Zusammen mit K. die 50-Prozent-Marke knacken

Letzte Woche war ich bei einer Bekannten zum Nachtessen eingeladen. Auf ihrem Altpapier entdeckte ich dick, unauffällig und mausgrau das Wahlcouvert der Eidgenossenschaft. Ungeöffnet. Meine linke Augenbraue zuckte nach oben. K. setzte zu einer Entschuldigung an: Irgendetwas mit zu viel zu tun, sie wähle sonst fast immer, aber dieses Mal sei die Auswahl erschlagend gross.

Ich versuchte mich mit einem staatspolitischen Exkurs, der schliesslich Wirkung zeigte: K. fischte das graue Couvert aus dem Altpapier, riss es auf, setzte sich mit mir an den Tisch, studierte den Inhalt und warf den Compi an. Fünfzehn Minuten später hatte sie ihre Wahl getroffen, unterschrieben und das Couvert zugeklebt. High five – geht doch!

Zugegeben, Politiker nerven gelegentlich. Manchmal gilt das sogar für Politikerinnen. Gerade in dieser Phase mit zahllosen Instagram-Stories, Standaktionen mit den obligaten Öpfeli, Schöggeli und Kugelschriiberli (Merke: immer Diminutiv!), Newsletter und penetranten «Wählt-mich!-Wählt-mich!»-Appellen gilt das erst recht. Aber: Alle diejenigen, die sich echt bemühen und etwas bewegen wollen, und glaubt mir, das sind einige, haben unsere Aufmerksamkeit und unsere Stimmen verdient. Man findet sie in allen Parteien.

Meine Bitte: Macht es wie K., nehmt an den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober teil!

Ich lebte in Ländern, die keine demokratischen Traditionen kennen. Die Menschen dort staunten, wenn ich ihnen unser politisches System erklärte. Sie staunten erst recht, dass die Wahlbeteiligung bei uns in der Regel die 50-Prozent-Marke nicht knackt.

Remember: Das Stimm- und Wahlrecht mussten unsere Vorfahren hart erkämpfen, erst vor 175 (1848) bzw. 52 Jahre (1971) wurde es eingeführt. Wählen zu dürfen ist gleichsam ein Privileg wie eine Pflicht.

Wählt Schwefelgelb, Himbeerirot, Fiordilatteweiss oder Himmelblau – aber wählt, bitte! Gute Dienste leisten die Wahlhilfe smartvote, ch.ch, easyvote und vimentis. Wenn es kompliziert bleiben sollte, etwa mit den Auswirkungen von Listenverbindungen oder so: Mark anrufen! Er sei vom Fach, sagen Sachverständige. (Ich habe noch nie in der dritten Person Singular geschrieben, Ehrenwort!) Item, ich helfe gerne.

«Es ist richtig, wenn eine Partei auf Themen setzt, die sie schon lange bewirtschaftet»

Gestern stellte die SP Schweiz ihre Dachkampagne für die nationalen Wahlen im Oktober vor. Unterstützt wurde die Partei vom mehrfach preisgekrönten Werber Dennis Lück, der auch schon bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz mitwirkte. Auf Anfrage des Online-Magazins «Persönlich» habe ich die aktuelle Kampagne beurteilt. Das Fazit ist mehrheitlich positiv, nachdem ich vor Jahren die damaligen Arbeiten hart kritisiert hatte. 


Mark Balsiger, was ist Ihr erster Eindruck der SP-Kampagne für die Parlamentswahlen im Herbst?

Politische Werbung erzielt Wirkung, wenn sie die Kernanliegen einer Partei auf ein Visual und eine Botschaft eindampfen kann. Es geht um die maximale Reduktion. Das gelingt der SP mit dem Slogan «Wir ergreifen Partei» und den drei Themen Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft sehr gut.

Wie wirken die visuellen Elemente der Kampagne auf Sie?

Mir gefallen die Schwarz-Weiss-Bilder. Die Visuals sind klassisch und kommen aufgeräumt und ohne Schnickschnack daher. Ich finde es schade, dass man weiterhin Grossbuchstaben verwendet. Damit leidet die Lesbarkeit. Das zeigen auch Erhebungen. Wenn der Text über drei oder vier Zeilen läuft, dann wirken Grossbuchstaben klobig.

Inhaltlich setzt die SP im Wahlkampf auf Gleichstellung, Klimaschutz und Kaufkraft. Sind das die richtigen Themen?

Die Themenkonjunktur spielt für die SP. Die soziale Sicherheit ist bei der Bevölkerung wieder wichtiger als früher. Zudem setzt die SP auf Themen, die sie schon lange bewirtschaftet. Damit hat sie sich schon Resonanzräume erarbeitet und muss jetzt nur noch hineinrufen. Das Echo kommt sofort, weil die SP mit Recht sagen kann, dass sie die Gleichstellungspartei sei und die schwindende Kaufkraft vielen Menschen Sorgen bereitet.

«Das Thema Klimaschutz kann die SP im Wahlkampf nicht den Grünen überlassen»

Mit dem Thema Klimaschutz tritt die SP aber ins Gärtchen der Grünen. Ist das für den Wahlkampf eine Chance oder ein Risiko?

Dass die Grünen vor vier Jahren satte 6,1 Prozentpunkte zulegen konnten, machte viele SP-Mitglieder muff, weil sie ja Klimaschutz genauso engagiert propagiert hatten. Die Nachwahlbefragung zeigte dann, dass ein Teil der SP-Wählerinnen zu den Grünen übergelaufen waren und dass die Grünen überdurchschnittlich viele Junge und Erstwähler abholen konnten. Klimaschutz zählt laut Umfragen weiterhin zu den drei wichtigsten Themen, also kann es sich die SP schlicht nicht erlauben, ihn im Wahlkampf links liegen zu lassen.

Andere Themen, die andere Parteien stark besetzen, etwa die Migrationspolitik, lässt sie im Wahlkampf links, respektive rechts, liegen. Ist das klug, hier das Feld der SVP zu überlassen?

Mit diesem Thema wäre kein Blumentopf zu gewinnen, was übrigens für alle Parteien ausser der SVP gilt. Also wird es dethematisiert, eine übliche Strategie. Migration ist eine ausgesprochen komplexe Herausforderung, und langfristig werden die Parteien nicht darum herumkommen, eigene Ansätze zu entwickeln. Slogans wie «Es kommen die falschen Ausländer!» bringen uns allerdings auch nicht weiter.

«Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse»


Mit dem Slogan «Klimaerwärmung stoppen. Bevor alles in Schutt und Aeschi liegt.» stichelt die SP gegen SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Könnte da der Schuss nach hinten losgehen?

Gewisse Leute freuen sich über diesen Dreh, andere finden ihn plump. Ich musste beim erstmaligen Lesen schmunzeln – für etwa zwei Sekunden. Aber klar: Skandalisieren lässt sich inzwischen jeder Hafenkäse, und die Klickmedien werden willfährig mitmachen.

Werber Dennis Lück, der die Kampagne für die Schweizer SP erarbeitet hat, war für die SPD in Deutschland tätig, als Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Lässt sich Erfolg über die Landesgrenzen hinweg kopieren?

Olaf Scholz wurde gewählt, weil er am glaubwürdigsten wirkte. Daran hatte die Kampagne ihren Anteil. Aber diese Fokussierung auf einen einzigen Kopf gibt es in der Schweiz nicht. Der Wahlkampf hierzulande gleicht einem Jekami. Ich gehe in diesem Jahr von rund 5000 Kandidatinnen und Kandidaten aus für die nationalen Wahlen.

Welche Rolle spielt eine nationale Dachkampagne für den Erfolg bei Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden?

Ich bin weder Defätist noch Zyniker, aber die Durchschlagskraft von nationalen Parteikampagnen ist sehr, sehr bescheiden. Machen wir die Milchbüchleinrechnung: Vom Wahlkampfbudget der SP in Höhe von 1,6 Millionen Franken geht etwa ein Drittel in die französischsprachige Schweiz, bleibt also noch etwa eine Million für die Deutschschweiz, und das für eine Zeitspanne von rund zwei Monaten. Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Grossverteiler, Mobilfunkanbieter, Lebensmittelhersteller, Kleidermarken haben x-fach grössere Budgets als die Parteien.

«Die Kampagne der nationalen Partei wirkt auch gegen innen»


Wenn die Wirkung so bescheiden wäre, wie Sie behaupten, warum setzen die nationalen Parteien dennoch auf so aufwendige Kampagnen?

Die geringe Durchschlagskraft betrifft die breite Werbewirkung. Aber eine solche Kampagne wirkt natürlich auch gegen innen. Die nationale Partei geht voran und leistet Vorarbeit für die kantonalen und kommunalen Parteien, welche die Kampagnenelemente übernehmen und auch für ihren Wahlkampf verwenden können.

Das meint also Dennis Lück, wenn er sagt: «Eine Partei ist eine Marke, die überall gleich auftreten muss»?

Genau. Aber das gilt auch für den Inhalt einer Kampagne. Wenn eine Partei radikal auf den Kern ihrer Marke setzt und nur jene Themen systematisch bewirtschaftet, bei denen sie von den Leuten als kompetent eingestuft wird, hat sie Chancen, zuzulegen. Aber in einer föderalistischen, von unten gewachsenen Parteienlandschaft wird sich ein Markenbewusstsein nie komplett durchsetzen.

Dieses Interview erschient zuerst und (in einer leicht kürzeren Version) im Online-Magazin «Persönlich». Die Fragen stellte Nick Lüthi. 

Was Kantonsbilanz, aktuelle Form und die Zürcher Wahlen für die «Eidgenössischen» bedeuten können


Dieselbe Grafik zum Herunterladen: Kantonsbilanz (PDF)

Die kantonalen Wahlen sind durch. (In AR konnte am 16. April ein Sitz im Kantonsrat noch nicht vergeben werden. Es kommt am 14. Mai zu einem zweiten Wahlgang. Konkret geht es um den Wahlkreis Rehetobel. Gewählt wird dort nach Majorz.) Die eidgenössischen Wahlen werden in rund sechseinhalb Monaten stattfinden. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um eine Einschätzung vorzunehmen. Als Basis dienen

– die Kantonsbilanz (siehe oben);
– die aktuelle Form;
– die Umfragen;
– der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen.

Ein zentraler Aspekt, der bei fast jeder Einschätzung vergessen geht, wird ganz am Schluss angeschnitten.


A) Die Kantonsbilanz

Nach 25 Kantonalwahlen konnte die GLP am meisten an Sitzen zulegen, gefolgt von den Grünen. FDP, Die Mitte und SP verloren alle mehr als 40 Sitze. Gewichtet man die Resultate nach der Grösse des jeweiligen Kantons wird das Bild klarer: Die GLP legt um rund 2.5 Prozentpunkte zu, die Grünen um etwa 1.2 Prozentpunkte. Die FDP und Die Mitte verlieren je etwa 1 Prozentpunkt, die SP büsst 2 Prozentpunkte ein.

Zusammenstellung: Tamedia. Leider fehlen die Resultate des Kantons Tessin, die ich hier nachliefere:
SVP: +3.4%, SP: -1.2%, FDP: -1.5%, Mitte: -0.1; Grüne: -1.2%, GLP: +1.6. 


B) Die aktuelle Form

Nach einer langen Baisse präsentiert sich die SVP in einer ausgezeichneten Verfassung: Bei fünf von sechs kantonalen Wahlen in diesem Jahr konnte sie zulegen, in Genf, Luzern und im Tessin um je 3.4 Prozentpunkte. Positiv fällt die Frühlingsbilanz auch für die GLP aus. Einzig in Zürich, dort, wo die Wiege dieser Partei steht, hat sie 0.2 Prozentpunkte verloren. Auf der anderen Seite der Skala stehen die Grünen, die überall Federn lassen mussten. Die grüne Welle begann 2017 in der Westschweiz und ebbte im letzten Jahr ab, allerdings ist der Rückgang in Prozentpunkten nie so markant wie der Zugewinn, den die Partei vor vier Jahren praktisch in allen Kantonen machen konnte.

Die Frühlingsbilanz in Sitzen:
– SVP: + 13 Sitze
– GLP: + 8
– Die Mitte: +/- 0
– SP: +/- 0
– Grüne: -9
– FDP: -11 Sitze

Berücksichtigt wurden dafür die Kantone ZH, BL, GE, LU, TI und AR, wo seit Februar kantonalen Wahlen stattfanden. 


