert in den letzten Monaten. Man muss allerdings nicht Bergführerin sein, um zu wissen: Lawinen kommen nicht aus dem Nichts. Es braucht Wind, viel Neuschnee oder einen markanten Temperaturanstieg, bis sie ins Tal donnern.

Das Ja ist ein Triumph für die Gewerkschaften: Sie hatten im Herbst 2022 das Referendum zur AHV-21-Reform knapp verloren, womit ihre Vetomacht gebrochen schien. (Es ging dabei u.a. um ein höheres Rentenalter der Frauen.) Jetzt sind sie zurück, Beobachter sprechen von einer «Zeitenwende» in der Sozialpolitik. Noch nie hat das Stimmvolk eine Volksinitiative, die den Sozialstaaat ausbaut, gutgeheissen. Es ist möglich, dass nun das frivole Geldausgeben weitergeht. Bereits sind neue Forderungen auf dem Tisch, dabei ist völlig unklar, wie die 13. AHV-Rente finanziert werden soll.

Foto: all-in.de
Grafik: Tamedia 

 

Nachtrag vom 5. März: Die Nachbefragung von Tamedia/LeeWas:

Ein Appell zum «zäme Schnurre»

Ein Plus von drei Prozentpunkten und neun Sitzen im Nationalrat ist in der Schweiz ein Erdrutsch. (Korrektur vom 25. Oktober: Weil das Bundesamt für Statistik die Parteistärken am Wahltag falsch zählte, beträgt das Plus der SVP jetzt nur noch 2.3 Prozent). Für progressive, liberale und linke Kreise ist der Wahlerfolg der SVP schwer zu verdauen. Sie hadern. Ein Blick zurück würde ihnen helfen, um dieselben Fehler nicht immer zu wiederholen.

Bis Ende der Achtzigerjahre war die SVP eine biedere 10-Prozent-Partei. 1992 pflügte die Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Parteienlandschaft um. Das knappe Nein war ein Triumph für die national-konservativen Kräfte, der rasante Aufstieg der neuen SVP begann.

Das Land war damals verzagt und kämpfte gegen eine hartnäckige Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit plagte die Menschen. Erst ab 1998, also noch vor dem Inkrafttreten der Bilateralen Verträge, begann die Wirtschaft wieder zu wachsen.

Seit 20 Jahren ist die SVP mit Abstand die grösste Partei. Ihre Wählerstärke hat sich inzwischen bei 25 bis 29 Prozentpunkten eingependelt. Das ist nicht gottgegeben.

Wer SVP wählt, wünscht sich die Schweiz von früher zurück. Wer SVP wählt, hat Angst vor der Zukunft. Dass viele Leute die Zuwanderung als bedrohlich empfinden, ist offensichtlich. Die SVP Schweiz spielte in ihrer Wahlkampagne erneut die Karte «Ausländer raus!» und duldet Brandstifter in den eigenen Reihen. Sie bewirtschaftet Probleme, steht aber abseits, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu erarbeiten.

Wer der SVP einen Teil ihrer Wählerschaft wieder abluchsen will, muss besser sein, sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren und überzeugend kommunizieren. In meiner Beobachtung passiert zumindest im städtischen Raum etwas anderes: SVP-Wähler werden belächelt, ausgegrenzt und nicht selten dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, eine braune Gesinnung zu haben. Die Schlagworte sind oftmals genauso dumpfbackig wie diejenigen der Volkspartei.

Vor wenigen Wochen kam ich im Politforum Bern mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er sei, gestand er mir im Flüsterton, Mitglied der SVP. Das dürfe er nicht laut sagen, sonst werde er sofort an den Pranger gestellt.

Auf Twitter lärmt seit Jahren ein Mob, der sich an Reizfiguren wie Andreas Glarner oder Roger Köppel abarbeitet. Das generiert viele Likes und peitscht andere an, ins gleiche Horn zu stossen. Die SVP’ler, zahlenmässig deutlich schwächer, schlagen zurück. Der Kurznachrichtendienst setzt den Ton, der in alle anderen Kanäle und Medien schwappt. Das Klima wird noch giftiger.

In progressiven, liberalen und linken Bubbles wurde es zum Volkssport, alle SVP-Mitglieder pauschal auszugrenzen und mit Gülle zu überschütten. Das halte ich für kontraproduktiv. Genauso wie es ein Fehler war, Christoph Blocher 2007 die Wiederwahl im Bundesrat zu verweigern. Das ist bis heute ein Trauma für die Partei.

Ein Sprichwort aus China sagt: «Die Hand, die du nicht abhacken kannst, solltest du schütteln.» Statt sich stets nur in den eigenen Kreisen zu bewegen und Andersdenkende zu diffamieren, müsste man auf SVP-Wähler zugehen und den Dialog mit ihnen suchen. «Zäme schnurre» ist die Voraussetzung, um Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Ein nächster Schritt könnte sein, dass einzelne SVP-Wähler sich von ihrer Partei abwenden.

Wächst die Fundamentalopposition noch weiter, droht der Stillstand, aber das können wir uns angesichts der ungelösten Probleme nicht leisten.

Prognosen für die Ständeratswahlen in den Kantonen Aargau, Bern, Solothurn und Zürich

Der Wahltag ist da, für die Beteiligten beginnt das lange Warten. Ich habe mein Prognosemodell, das in den letzten Jahren fast immer zuverlässig war, angeworfen. Es funktioniert nur für Majorzwahlen. Ich konzentrierte mich auf die Ständeratswahlen in vier Kantonen.

Zunächst, natürlich, der Aargau – meine alte Heimat: Hier schafft es der bisherige FDP-Ständerat Thierry Burkart im ersten Wahlgang.

Im Kanton Bern ist die Ausgangslage offener. Laut meinem Prognosemodell zersplittern sich die Stimmen wegen den vielen guten Kandidaturen stark. Folglich schafft es auch der Bisherige Werner Salzmann nicht im ersten Wahlgang.

Im Kanton Solothurn tritt der langjährige SP-Mann Roberto Zanetti zurück. Seit 1999 konnte die SP dieses Sitz für sich beanspruchen, zuerst mit Ernst «Aschi» Leuenberger, nach dessen frühen Tod 2010 mit Zanetti. Die besten Karten, seinen Sitz zu erobern, hat FDP-Regierungsrat Remo Ankli. Laut Modell schafft der Bisherige Pirmin Bischoff, immerhin seit 2011 Ständerat, dieses Mal die Wiederwahl nicht im ersten Anlauf.

Wegen Ruedi Nosers (FDP) Rücktritt ist die Ausgangslage im Kanton Zürich offen und sehr spannend. Hier richtig zu rechnen, war noch anspruchsvoller als anderswo.


Mein Prognosemodell berücksichtigt die Parteistärke, den Support von «Alliierten» sowie den Bekanntheitsgrad. Die Gewichtung bleibt mein Geheimnis.

Zusammen mit K. die 50-Prozent-Marke knacken

Letzte Woche war ich bei einer Bekannten zum Nachtessen eingeladen. Auf ihrem Altpapier entdeckte ich dick, unauffällig und mausgrau das Wahlcouvert der Eidgenossenschaft. Ungeöffnet. Meine linke Augenbraue zuckte nach oben. K. setzte zu einer Entschuldigung an: Irgendetwas mit zu viel zu tun, sie wähle sonst fast immer, aber dieses Mal sei die Auswahl erschlagend gross.

Ich versuchte mich mit einem staatspolitischen Exkurs, der schliesslich Wirkung zeigte: K. fischte das graue Couvert aus dem Altpapier, riss es auf, setzte sich mit mir an den Tisch, studierte den Inhalt und warf den Compi an. Fünfzehn Minuten später hatte sie ihre Wahl getroffen, unterschrieben und das Couvert zugeklebt. High five – geht doch!

Zugegeben, Politiker nerven gelegentlich. Manchmal gilt das sogar für Politikerinnen. Gerade in dieser Phase mit zahllosen Instagram-Stories, Standaktionen mit den obligaten Öpfeli, Schöggeli und Kugelschriiberli (Merke: immer Diminutiv!), Newsletter und penetranten «Wählt-mich!-Wählt-mich!»-Appellen gilt das erst recht. Aber: Alle diejenigen, die sich echt bemühen und etwas bewegen wollen, und glaubt mir, das sind einige, haben unsere Aufmerksamkeit und unsere Stimmen verdient. Man findet sie in allen Parteien.

Meine Bitte: Macht es wie K., nehmt an den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober teil!

Ich lebte in Ländern, die keine demokratischen Traditionen kennen. Die Menschen dort staunten, wenn ich ihnen unser politisches System erklärte. Sie staunten erst recht, dass die Wahlbeteiligung bei uns in der Regel die 50-Prozent-Marke nicht knackt.

Remember: Das Stimm- und Wahlrecht mussten unsere Vorfahren hart erkämpfen, erst vor 175 (1848) bzw. 52 Jahre (1971) wurde es eingeführt. Wählen zu dürfen ist gleichsam ein Privileg wie eine Pflicht.

Wählt Schwefelgelb, Himbeerirot, Fiordilatteweiss oder Himmelblau – aber wählt, bitte! Gute Dienste leisten die Wahlhilfe smartvote, ch.ch, easyvote und vimentis. Wenn es kompliziert bleiben sollte, etwa mit den Auswirkungen von Listenverbindungen oder so: Mark anrufen! Er sei vom Fach, sagen Sachverständige. (Ich habe noch nie in der dritten Person Singular geschrieben, Ehrenwort!) Item, ich helfe gerne.

«Es ist richtig, wenn eine Partei auf Themen setzt, die sie schon lange bewirtschaftet»

Gestern stellte die SP Schweiz ihre Dachkampagne für die nationalen Wahlen im Oktober vor. Unterstützt wurde die Partei vom mehrfach preisgekrönten Werber Dennis Lück, der auch schon bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz mitwirkte. Auf Anfrage des Online-Magazins «Persönlich» habe ich die aktuelle Kampagne beurteilt. Das Fazit ist mehrheitlich positiv, nachdem ich vor Jahren die damaligen Arbeiten hart kritisiert hatte. 


Mark Balsiger, was ist Ihr erster Eindruck der SP-Kampagne für die Parlamentswahlen im Herbst?