C) Die Umfragen

Es muss wieder einmal erwähnt werden: Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Prognosen. Was seit geraumer Zeit auffällt: Sie werden von grossen Medienhäusern intensiver genutzt und von vielen Medien überinterpretiert. Tatsache ist, dass die meisten Abweichungen innerhalb des statistischen Fehlerbereichs – auch Stichprobenfehler genannt – liegen.

D) Der Ausgang der Zürcher Kantonalwahlen

Die Sehnsucht, den Ausgang der eidgenössischen Wahlen weit im Voraus «lesen» zu können, ist schon lange gross. Das Interpretieren ersetzt die anspruchsvollere Auseinandersetzung mit politischen Themen und ist für die Medien attraktiver. Der Fachbegriff dazu lautet «Horse Race Journalism».

Es ist tatsächlich so, dass die Resultate der Kantonswahlen in Zürich, die jeweils zwischen sechs und acht Monate vor den «Eidgenössischen» stattfinden, ein guter Gradmesser sind. Sie nehmen die Tendenz vorneweg, nicht aber das Ausmass, wie diese Zusammenstellung zeigt:


Die Resultate der kantonalen Wahlen in Zürich vom 12. Februar zeigen, dass sich die Parteistärken zwischen +0.45 und -0.33 Prozentpunkten veränderten, also im MicroMü-Bereich. Die einzige Ausnahme sind die Grünen, die ein Minus von 1.48 Prozentpunkten hinnehmen mussten.

Von den Grünen ausgenommen, taugen die «Trends» der Zürcher Wahlen 2023 also kaum.


Fazit

Wo stehen also die Parteien Mitte April? Der SVP wird am 22. Oktober ein Erstarken zugetraut, nachdem sie vor vier Jahren 3.8 Prozentpunkte verloren hatte. Ihr kommt entgegen, dass das Thema Ausländer/Migration schon seit Monaten hoch gehängt wird. Das mobilisiert ihr Lager weit überdurchschnittlich. Bei allen anderen Parteien wäre eine Prognose sehr mutig.

Wenn es einen Hitzesommer gibt, drehen die Grünen vermutlich ihren Negativtrend, den sie in diesem Frühling einfingen, wieder ins Plus. Jedes andere Mega-Thema hat die Kraft, das Wahljahr 2023 aufzumischen.

Und damit zu einem zentralen Punkt, den die meisten Journalistinnen und Beobachter vergessen: die Ständeratswahlen. Umfragen werden jeweils schweizweit gemacht, es geht aber lediglich um Parteistärken. Was im Kampf um die Sitze der kleinen Kammer passiert, wird nicht abgebildet. Dabei wiegt ein Sitz im Ständerat vier Sitze im Nationalrat auf, Verschiebungen haben es also in sich.

In diesem Wahljahr ist die Ausgangslage vorab für die SP herausfordernd: Es ist gut möglich, dass sie ihre Ständeratssitze in den Kantonen Bern (bislang: Hans Stöckli), Solothurn (Roberto Zanetti), Tessin (Marina Carrobio) und St. Gallen (Paul Rechsteiner) verliert. Ein Zugewinn dürfte es hingegen in der Waadt geben: Dort kandidiert SGB-Präsident und Nationalrat Pierre-Yves Maillard, währenddem die beiden Bisherigen, Adèle Thorens (Grüne) und Olivier Français (FDP) aufhören.

 

Das_neue_Bundespalament_2023_12 by_LeTemps

Berset versucht, auch diese Affäre auszusitzen

Während der Pandemie soll es eine Standleitung zwischen Alain Bersets Kommunikationschef und dem CEO des Ringier-Konzerns gegeben haben. Regelmässig informierte Peter Lauener Marc Walder per E-Mail, welche Anträge Berset an der nächsten Bundesratssitzung stellen wird. Er leakte also vertrauliche Informationen, der «Blick» konnte so immer wieder mit Primeurs aufwarten.

Das ist die Essenz dessen, was die «Schweiz am Wochenende» publik machte.

Die Corona-Leaks bringen nun die Drähte zum Glühen, zumal es den Überflieger in der Landesregierung betrifft und im eidgenössischen Wahljahr viele Akteure ihre Süppchen kochen.

Ich versuche, fünf wichtige Punkte dieses Falles aufzudröseln.


1. Wer steht in der Kritik?

Es handelt sich zunächst um einen Fall Lauener und einen Fall Walder. Im Fokus stehen der frühere Kommunikationschef von Alain Berset, Peter Lauener, und der CEO des Ringier-Konzerns, Marc Walder.

Medien müssen kritisch beobachten und berichten, dürfen sich aber nicht mit einer Sache gemein machen. Das vergassen Walder und der «Blick» offensichtlich.

Ob daraus ein Fall Berset wird, ist zurzeit offen. Er sagt, er wisse nichts von den Kontakten zwischen Lauener und Walder. Kraft seines Amtes konzentriert sich das Interesse natürlich auf Berset.

Er überlebte in den letzten Jahren mehrere Affären, die er jeweils als privat deklarierte und schnell entschärfen konnte. Die Corona-Leaks haben allerdings eine andere Dimension.

Wegen der Summe aller Affären hat Berset viel an Glaubwürdigkeit verloren. Das zeigte sich bereits bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 7. Dezember, als er nur 140 Stimmen erzielte.

Jeder Fall oder Fehltritt von öffentlichen Personen hat eine moralische Beurteilung zur Folge. Sie kommt schnell, die juristische Aufarbeitung hingegen braucht meistens einige Monate.


2. Berset sagt zum regen Austausch zwischen Lauener und Walder: «Ich weiss es nicht. Ich kann es nicht wissen.» Ist das glaubwürdig?

Peter Lauener war seit dem Amtsantritt Bersets im Januar 2012 bis zu seinem leisen Abgang im Frühsommer 2022 eine zentrale Figur im Innendepartement (EDI). Er gilt als brillanter Stratege und Redenschreiber und hat grossen Anteil an der Figur Berset, wie sie die Öffentlichkeit wahrnimmt. Das Duo harmonierte gut, Lauener war Bersets Schatten.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass Berset nicht um Laueners Austausch mit dem Ringier-Manager wusste. Falls dem so war, muss Berset sich den Vorwurf gefallen lassen, seinem wichtigsten Sparringpartner eine sehr lange Leine gelassen zu haben.


3. Berset schweigt. Ist das eine gute Strategie?

Bundesrat Berset äusserte sich am Samstagabend gegenüber Radio RTS und sprach dabei von «illegalen Indiskretionen». Dass jemand in seinem Departement über eine längere Zeitspanne vertrauliche Informationen weitergab, blendete er natürlich aus.