Politische Werbung erzielt Wirkung, wenn sie die Kernanliegen einer Partei auf ein Visual und eine Botschaft eindampfen kann. Es geht um die maximale Reduktion. Das gelingt der SP mit dem Slogan «Wir ergreifen Partei» und den drei Themen Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft sehr gut.

Wie wirken die visuellen Elemente der Kampagne auf Sie?

Mir gefallen die Schwarz-Weiss-Bilder. Die Visuals sind klassisch und kommen aufgeräumt und ohne Schnickschnack daher. Ich finde es schade, dass man weiterhin Grossbuchstaben verwendet. Damit leidet die Lesbarkeit. Das zeigen auch Erhebungen. Wenn der Text über drei oder vier Zeilen läuft, dann wirken Grossbuchstaben klobig.

Inhaltlich setzt die SP im Wahlkampf auf Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft. Sind das die richtigen Themen?

Die Themenkonjunktur spielt für die SP. Die soziale Sicherheit ist bei der Bevölkerung wieder wichtiger als früher. Zudem setzt die SP auf Themen, die sie schon lange bewirtschaftet. Damit hat sie sich schon Resonanzräume erarbeitet und muss jetzt nur noch hineinrufen. Das Echo kommt sofort, weil die SP mit Recht sagen kann, dass sie die Gleichstellungspartei sei und die schwindende Kaufkraft vielen Menschen Sorgen bereitet.

«Das Thema Klimaschutz kann die SP im Wahlkampf nicht den Grünen überlassen»

Mit dem Thema Klimaschutz tritt die SP aber ins Gärtchen der Grünen. Ist das für den Wahlkampf eine Chance oder ein Risiko?

Dass die Grünen vor vier Jahren satte 6,1 Prozentpunkte zulegen konnten, machte viele SP-Mitglieder muff, weil sie ja Klimaschutz genauso engagiert propagiert hatten. Die Nachwahlbefragung zeigte dann, dass ein Teil der SP-Wählerinnen zu den Grünen übergelaufen waren und dass die Grünen überdurchschnittlich viele Junge und Erstwähler abholen konnten. Klimaschutz zählt laut Umfragen weiterhin zu den drei wichtigsten Themen, also kann es sich die SP schlicht nicht erlauben, ihn im Wahlkampf links liegen zu lassen.

Andere Themen, die andere Parteien stark besetzen, etwa die Migrationspolitik, lässt sie im Wahlkampf links, respektive rechts, liegen. Ist das klug, hier das Feld der SVP zu überlassen?

Mit diesem Thema wäre kein Blumentopf zu gewinnen, was übrigens für alle Parteien ausser der SVP gilt. Also wird es dethematisiert, eine übliche Strategie. Migration ist eine ausgesprochen komplexe Herausforderung, und langfristig werden die Parteien nicht darum herumkommen, eigene Ansätze zu entwickeln. Slogans wie «Es kommen die falschen Ausländer!» bringen uns allerdings auch nicht weiter.

«Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse»


Mit dem Slogan «Klimaerwärmung stoppen. Bevor alles in Schutt und Aeschi liegt.» stichelt die SP gegen SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Könnte da der Schuss nach hinten losgehen?

Gewisse Leute freuen sich über diesen Dreh, andere finden ihn plump. Ich musste beim erstmaligen Lesen schmunzeln – für etwa zwei Sekunden. Aber klar: Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse, und die Klickmedien werden willfährig mitmachen.

Werber Dennis Lück, der die Kampagne für die Schweizer SP erarbeitet hat, war für die SPD in Deutschland tätig, als Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Lässt sich Erfolg über die Landesgrenzen hinweg kopieren?

Olaf Scholz wurde gewählt, weil er am glaubwürdigsten wirkte. Daran hatte die Kampagne ihren Anteil. Aber diese Fokussierung auf einen einzigen Kopf gibt es in der Schweiz nicht. Der Wahlkampf hierzulande gleicht einem Jekami. Ich gehe in diesem Jahr von rund 5000 Kandidatinnen und Kandidaten aus für die nationalen Wahlen.

Welche Rolle spielt eine nationale Dachkampagne für den Erfolg bei Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden?

Ich bin weder Defätist noch Zyniker, aber die Durchschlagskraft von nationalen Parteikampagnen ist sehr, sehr bescheiden. Machen wir die Milchbüchleinrechnung: Vom Wahlkampfbudget der SP in Höhe von 1,6 Millionen Franken geht etwa ein Drittel in die französischsprachige Schweiz, bleibt also noch etwa eine Million für die Deutschschweiz, und das für eine Zeitspanne von rund zwei Monaten. Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Grossverteiler, Mobilfunkanbieter, Lebensmittelhersteller, Kleidermarken haben x-fach grössere Budgets als die Parteien.

«Die Kampagne der nationalen Partei wirkt auch gegen innen»


Wenn die Wirkung so bescheiden wäre, wie Sie behaupten, warum setzen die nationalen Parteien dennoch auf so aufwendige Kampagnen?

Die geringe Durchschlagskraft betrifft die breite Werbewirkung. Aber eine solche Kampagne wirkt natürlich auch gegen innen. Die nationale Partei geht voran und leistet Vorarbeit für die kantonalen und kommunalen Parteien, welche die Kampagnenelemente übernehmen und auch für ihren Wahlkampf verwenden können.

Das meint also Dennis Lück, wenn er sagt: «Eine Partei ist eine Marke, die überall gleich auftreten muss»?