Es gibt aktuell keine Strafuntersuchung gegen Berset. Er markierte beim RTS-«Forum» Präsenz und drehte den Spiess um. Jetzt wird er schweigen und versuchen, auch diese Affäre auszusitzen.

Die beiden Geschäftsprüfungskommissionen sind wegen anderen Indiskretionen aus dem Bundeshaus längst an der Arbeit. Sie werden nun auch diesen Fall anschauen. Allerdings sind ihre Möglichkeiten beschränkt.


4. Wie grosse ist der Schaden für Bersets Partei, die SP?

In Wahljahren sind alle Parteien nervös, jede möchte, dass ihre Mitglieder im Bundesrat beim breiten Publikum gut ankommen. Dass es in Bersets Departement wieder rumpelt, setzt die SP und den Gesundheitsminister unter Druck. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass verschiedene Akteure diese Affäre parteipolitisch ausschlachten wollen. Die SP bleibt auch bei einem allfälligen Rücktritt in einer vertrackten Lage.


5. Lauener informierte Walder einmal darüber, dass ein 100-Millionen-Franken-Deal mit Biontech/Pfizer vor der Unterzeichnung stehe.

Das ist so, und der Kurs dieser Aktie stieg in den darauf folgenden Wochen massiv. Wer in jener Phase einstieg, verdiente viel Geld. Die Informationen waren börsenrelevant. Ob das Weitergeben dieser Insider-Informationen strafrechtlich verfolgt werden kann, weiss ich nicht.

 

Foto Alain Berset & Marc Walder: Watson

Weshalb Natalie Rickli nicht für den Bundesrat kandidieren wird

Die letzten 24 Stunden sind ein paar Medienanfragen zur Nachfolge von Bundesrat Ueli Maurer eingegangen. Alle Journalisten nennen den Namen der Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli, laut Tamedia hat sie «auf dem Papier das beste Anforderungsprofil». In der Tat war Rickli von 2007 bis 2019 Nationalrätin, ehe sie im Frühling 2019 in den Regierungsrat gewählt wurde. Als einzige der bislang genannten Personen hat sie also Erfahrung auf nationaler Ebene und in einer kantonalen Exekutive.

Dennoch glaube ich nicht daran, dass sie für den Bundesrat kandidieren wird. In diesem Blogposting führe ich aus, wieso.

Rickli und Ernst Stocker wurden am 13. April 2022 von ihrer Partei wieder für den Regierungsrat nominiert. Stocker ist mit 67 Jahren bereits im Pensionsalter. Er wurde bekniet, nochmals anzutreten, weil sonst weit und breit kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stand, der den zweiten SVP-Sitz in der siebenköpfigen Regierung souverän hätte verteidigen können. Also muss Stocker nochmals ran.

Die Gesamterneuerungswahlen im Kanton Zürich finden am 12. Februar 2023 statt. Sie haben eine übergeordnete Bedeutung, weil ihre Resultate als Vorboten für den Ausgang der eidgenössischen Wahlen im Oktober 2023 gedeutet werden. Deshalb gilt für jede Partei: verlieren verboten!

Rickli ist wohlgelitten im Entscheidungszirkel rund um Übervater Christoph Blocher, bei der SVP weiss man, was man an ihr hat. Eine Bundesrätin Natalie Rickli, im November wird sie 46-jährig, würde der Partei ein junges und frisches Aushängeschild bescheren. Selbstverständlich wird sie nun hinter den Kulissen bearbeitet.

Allerdings stimmt das Timing nicht für sie. Die Maurer-Nachfolge wird am 7. Dezember unter der Bundeshauskuppel entschieden. Von der SVP wird ein Zweiervorschlag erwartet. Alles andere wäre ein Affront gegenüber den anderen Fraktionen, die deswegen eine wilde Kandidatur vorziehen könnten. Die Dynamik sollte man nicht unterschätzen, zumal Bundesratswahlen geheim sind.

Nehmen wir an, dass Rickli für den Bundesrat kandidiert. In einem solchen Fall steht die SVP-Kantonalsektion vor der Herausforderung, einen Ersatz für Rickli aus dem Hut zu zaubern, der realistische Wahlchancen für die Zürcher Regierung hat. Doch wer ist dieser Mister oder Miss X? Wenn vor Jahresfrist kein Nachfolger für Stocker gefunden werden konnte, wäre die Suche in den nächsten Wochen kaum einfacher. Wer will im Ernst zu einem derart späten Zeitpunkt ins Rennen steigen und sich verheizen lassen?

Im mit Abstand bevölkerungsreichsten Kanton will die stärkste Partei ihren zweiten Regierungssitz gewiss nicht verlieren. Das wäre Sand im Getriebe während des eidgenössischen Wahljahres.

Das Risiko ist auch für Rickli gross. Zweifellos würde sie es auf das Zweierticket der Fraktion schaffen, beispielsweise zusammen mit Albert Rösti (BE), Esther Friedli (SG) oder Alt-Parteipräsident  Toni Brunner (SG). Was aber am Wahltag  geschieht, ist komplett offen. Wenn sie den Sprung in den Bundesrat nicht schafft, kann sie nur schwerlich zurück zu Plan A schwenken, der Wiederwahl für den Zürcher Regierungsrat. Das Volk würde ein solches Hüscht und hott kaum goutieren.

Natalie Rickli ist mediengewandt wie nur wenige Spitzenfiguren in der Schweizer Politik. Sie wird es schaffen, vorläufig als Bundesratskandidatin im Gespräch zu bleiben. Rechtzeitig entscheidet sie sich dann aber für ihre angestammte Position. Das wird dann etwa so klingen: «Es ist eine Ehre, für eine Bundesratskandidatur angefragt zu werden. Nach reiflichen Überlegungen bin ich zum Schluss gekommen, dass in Zürich noch ein paar wichtige Aufgaben auf mich warten.»

So geht Wahlkampf – für den Termin im Februar 2023. Zugleich empfiehlt sich Rickli für die Nachfolge von Bundesrat Guy Parmelin (63), der seit 2015 im Amt ist, also vermutlich noch drei Jahre macht. Oder sie kandidiert 2027 für den Ständerat. Dann wird Daniel Jositsch (SP) nach 12 Jahren im Stöckli und insgesamt 16 Jahren in Bundesbern vermutlich abtreten. Die Chancen stehen für Rickli gut, wenn sie in ihrer zweiten Legislaturperiode als Regierungsrätin keine grossen Fehler macht. Ist sie erst einmal im Ständerat, kann auch der Sprung in die Landesregierung klappen, siehe Karin Keller-Sutter, die eine vergleichbare Karriere hinter sich hat.