Genau. Aber das gilt auch für den Inhalt einer Kampagne. Wenn eine Partei radikal auf den Kern ihrer Marke setzt und nur jene Themen systematisch bewirtschaftet, bei denen sie von den Leuten als kompetent eingestuft wird, hat sie Chancen, zuzulegen. Aber in einer föderalistischen, von unten gewachsenen Parteienlandschaft wird sich ein Markenbewusstsein nie komplett durchsetzen.

Dieses Interview erschient zuerst und (in einer leicht kürzeren Version) im Online-Magazin «Persönlich». Die Fragen stellte Nick Lüthi. 

Was Kantonsbilanz, aktuelle Form und die Zürcher Wahlen für die «Eidgenössischen» bedeuten können


Dieselbe Grafik zum Herunterladen: Kantonsbilanz (PDF)

Die kantonalen Wahlen sind durch. (In AR konnte am 16. April ein Sitz im Kantonsrat noch nicht vergeben werden. Es kommt am 14. Mai zu einem zweiten Wahlgang. Konkret geht es um den Wahlkreis Rehetobel. Gewählt wird dort nach Majorz.) Die eidgenössischen Wahlen werden in rund sechseinhalb Monaten stattfinden. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um eine Einschätzung vorzunehmen. Als Basis dienen

– die Kantonsbilanz (siehe oben);
– die aktuelle Form;
– die Umfragen;
– der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen.

Ein zentraler Aspekt, der bei fast jeder Einschätzung vergessen geht, wird ganz am Schluss angeschnitten.


A) Die Kantonsbilanz

Nach 25 Kantonalwahlen konnte die GLP am meisten an Sitzen zulegen, gefolgt von den Grünen. FDP, Die Mitte und SP verloren alle mehr als 40 Sitze. Gewichtet man die Resultate nach der Grösse des jeweiligen Kantons wird das Bild klarer: Die GLP legt um rund 2.5 Prozentpunkte zu, die Grünen um etwa 1.2 Prozentpunkte. Die FDP und Die Mitte verlieren je etwa 1 Prozentpunkt, die SP büsst 2 Prozentpunkte ein.

Zusammenstellung: Tamedia. Leider fehlen die Resultate des Kantons Tessin, die ich hier nachliefere:
SVP: +3.4%, SP: -1.2%, FDP: -1.5%, Mitte: -0.1; Grüne: -1.2%, GLP: +1.6. 


B) Die aktuelle Form

Nach einer langen Baisse präsentiert sich die SVP in einer ausgezeichneten Verfassung: Bei fünf von sechs kantonalen Wahlen in diesem Jahr konnte sie zulegen, in Genf, Luzern und im Tessin um je 3.4 Prozentpunkte. Positiv fällt die Frühlingsbilanz auch für die GLP aus. Einzig in Zürich, dort, wo die Wiege dieser Partei steht, hat sie 0.2 Prozentpunkte verloren. Auf der anderen Seite der Skala stehen die Grünen, die überall Federn lassen mussten. Die grüne Welle begann 2017 in der Westschweiz und ebbte im letzten Jahr ab, allerdings ist der Rückgang in Prozentpunkten nie so markant wie der Zugewinn, den die Partei vor vier Jahren praktisch in allen Kantonen machen konnte.

Die Frühlingsbilanz in Sitzen:
– SVP: + 13 Sitze
– GLP: + 8
– Die Mitte: +/- 0
– SP: +/- 0
– Grüne: -9
– FDP: -11 Sitze

Berücksichtigt wurden dafür die Kantone ZH, BL, GE, LU, TI und AR, wo seit Februar kantonalen Wahlen stattfanden. 


C) Die Umfragen

Es muss wieder einmal erwähnt werden: Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Prognosen. Was seit geraumer Zeit auffällt: Sie werden von grossen Medienhäusern intensiver genutzt und von vielen Medien überinterpretiert. Tatsache ist, dass die meisten Abweichungen innerhalb des statistischen Fehlerbereichs – auch Stichprobenfehler genannt – liegen.

D) Der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen

Die Sehnsucht, den Ausgang der eidgenössischen Wahlen weit im Voraus «lesen» zu können, ist schon lange gross. Das Interpretieren ersetzt die anspruchsvollere Auseinandersetzung mit politischen Themen und ist für die Medien attraktiver. Der Fachbegriff dazu lautet «Horse Race Journalism».

Es ist tatsächlich so, dass die Resultate der Kantonswahlen in Zürich, die jeweils zwischen sechs und acht Monate vor den «Eidgenössischen» stattfinden, ein guter Gradmesser sind. Sie nehmen die Tendenz vorneweg, nicht aber das Ausmass, wie diese Zusammenstellung zeigt:


Die Resultate der kantonalen Wahlen in Zürich vom 12. Februar zeigen, dass sich die Parteistärken zwischen +0.45 und -0.33 Prozentpunkten veränderten, also im MicroMü-Bereich. Die einzige Ausnahme sind die Grünen, die ein Minus von 1.48 Prozentpunkten hinnehmen mussten.

Von den Grünen ausgenommen, taugen die «Trends» der Zürcher Wahlen 2023 also kaum.


Fazit

Wo stehen also die Parteien Mitte April? Der SVP wird am 22. Oktober ein Erstarken zugetraut, nachdem sie vor vier Jahren 3.8 Prozentpunkte verloren hatte. Ihr kommt entgegen, dass das Thema Ausländer/Migration schon seit Monaten hoch gehängt wird. Das mobilisiert ihr Lager weit überdurchschnittlich. Bei allen anderen Parteien wäre eine Prognose sehr mutig.

Wenn es einen Hitzesommer gibt, drehen die Grünen vermutlich ihren Negativtrend, den sie in diesem Frühling einfingen, wieder ins Plus. Jedes andere Mega-Thema hat die Kraft, das Wahljahr 2023 aufzumischen.

Und damit zu einem zentralen Punkt, den die meisten Journalistinnen und Beobachter vergessen: die Ständeratswahlen. Umfragen werden jeweils schweizweit gemacht, es geht aber lediglich um Parteistärken. Was im Kampf um die Sitze der kleinen Kammer passiert, wird nicht abgebildet. Dabei wiegt ein Sitz im Ständerat vier Sitze im Nationalrat auf, Verschiebungen haben es also in sich.

In diesem Wahljahr ist die Ausgangslage vorab für die SP herausfordernd: Es ist gut möglich, dass sie ihre Ständeratssitze in den Kantonen Bern (bislang: Hans Stöckli), Solothurn (Roberto Zanetti), Tessin (Marina Carrobio) und St. Gallen (Paul Rechsteiner) verliert. Ein Zugewinn dürfte es hingegen in der Waadt geben: Dort kandidiert SGB-Präsident und Nationalrat Pierre-Yves Maillard, währenddem die beiden Bisherigen, Adèle Thorens (Grüne) und Olivier Français (FDP) aufhören.

 

Das_neue_Bundespalament_2023_12 by_LeTemps

Berset versucht, auch diese Affäre auszusitzen

Während der Pandemie soll es eine Standleitung zwischen Alain Bersets Kommunikationschef und dem CEO des Ringier-Konzerns gegeben haben. Regelmässig informierte Peter Lauener Marc Walder per E-Mail, welche Anträge Berset an der nächsten Bundesratssitzung stellen wird. Er leakte also vertrauliche Informationen, der «Blick» konnte so immer wieder mit Primeurs aufwarten.

Das ist die Essenz dessen, was die «Schweiz am Wochenende» publik machte.

Die Corona-Leaks bringen nun die Drähte zum Glühen, zumal es den Überflieger in der Landesregierung betrifft und im eidgenössischen Wahljahr viele Akteure ihre Süppchen kochen.

Ich versuche, fünf wichtige Punkte dieses Falles aufzudröseln.


1. Wer steht in der Kritik?

Es handelt sich zunächst um einen Fall Lauener und einen Fall Walder. Im Fokus stehen der frühere Kommunikationschef von Alain Berset, Peter Lauener, und der CEO des Ringier-Konzerns, Marc Walder.

Medien müssen kritisch beobachten und berichten, dürfen sich aber nicht mit einer Sache gemein machen. Das vergassen Walder und der «Blick» offensichtlich.

Ob daraus ein Fall Berset wird, ist zurzeit offen. Er sagt, er wisse nichts von den Kontakten zwischen Lauener und Walder. Kraft seines Amtes konzentriert sich das Interesse natürlich auf Berset.

Er überlebte in den letzten Jahren mehrere Affären, die er jeweils als privat deklarierte und schnell entschärfen konnte. Die Corona-Leaks haben allerdings eine andere Dimension.

Wegen der Summe aller Affären hat Berset viel an Glaubwürdigkeit verloren. Das zeigte sich bereits bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 7. Dezember, als er nur 140 Stimmen erzielte.

Jeder Fall oder Fehltritt von öffentlichen Personen hat eine moralische Beurteilung zur Folge. Sie kommt schnell, die juristische Aufarbeitung hingegen braucht meistens einige Monate.


2. Berset sagt zum regen Austausch zwischen Lauener und Walder: «Ich weiss es nicht. Ich kann es nicht wissen.» Ist das glaubwürdig?

Peter Lauener war seit dem Amtsantritt Bersets im Januar 2012 bis zu seinem leisen Abgang im Frühsommer 2022 eine zentrale Figur im Innendepartement (EDI). Er gilt als brillanter Stratege und Redenschreiber und hat grossen Anteil an der Figur Berset, wie sie die Öffentlichkeit wahrnimmt. Das Duo harmonierte gut, Lauener war Bersets Schatten.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass Berset nicht um Laueners Austausch mit dem Ringier-Manager wusste. Falls dem so war, muss Berset sich den Vorwurf gefallen lassen, seinem wichtigsten Sparringpartner eine sehr lange Leine gelassen zu haben.


3. Berset schweigt. Ist das eine gute Strategie?

Bundesrat Berset äusserte sich am Samstagabend gegenüber Radio RTS und sprach dabei von «illegalen Indiskretionen». Dass jemand in seinem Departement über eine längere Zeitspanne vertrauliche Informationen weitergab, blendete er natürlich aus.

Es gibt aktuell keine Strafuntersuchung gegen Berset. Er markierte beim RTS-«Forum» Präsenz und drehte den Spiess um. Jetzt wird er schweigen und versuchen, auch diese Affäre auszusitzen.