Foto: Tages-Anzeiger

Was sie macht, macht sie mit Herzblut und Haltung

Dreissig Jahre lang war Regula Rytz in der aktiven Politik – im Kantonsparlament, in der Regierung der Stadt Bern, 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, kurze Zeit später übernahm sie das Präsidium der Grünen Schweiz. Gestern kündigte sie ihren Rücktritt an – eine persönliche Würdigung.

 

Ein milder Sonntagabend im Frühsommer 2007. Wir finden uns an einer lauschigen Stätte ein. Die Gäste freuen sich über das Ja des Stimmvolks zu Tram Bern West, dessen Abstimmungskampagne mein Team 2006 und 2007 konzipiert hatte. Es gibt Salzgebäck, kalte Getränke und gegenseitiges Schulterklopfen – endlich kann Bümpliz an das städtische Tramnetz angeschlossen werden.

Ein bekannter Politiker, der schon vorher viel Alkohol getrunken hatte, wird in seiner Ansprache ausschweifend, seine Zunge immer schwerer. Im Publikum werfen wir uns versteckte Blicke zu: «Es ist gut jetzt!», sagen sie.

Zunächst unbemerkt hat sich Regula Rytz, damals die städtische Verkehrs- und Tiefbaudirektorin, ganz in die Nähe des Redners hingestellt. Als dieser nach Worten sucht, übernimmt sie fliegend und charmant, verdankt ihn, drei Minuten später ist der offizielle Teil vorbei.

Was wie einstudiert wirkte, war eine geschickte Ad-hoc-Intervention: Der Alkoholisierte wurde vor sich selber geschützt, Peinlichkeiten blieben aus, das Publikum reagierte erleichtert. Rytz hatte die Situation mit ihrem feinen Sensorium gerettet.

Eine andere Anekdote: Während eines kalten Wintermonats kam ich ins Gespräch mit Angestellten des Tiefbauamts, die im Schichtbetrieb die Strassen rund um den Bahnhof Bern sanieren mussten. Sie erzählten mir, wie Rytz eines Morgens mit einer Thermoskanne aufgetaucht sei und ihnen heissen Kaffee ausgeschenkt habe. Andere Exekutivpolitiker machen dasselbe, allerdings mit den Medien im Schlepptau.

Seit nunmehr 20 Jahre beobachte ich Regula Rytz, gelegentlich hatten wir auch beruflich miteinander zu tun. Etwa in der Phase 2018/2019, als wir zusammen mit anderen für den SRF-Radiostandort Bern und gegen die Zentralisierung in Zürich kämpften.

Sie war tief in die Medienpolitik eingetaucht und dossiersicher, an die Sitzungen kam sie gut vorbereitet. Während derjenige, der sich mit diesem Thema hätte profilieren können, wenig Ahnung und keinen Plan hatte, moderierte sie Ausgangslage und Optionen. Er schenkte seinem Smartphone viel Aufmerksamkeit, sie steuerte die Veranstaltung, ohne zu dominieren.

2012 erfolgte der Wechsel auf die nationale Bühne

Rytz mag die Menschen. Sie hört ihnen zu und nimmt sie ernst. Sie engagiert sich mit Herzblut und Haltung. Zugleich hat sie verinnerlicht, dass man in diesem Land nur mit solidem Know-how und einem pragmatischen Vorgehen etwas bewegen kann. Laut und moralinsauer wird sie nie. Seit 2012 steht sie als Nationalrätin und Parteipräsidentin (bis Sommer 2020) immer wieder auf der grossen, grell ausgeleuchteten Bühne, bleibt aber stets sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Es geht ihr immer um die Sache, inhaltlich sind unsere Positionen oft nicht deckungsgleich.

Die Höhenflüge und brutal einsamen Momente der Politik kennt sie. Als die Grünen bei den eidgenössischen Wahlen 2015 verloren, musste sie, die ehemalige Gewerkschafterin, im Generalsekretariat Stellen abbauen. Vier Jahre später folgte der grösste Triumph, den eine Partei in der Schweiz je erreicht hat: ein Zuwachs von 6.1 Prozentpunkten. Rytz ist eine der Architektinnen dieses Erfolgs.

Auch nach 30 Jahren politisiert sie immer noch lustvoll. Dass sie sich im Frühling aus dem Nationalrat verabschiedet, überrascht mich nicht. Rytz spürt immer rechtzeitig, wenn es Zeit ist für ein neues Kapitel. Sie kehrt der Politik nicht den Rücken, sondern wird künftig hinter den Kulissen tätig sein. Eine Konstante bleibt, da bin ich mir sicher: Was sie macht, macht sie richtig.


Transparenz:

In den 20 Jahren meiner Selbständigkeit gab es einmal ein Auftragsverhältnis zwischen Regula Rytz und meiner Firma: Im Frühjahr 2013 bereiteten wir zusammen ihren Auftritt in der «Arena» vor.

 

Ergänzend: Was die «SonntagsZeitung» am 3. April 2022 über den Rücktritt von Regula Rytz schrieb:

Die ungekrönte Königin der Grünen tritt ab (PDF)

Fehr war der falsche Kandidat

Keine 2000 Kilometer östlich der Schweiz tobt seit Ende Februar ein Krieg. Das schlägt sich bei Wahlen nieder, das Volk zieht es in Krisenzeiten vor, beim Bewährten zu bleiben. Das ist eine Erkenntnis, die auf Erhebungen basiert und bei den Deutungen zum Ausgang der Regierungsratswahlen in Bern prominent genannt wird. So bleiben die Kräfteverhältnisse im siebenköpfigen Regierungsrat gleich: Vier Bürgerliche stehen drei Rotgrünen gegenüber, der vakante Sitz von Beatrice Simon (Die Mitte, früher BDP) übernimmt Parteikollegin Astrid Bärtschi.

Es gibt andere Gründe, weshalb der Versuch von Rotgrün, die Regierungsmehrheit zu kippen, deutlich scheiterte. Kampfkandidat Erich Fehr (SP) ist zwar seit zehn Jahren ein solider Stadtpräsident in Biel, als Wahlkämpfer überzeugte er nicht, er wirkt steif und angestrengt. Ihm geht die Strahlkraft seines Vorgängers Hans Stöckli ab, die Massen kann Fehr nicht von den Stühlen reissen. Es gibt Kandidaten, die drehen die letzten Monate vor einem Wahltermin auf, werden immer besser, bei Fehr beobachteten wir diese Steigerung nicht.

Weil die Pandemie den persönlichen Kontakt mit dem Volk zuweilen erschwerte, hätte es von Anfang viel Engagement im Netz gebraucht. Doch das zeigte Fehr und sein Team nicht. Er war im Mai 2021 nominiert worden, doch noch Ende Oktober, also fünf Monate später, schlummerte seine Website vor sich hin. Der aktuellste Beitrag stammte damals vom 27. September 2020, war also mehr als ein Jahr alt.

Diese Nichtbeachtung hatte ich am 26. Oktober 2021 auf Twitter thematisiert, wie der nachfolgende Printscreen zeigt:

Mit einem solchen Wahlkampf schafft man es als Herausforderer nicht, gewählt zu werden. Es ist auch gut möglich, dass sich potenzielle Supporter veräppelt fühlten. Bis Ende Februar dachte ich, dass Fehr womöglich die ganze Energie auf ein fulminantes Feuerwerk am Schluss spart – inhaltlich und werberisch. Es zündete nicht. Die eigene Partei hat ihm überdies Fesseln angelegt: Er durfte nicht mehr als 20’000 Franken in den persönlichen Wahlkampf investieren.

Tatsache ist: Erich Fehr fuhr ein schlechtes Resultat ein, liegt er doch fast 22’000 Stimmen hinter Bärtschi.

Aussagekräftig ist ein Vergleich: Fehrs Name steht auf 38.04 Prozent aller gültigen Wahlzettel. Vor vier Jahren erreichte der damalige Kampfkandidat der SP, Christophe Gagnebin, ein weitgehend unbekannter Ex-Grossrat aus dem Berner Jura, einen nur unwesentlich schlechteren Wert, nämlich 35.17 Prozent. Gagnebin war ein Pro-Forma-Kandidat, Fehr hätte laut seiner Partei die Wende hinbringen müssen.

Im Verwaltungskreis Biel und in der Stadt Biel, seinen beiden «Home Grounds», kam Fehr nur je als Dritter ins Ziel.

Ein weiterer Faktor: Erich Fehr hat das falsche Geschlecht, die Musik in seiner Partei spielt nicht bei den Männern. Die SP hat sich im Verlauf der letzten Jahre hin zu einer Frauenpartei entwickelt. Das trifft auf die Leute in den Schlüsselpositionen zu, aber auch auf die Wählerschaft. Wäre anstelle von Fehr eine profilierte und populäre Nationalrätin der SP angetreten, namentlich Flavia Wasserfallen oder Nadine Masshardt, hätte es von Anfang an Dampf im Kessel und einen echten Wahlkampf gegeben – mit offenem Ausgang. Der Wahlkampf sollte ein Wettstreit um bessere Ideen sein. Bern und den beiden grossen politischen Blöcken hätte das gutgetan.

 

Foto Erich Fehr: Adrian Moser/«Der Bund»

Die «Aufrechten» stehen vor hohen Hürden

Im Verlauf der Pandemie sind neue Gruppierungen entstanden, die gegen die Coronapolitik der Behörden opponieren. Es sind mehr als ein halbes Dutzend an der Zahl, von «mass-voll» über das «Aktionsbündnis Urkantone» bis zu den «Freiheitstrychlern». Die «Freude der Verfassung» zählen nach eigenen Angaben 25’000 Mitglieder und sind damit grösser als die Grünen oder die Grünliberale Partei.

Mehreren Gruppierungen haben inzwischen die Plattform «Aufrecht Schweiz» gegründet. Erklärte Absicht dieser Dachorganisation ist es, bei kommunalen und kantonalen Wahlen eigene Leute ins Rennen zu schicken. Die nächsten möglichen Termine sind die Wahlen in der Stadt Zürich (13. Februar 2022), sowie die kantonalen Wahlen in Nidwalden (13. März 2022) und Bern (27. März 2022).

Inzwischen steht auf der Website von «Aufrecht Schweiz». «Die Wahlen im Kanton Bern sind die perfekte Gelegenheit, um Erfahrungen für die nationalen Wahlen zu sammeln und auch auf kantonaler Ebene Einfluss zu gewinnen.» (Nachtrag vom 10. Januar 2022, die Red.)

Was sind die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» im Kanton Bern?

Als Rechenbeispiel drängt sich der Verwaltungs- bzw. Wahlkreis Jura bernois auf. Aus mehreren Gründen:

1.  Er ist deckungsgleich, Vergleiche zwischen den Covid-19-Abstimmungen mit den letzten Parlamentswahlen 2018 (Grosser Rat) sind also auf einfache Weise möglich.

2.  Die Nein-Stimmen-Anteile zum Covid-19-Gesetz waren dort zweimal überdurchschnittlich hoch. Entsprechend ist die Skepsis gegenüber der offiziellen Coronapolitik und den Behörden als überdurchschnittlich hoch zu werten. Das macht diesen Wahlkreis zu einem guten Boden für Massnahmen-Kritiker.

3.  Der Jura bernois gehört zum «Bible Belt», der sich über das Emmental bis ins Oberland erstreckt. Es gibt dort überdurchschnittlich viele Freikirchler und Sekten, die wiederum eine Nähe zu den massnahmen-kritischen Gruppierungen haben oder Teil davon sind.

Dieselbe Zusammenstellung gibt es hier als PDF zum Herunterladen.

Dieses Rechenbeispiel zeigt, dass im Jura bernois die Hürden für das Erringen eines einzelnen Sitzes im Kantonsparlament ziemlich hoch sind.

Wenn bei den Parlamentswahlen im März 2022 mehr Listen und mehr Kandidierende als 2018 zur Verfügung stehen, ist die Konkurrenz noch stärker, was die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» weiter schmälert. Natürlich ist es möglich, dass sie eine Listenverbindung anstreben, um so ihre Chancen zu verbessern. Als natürliche Partnerin könnte die EDU betrachtet werden. Diese wird, so meine Hypothese, nur dann ein Mitmachen in Betracht ziehen, wenn sie sicher ist, besser als die «Aufrechten» abzuschneiden und mit deren Hilfe selber ein Grossratsmandat zu erringen. So würde die EDU allerdings die EVP düpieren und diese ihren Sitz im Kantonsparlament verlieren.