Die beiden Geschäftsprüfungskommissionen sind wegen anderen Indiskretionen aus dem Bundeshaus längst an der Arbeit. Sie werden nun auch diesen Fall anschauen. Allerdings sind ihre Möglichkeiten beschränkt.


4. Wie grosse ist der Schaden für Bersets Partei, die SP?

In Wahljahren sind alle Parteien nervös, jede möchte, dass ihre Mitglieder im Bundesrat beim breiten Publikum gut ankommen. Dass es in Bersets Departement wieder rumpelt, setzt die SP und den Gesundheitsminister unter Druck. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass verschiedene Akteure diese Affäre parteipolitisch ausschlachten wollen. Die SP bleibt auch bei einem allfälligen Rücktritt in einer vertrackten Lage.


5. Lauener informierte Walder einmal darüber, dass ein 100-Millionen-Franken-Deal mit Biontech/Pfizer vor der Unterzeichnung stehe.

Das ist so, und der Kurs dieser Aktie stieg in den darauf folgenden Wochen massiv. Wer in jener Phase einstieg, verdiente viel Geld. Die Informationen waren börsenrelevant. Ob das Weitergeben dieser Insider-Informationen strafrechtlich verfolgt werden kann, weiss ich nicht.

 

Foto Alain Berset & Marc Walder: Watson

Weshalb Natalie Rickli nicht für den Bundesrat kandidieren wird

Die letzten 24 Stunden sind ein paar Medienanfragen zur Nachfolge von Bundesrat Ueli Maurer eingegangen. Alle Journalisten nennen den Namen der Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli, laut Tamedia hat sie «auf dem Papier das beste Anforderungsprofil». In der Tat war Rickli von 2007 bis 2019 Nationalrätin, ehe sie im Frühling 2019 in den Regierungsrat gewählt wurde. Als einzige der bislang genannten Personen hat sie also Erfahrung auf nationaler Ebene und in einer kantonalen Exekutive.

Dennoch glaube ich nicht daran, dass sie für den Bundesrat kandidieren wird. In diesem Blogposting führe ich aus, wieso.

Rickli und Ernst Stocker wurden am 13. April 2022 von ihrer Partei wieder für den Regierungsrat nominiert. Stocker ist mit 67 Jahren bereits im Pensionsalter. Er wurde bekniet, nochmals anzutreten, weil sonst weit und breit kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stand, der den zweiten SVP-Sitz in der siebenköpfigen Regierung souverän hätte verteidigen können. Also muss Stocker nochmals ran.

Die Gesamterneuerungswahlen im Kanton Zürich finden am 12. Februar 2023 statt. Sie haben eine übergeordnete Bedeutung, weil ihre Resultate als Vorboten für den Ausgang der eidgenössischen Wahlen im Oktober 2023 gedeutet werden. Deshalb gilt für jede Partei: verlieren verboten!

Rickli ist wohlgelitten im Entscheidungszirkel rund um Übervater Christoph Blocher, bei der SVP weiss man, was man an ihr hat. Eine Bundesrätin Natalie Rickli, im November wird sie 46-jährig, würde der Partei ein junges und frisches Aushängeschild bescheren. Selbstverständlich wird sie nun hinter den Kulissen bearbeitet.

Allerdings stimmt das Timing nicht für sie. Die Maurer-Nachfolge wird am 7. Dezember unter der Bundeshauskuppel entschieden. Von der SVP wird ein Zweiervorschlag erwartet. Alles andere wäre ein Affront gegenüber den anderen Fraktionen, die deswegen eine wilde Kandidatur vorziehen könnten. Die Dynamik sollte man nicht unterschätzen, zumal Bundesratswahlen geheim sind.

Nehmen wir an, dass Rickli für den Bundesrat kandidiert. In einem solchen Fall steht die SVP-Kantonalsektion vor der Herausforderung, einen Ersatz für Rickli aus dem Hut zu zaubern, der realistische Wahlchancen für die Zürcher Regierung hat. Doch wer ist dieser Mister oder Miss X? Wenn vor Jahresfrist kein Nachfolger für Stocker gefunden werden konnte, wäre die Suche in den nächsten Wochen kaum einfacher. Wer will im Ernst zu einem derart späten Zeitpunkt ins Rennen steigen und sich verheizen lassen?

Im mit Abstand bevölkerungsreichsten Kanton will die stärkste Partei ihren zweiten Regierungssitz gewiss nicht verlieren. Das wäre Sand im Getriebe während des eidgenössischen Wahljahres.

Das Risiko ist auch für Rickli gross. Zweifellos würde sie es auf das Zweierticket der Fraktion schaffen, beispielsweise zusammen mit Albert Rösti (BE), Esther Friedli (SG) oder Alt-Parteipräsident  Toni Brunner (SG). Was aber am Wahltag  geschieht, ist komplett offen. Wenn sie den Sprung in den Bundesrat nicht schafft, kann sie nur schwerlich zurück zu Plan A schwenken, der Wiederwahl für den Zürcher Regierungsrat. Das Volk würde ein solches Hüscht und hott kaum goutieren.