Fazit: In jedem Fall ist es positiv zu werten, dass «Aufrecht Schweiz» den demokratischen Weg einschlägt, um in der Politik mitzuwirken. Noch im November äusserte sich Michael Bubendorf, der Sprecher der «Freunde der Verfassung» deutlich anders: Es sprach davon, die Nase voll zu haben von den «Faschos» und lieber ein neues System mit eigenen Strukturen aufbauen möchte.

Die Massnahmen-kritischen Gruppierungen brachten es ohne Erfahrung zweimal problemlos hin, mehr als genügend Unterschriften für die beiden Covid-19-Referenden einzureichen. Das verdient Respekt. Sie verschafften sich die letzten eineinhalb Jahre viel Publizität und generierten so viele Mitglieder und Spenden. Jetzt im Winter in den rauhen Wind von Wahlen zu stehen, gegen viele grosse und kleine etablierte Parteien, ist anspruchsvoll. Der Wahlkampf bis Ende März ist dabei nur die erste Etappe.

Wie das Ja zum CO2-Gesetz vergeigt wurde

Am «Super Sunday» im Herbst letzten Jahres triumphierte die urban-fortschrittliche Schweiz: Nein zur Kündigungsinitiative und zum Jagdgesetz, Ja zum Vaterschaftsurlaub. Heute war die ländlich-konservative Schweiz an der Reihe und versenkte die beiden Agrarinitiativen und das CO2-Gesetz. Letzteres ist bitter und selbstverschuldet. Der breiten Ja-Allianz, die vom WWF bis zum TCS und von den Grünen bis zu economiesuisse reichte, fehlten strategisches Geschick und Leidenschaft. Ein Abstimmungskommentar. 

Das Nein zum CO2-Gesetz brennt wie eine Ohrfeige. Es ist ein Desaster für Bundesrat und Parlament. Jetzt die laute und irreführende Kampagne der Gegner als Grund ins Feld zu führen, wäre billig. Die grossen Fehler unterliefen nämlich der breiten Ja-Allianz. Ich erwähne sechs Gründe, die zum Nein führten.

Die Terminierung:
Der Bundesrat hat Spielraum, welche Vorlage an welchem Tag zur Abstimmung kommt. Die beiden Agrarinitiativen auf denselben Tag wie das CO2-Gesetz festzulegen, war ein kapitaler strategischer Fehler. Weshalb? Beide Initiativen waren von Anfang an chancenlos, auch weil sie schlecht formuliert sind. Dass sie die ländlich-konservative Schweiz weit überdurchschnittlich mobilisieren, war klar. Der Bauernstand ist dort gut verwurzelt, mental stehen wir ihm nahe. Die Agrarinitiativen wurden auf dem Land (und in der Agglomeration) geschickt mit dem CO2-Gesetz verzurrt. Daraus bildete sich ein kompakter Nein-Block zu diesem «Zeugs aus der links-grünen Ecke».

Die Bundesrätin:
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Landesregierung hat Simonetta Sommaruga einen Kompass. Sie weiss, was sie will und sie arbeitet hart dafür, diese Ziele auch zu erreichen. Seit Langem war klar, dass die Abstimmung über das CO2-Gesetz in der bürgerlichen Mitte und von den Parteiunabhängigen entschieden wird. Eine Bundesrätin der FDP oder der Mitte (ex CVP bzw. BDP) hätte mit dieser Vorlage weniger Abwehrreflexe ausgelöst als SP-Umweltministerin Sommaruga.

Die Klimajugend:
Anfang 2019 hatte es die Klimajugend geschafft, die Klimakrise zum Thema Nummer 1 zu machen, was die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit und damit die Wahlen im Herbst desselben Jahres stark beeinflusste. Nachdem das Parlament im Herbst 2020 das komplett revidierte CO2-Gesetz mit überwältigendem Mehr guthiess, sprangen beim Referendum allerdings ein paar Regionalsektionen der Klimajugend auf. Dies, weil ihnen das Gesetz zu wenig weit geht. Sie machten sich damit zu nützlichen Idiotinnen von SVP, Hauseigentümerverband (HEV), Automobil Club der Schweiz (ACS), Auto Schweiz und Avenergy (vormals Erdölvereinigung). Für Behördenvorlagen ist ein Zangengriff – von rechts und links – Gift.

Am 21. Mai fand der internationale Aktionstag «Strike for Future» statt, also drei Wochen vor der Abstimmung. In der Schweiz konnte er an rund 100 verschiedenen Veranstaltungen 30’000 Menschen mobilisieren. Sie demonstrierten und disktutierten für eine bessere Welt. Im Manifest findet man aber keinen Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung zum CO2-Gesetz. Institutionelle Politik mag langsam, abgeschliffen und langweilig sein, bislang ist es der einzige Weg, um Veränderungen in Gesetze und die Bundesverfassung zu schreiben. Die Klimajugend fordert nicht nur viel mehr Tempo beim Klimawandel, sondern auch einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Das ist legitim, bloss muss sie sich jetzt vorwerfen lassen, zu wenig für ein Ja getan zu haben, ja dem Klima gar einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Die FDP:
Im Dezember 2018 war die FDP-Fraktion dafür verantwortlich, dass das erste CO2-Gesetz im Parlament abstürzte. Ein Aufschrei ging durch das Land, was der Kabarettist Michael Elsener flugs in einen Slogan goss: «FDP – Fuck the Planet.» Während der Tür-zu-Tür-Befragung der freisinnigen Basis im Frühjahr 2019 wurde Parteipräsidentin Petra Gössi bewusst, dass der Klimawandel enorm bewegt. Es folgte die Kurskorrektur: Während des Wahljahres verpasste sich die FDP, von den Delegierten abgesegnet, einen grünen Anstrich.

Das neue CO2-Gesetz ist umfassend und reglementiert in Teilen staatlich, kommt aber ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, Lenkungsabgaben und das Verursacherprinzip. Umfragen zeigen, dass die Basis des Freisinns bis am Schluss skeptisch blieb. Bloss mit einem «Fifty-fifty» der FDP war diese Abstimmung kaum zu gewinnen.