Natalie Rickli ist mediengewandt wie nur wenige Spitzenfiguren in der Schweizer Politik. Sie wird es schaffen, vorläufig als Bundesratskandidatin im Gespräch zu bleiben. Rechtzeitig entscheidet sie sich dann aber für ihre angestammte Position. Das wird dann etwa so klingen: «Es ist eine Ehre, für eine Bundesratskandidatur angefragt zu werden. Nach reiflichen Überlegungen bin ich zum Schluss gekommen, dass in Zürich noch ein paar wichtige Aufgaben auf mich warten.»

So geht Wahlkampf – für den Termin im Februar 2023. Zugleich empfiehlt sich Rickli für die Nachfolge von Bundesrat Guy Parmelin (63), der seit 2015 im Amt ist, also vermutlich noch drei Jahre macht. Oder sie kandidiert 2027 für den Ständerat. Dann wird Daniel Jositsch (SP) nach 12 Jahren im Stöckli und insgesamt 16 Jahren in Bundesbern vermutlich abtreten. Die Chancen stehen für Rickli gut, wenn sie in ihrer zweiten Legislaturperiode als Regierungsrätin keine grossen Fehler macht. Ist sie erst einmal im Ständerat, kann auch der Sprung in die Landesregierung klappen, siehe Karin Keller-Sutter, die eine vergleichbare Karriere hinter sich hat.

Foto: Tages-Anzeiger

Was sie macht, macht sie mit Herzblut und Haltung

Dreissig Jahre lang war Regula Rytz in der aktiven Politik – im Kantonsparlament, in der Regierung der Stadt Bern, 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, kurze Zeit später übernahm sie das Präsidium der Grünen Schweiz. Gestern kündigte sie ihren Rücktritt an – eine persönliche Würdigung.

 

Ein milder Sonntagabend im Frühsommer 2007. Wir finden uns an einer lauschigen Stätte ein. Die Gäste freuen sich über das Ja des Stimmvolks zu Tram Bern West, dessen Abstimmungskampagne mein Team 2006 und 2007 konzipiert hatte. Es gibt Salzgebäck, kalte Getränke und gegenseitiges Schulterklopfen – endlich kann Bümpliz an das städtische Tramnetz angeschlossen werden.

Ein bekannter Politiker, der schon vorher viel Alkohol getrunken hatte, wird in seiner Ansprache ausschweifend, seine Zunge immer schwerer. Im Publikum werfen wir uns versteckte Blicke zu: «Es ist gut jetzt!», sagen sie.

Zunächst unbemerkt hat sich Regula Rytz, damals die städtische Verkehrs- und Tiefbaudirektorin, ganz in die Nähe des Redners hingestellt. Als dieser nach Worten sucht, übernimmt sie fliegend und charmant, verdankt ihn, drei Minuten später ist der offizielle Teil vorbei.

Was wie einstudiert wirkte, war eine geschickte Ad-hoc-Intervention: Der Alkoholisierte wurde vor sich selber geschützt, Peinlichkeiten blieben aus, das Publikum reagierte erleichtert. Rytz hatte die Situation mit ihrem feinen Sensorium gerettet.

Eine andere Anekdote: Während eines kalten Wintermonats kam ich ins Gespräch mit Angestellten des Tiefbauamts, die im Schichtbetrieb die Strassen rund um den Bahnhof Bern sanieren mussten. Sie erzählten mir, wie Rytz eines Morgens mit einer Thermoskanne aufgetaucht sei und ihnen heissen Kaffee ausgeschenkt habe. Andere Exekutivpolitiker machen dasselbe, allerdings mit den Medien im Schlepptau.

Seit nunmehr 20 Jahre beobachte ich Regula Rytz, gelegentlich hatten wir auch beruflich miteinander zu tun. Etwa in der Phase 2018/2019, als wir zusammen mit anderen für den SRF-Radiostandort Bern und gegen die Zentralisierung in Zürich kämpften.

Sie war tief in die Medienpolitik eingetaucht und dossiersicher, an die Sitzungen kam sie gut vorbereitet. Während derjenige, der sich mit diesem Thema hätte profilieren können, wenig Ahnung und keinen Plan hatte, moderierte sie Ausgangslage und Optionen. Er schenkte seinem Smartphone viel Aufmerksamkeit, sie steuerte die Veranstaltung, ohne zu dominieren.

2012 erfolgte der Wechsel auf die nationale Bühne

Rytz mag die Menschen. Sie hört ihnen zu und nimmt sie ernst. Sie engagiert sich mit Herzblut und Haltung. Zugleich hat sie verinnerlicht, dass man in diesem Land nur mit solidem Know-how und einem pragmatischen Vorgehen etwas bewegen kann. Laut und moralinsauer wird sie nie. Seit 2012 steht sie als Nationalrätin und Parteipräsidentin (bis Sommer 2020) immer wieder auf der grossen, grell ausgeleuchteten Bühne, bleibt aber stets sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Es geht ihr immer um die Sache, inhaltlich sind unsere Positionen oft nicht deckungsgleich.

Die Höhenflüge und brutal einsamen Momente der Politik kennt sie. Als die Grünen bei den eidgenössischen Wahlen 2015 verloren, musste sie, die ehemalige Gewerkschafterin, im Generalsekretariat Stellen abbauen. Vier Jahre später folgte der grösste Triumph, den eine Partei in der Schweiz je erreicht hat: ein Zuwachs von 6.1 Prozentpunkten. Rytz ist eine der Architektinnen dieses Erfolgs.

Auch nach 30 Jahren politisiert sie immer noch lustvoll. Dass sie sich im Frühling aus dem Nationalrat verabschiedet, überrascht mich nicht. Rytz spürt immer rechtzeitig, wenn es Zeit ist für ein neues Kapitel. Sie kehrt der Politik nicht den Rücken, sondern wird künftig hinter den Kulissen tätig sein. Eine Konstante bleibt, da bin ich mir sicher: Was sie macht, macht sie richtig.


Transparenz:

In den 20 Jahren meiner Selbständigkeit gab es einmal ein Auftragsverhältnis zwischen Regula Rytz und meiner Firma: Im Frühjahr 2013 bereiteten wir zusammen ihren Auftritt in der «Arena» vor.

 

Ergänzend: Was die «SonntagsZeitung» am 3. April 2022 über den Rücktritt von Regula Rytz schrieb:

Die ungekrönte Königin der Grünen tritt ab (PDF)

Fehr war der falsche Kandidat

Keine 2000 Kilometer östlich der Schweiz tobt seit Ende Februar ein Krieg. Das schlägt sich bei Wahlen nieder, das Volk zieht es in Krisenzeiten vor, beim Bewährten zu bleiben. Das ist eine Erkenntnis, die auf Erhebungen basiert und bei den Deutungen zum Ausgang der Regierungsratswahlen in Bern prominent genannt wird. So bleiben die Kräfteverhältnisse im siebenköpfigen Regierungsrat gleich: Vier Bürgerliche stehen drei Rotgrünen gegenüber, der vakante Sitz von Beatrice Simon (Die Mitte, früher BDP) übernimmt Parteikollegin Astrid Bärtschi.

Es gibt andere Gründe, weshalb der Versuch von Rotgrün, die Regierungsmehrheit zu kippen, deutlich scheiterte. Kampfkandidat Erich Fehr (SP) ist zwar seit zehn Jahren ein solider Stadtpräsident in Biel, als Wahlkämpfer überzeugte er nicht, er wirkt steif und angestrengt. Ihm geht die Strahlkraft seines Vorgängers Hans Stöckli ab, die Massen kann Fehr nicht von den Stühlen reissen. Es gibt Kandidaten, die drehen die letzten Monate vor einem Wahltermin auf, werden immer besser, bei Fehr beobachteten wir diese Steigerung nicht.

Weil die Pandemie den persönlichen Kontakt mit dem Volk zuweilen erschwerte, hätte es von Anfang viel Engagement im Netz gebraucht. Doch das zeigte Fehr und sein Team nicht. Er war im Mai 2021 nominiert worden, doch noch Ende Oktober, also fünf Monate später, schlummerte seine Website vor sich hin. Der aktuellste Beitrag stammte damals vom 27. September 2020, war also mehr als ein Jahr alt.

Diese Nichtbeachtung hatte ich am 26. Oktober 2021 auf Twitter thematisiert, wie der nachfolgende Printscreen zeigt:

Mit einem solchen Wahlkampf schafft man es als Herausforderer nicht, gewählt zu werden. Es ist auch gut möglich, dass sich potenzielle Supporter veräppelt fühlten. Bis Ende Februar dachte ich, dass Fehr womöglich die ganze Energie auf ein fulminantes Feuerwerk am Schluss spart – inhaltlich und werberisch. Es zündete nicht. Die eigene Partei hat ihm überdies Fesseln angelegt: Er durfte nicht mehr als 20’000 Franken in den persönlichen Wahlkampf investieren.

Tatsache ist: Erich Fehr fuhr ein schlechtes Resultat ein, liegt er doch fast 22’000 Stimmen hinter Bärtschi.

Aussagekräftig ist ein Vergleich: Fehrs Name steht auf 38.04 Prozent aller gültigen Wahlzettel. Vor vier Jahren erreichte der damalige Kampfkandidat der SP, Christophe Gagnebin, ein weitgehend unbekannter Ex-Grossrat aus dem Berner Jura, einen nur unwesentlich schlechteren Wert, nämlich 35.17 Prozent. Gagnebin war ein Pro-Forma-Kandidat, Fehr hätte laut seiner Partei die Wende hinbringen müssen.

Im Verwaltungskreis Biel und in der Stadt Biel, seinen beiden «Home Grounds», kam Fehr nur je als Dritter ins Ziel.

Ein weiterer Faktor: Erich Fehr hat das falsche Geschlecht, die Musik in seiner Partei spielt nicht bei den Männern. Die SP hat sich im Verlauf der letzten Jahre hin zu einer Frauenpartei entwickelt. Das trifft auf die Leute in den Schlüsselpositionen zu, aber auch auf die Wählerschaft. Wäre anstelle von Fehr eine profilierte und populäre Nationalrätin der SP angetreten, namentlich Flavia Wasserfallen oder Nadine Masshardt, hätte es von Anfang an Dampf im Kessel und einen echten Wahlkampf gegeben – mit offenem Ausgang. Der Wahlkampf sollte ein Wettstreit um bessere Ideen sein. Bern und den beiden grossen politischen Blöcken hätte das gutgetan.

 

Foto Erich Fehr: Adrian Moser/«Der Bund»