Die Kampagnen:
Mehreren Komitees standen mehrere Millionen Franken für ein Ja zur Verfügung. Die Absprachen innerhalb des Ja-Lagers waren ungenügend, den Kampagnen fehlte die Leidenschaft.

Stringente Kampagnen entstehen, wenn auf Basis von Meinungsumfragen und Fokusgruppen die besten Argumente herausgefiltert werden. Diese werden dann während Monaten mit einer überzeugenden Bildsprache vermittelt. Das blieb aus. Vielmehr wurde der Bevölkerung ein buntes Potpourri mit x verschiedenen Argumenten serviert, was zu Irritationen führte. Als der Fokus der Abstimmung schliesslich bei den Kosten angelangt war, war es zu spät. So hatte sich beispielsweise die Mär, dass die Landbevölkerung geschröpft wird, festgesetzt.

Die Kosten:
Die Strippenzieher im Hintergrund glaubten lange Zeit, dass diese austarierte Vorlage problemlos durchkommt. Die Allianz ist breit, die SVP von der Rolle, so glaubten sie. Dabei gab es drei Warnschüsse: In den Kantonen Solothurn, Bern und Aargau wurden in den letzten Jahren die kantonalen Energiegesetze abgelehnt: zweimal äusserst knapp (BE: 50.6%, AG: 50.9% Nein) einmal sehr deutlich (SO: 70.5% Nein). Von diesen Abstimmungsniederlagen hätte man lernen müssen, dass es in der Umsetzung, wenn es um die Kosten geht, eng wird. Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, denn: Energiethemen und Klimaschutz werden vom Volk gleich beurteilt.

Fazit:
Für 51.6 Prozent der Stimmenden* liegt der eigene Geldbeutel näher als ein solides CO2-Gesetz. Die bittere Erkenntnis dieses Abstimmungssonntags kennt die Politikwissenschaft schon lange: Der Ansatz nennt sich «Rational Choice». Allerdings war es eine Niederlage mit Ansage. Das Ja-Lager hat diese Abstimmung am Anfang zu wenig ernst genommen und schliesslich vergeigt. Bedenklich ist, dass damit einmal mehr eine Behördenvorlage scheiterte. Bis der dritte Entwurf eines CO2-Gesetzes vorliegen wird, verstreicht wieder wertvolle Zeit. Industrie und Wirtschaft traue ich zu, die Klimaziele zu erreichen. Beim Verkehr hingegen sieht es düster aus.

 

* Die Differenz Nein/Ja liegt bei 103’114 Stimmen. Die Stimmbeteiligung ist mit 59.7 Prozent sehr hoch.

Nachtrag am Abstimmungssonntag von 16.30 Uhr:
Der hochgeschätzte Politbeobachter Claudio Kuster brachte auf Twitter eben einen siebten Grund ins Spiel: Hätten sich SP, Grüne, Junge GLP und Operation Libero ebenso engagiert für das CO2-Gesetz engagiert, wie gegen das «vergleichweise belanglose» PMT-Gesetz, wäre es anders ausgegangen.

Nachtrag vom 14. Juni 2021:
Das Politologen-Duo LeeWas macht schon seit Jahren Nachabstimmungsbefragungen. Ihr Befund zum CO2-Gesetz kommt überraschend: 58 Prozent der 18- bis 34-Jährigen, zuweilen auch Generation Easyjet genannt, lehnten das Gesetz ab. Der höchste Ja-Anteil wiederum kommt von den Altersgruppe der über 65-Jährigen (mit 54 Prozent). Der komplette Bericht ist hier als PDF verlinkt.

Die Grafik aus den Tamedia-Zeitungen:

So wird der Bundesrat zum Bittsteller

Das nationale Parlament stimmt laufend über Kleinkram ab, das Schweizer Volk tut dasselbe regelmässig. Aber ausgerechnet beim seit Jahren wichtigsten Thema, dem Rahmenabkommen, können weder das Parlament noch das Volk mitreden, und auch die Kantone bleiben aussen vor. Das ist ein Affront.

Der Bundesrat hat gestern entschieden, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Eine Volksabstimmung über das Rahmenabkommen sei nicht zu gewinnen, behauptet ein vielstimmiger Chor seit Jahren. Viele Sänger behaupteten das bereits, als die Verhandlungen noch im Gange waren. Andere wiederum machen seit Langem Stimmung gegen das Rahmenabkommen, ohne sich darum zu kümmern, was in diesem 30 Seiten umfassenden Vertrag steht. Wer es als tauglich bezeichnet, wird als «EU-Turbo» etikettiert. Das Niveau der Debatte: jämmerlich.

Tatsache ist, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Inzwischen existieren rund 140 verschiedene bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Das Rahmenabkommen hätte fünf Verträge und alle künftigen tangiert. Angesichts solcher Zahlen ist es unverfroren, von einem «Unterwerfungsvertrag» zu reden. Die EU und die Schweiz pflegen unterschiedliche Traditionen, wie sie Streitpunkte klären. «Brüssel» tut es juristisch, die Schweiz politisch.

Der Bundesrat hat also den roten Knopf gedrückt. Seit 2008, als die einheitliche Rechtsauslegung erstmals auf Tapet kam, hat er es nicht geschafft, in der Europapolitik eine Strategie zu entwickeln. Stets waren drei oder sogar vier verschiedene Positionen am Bundesratstisch vertreten. Die Landesregierung besteht aus sieben Einzelkämpfern, die Angst vor Abstimmungsniederlagen und der eigenen Abwahl haben. Was klar ist:

1.)  Es gibt keine neuen bilateralen Verträge mehr, die alten setzen Rost an. So bleibt beispielsweise das seit Langem geplante Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

2.)  Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird ungleich schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.

3.)  Das Narrativ «souverän seit 1291» ist in unserem Land weiterhin ungemein stark. Nicht die drei Eidgenossen haben die Neutralität der Schweiz erfunden, sondern der Wiener Kongress 1815. (Ein Schweizer sass damals übrigens nicht am Verhandlungstisch.)

Wichtig wäre jetzt, dass man die europäische Idee wieder in den Vordergrund rückt. (Mit «EU-Turbo» hat das nichts zu tun.) Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich zusammen mit der Wirtschaft und der Forschung zu einer soliden Allianz formieren, könnten eine ernsthafte Debatte anstossen und so eine Deblockierung der Europapolitik erreichen.


Ergänzende Leseempfehlung:

– Das Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier – hier als PDF verlinkt.
Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

– Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)