Die «Aufrechten» stehen vor hohen Hürden

Im Verlauf der Pandemie sind neue Gruppierungen entstanden, die gegen die Coronapolitik der Behörden opponieren. Es sind mehr als ein halbes Dutzend an der Zahl, von «mass-voll» über das «Aktionsbündnis Urkantone» bis zu den «Freiheitstrychlern». Die «Freude der Verfassung» zählen nach eigenen Angaben 25’000 Mitglieder und sind damit grösser als die Grünen oder die Grünliberale Partei.

Mehreren Gruppierungen haben inzwischen die Plattform «Aufrecht Schweiz» gegründet. Erklärte Absicht dieser Dachorganisation ist es, bei kommunalen und kantonalen Wahlen eigene Leute ins Rennen zu schicken. Die nächsten möglichen Termine sind die Wahlen in der Stadt Zürich (13. Februar 2022), sowie die kantonalen Wahlen in Nidwalden (13. März 2022) und Bern (27. März 2022).

Inzwischen steht auf der Website von «Aufrecht Schweiz». «Die Wahlen im Kanton Bern sind die perfekte Gelegenheit, um Erfahrungen für die nationalen Wahlen zu sammeln und auch auf kantonaler Ebene Einfluss zu gewinnen.» (Nachtrag vom 10. Januar 2022, die Red.)

Was sind die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» im Kanton Bern?

Als Rechenbeispiel drängt sich der Verwaltungs- bzw. Wahlkreis Jura bernois auf. Aus mehreren Gründen:

1.  Er ist deckungsgleich, Vergleiche zwischen den Covid-19-Abstimmungen mit den letzten Parlamentswahlen 2018 (Grosser Rat) sind also auf einfache Weise möglich.

2.  Die Nein-Stimmen-Anteile zum Covid-19-Gesetz waren dort zweimal überdurchschnittlich hoch. Entsprechend ist die Skepsis gegenüber der offiziellen Coronapolitik und den Behörden als überdurchschnittlich hoch zu werten. Das macht diesen Wahlkreis zu einem guten Boden für Massnahmen-Kritiker.

3.  Der Jura bernois gehört zum «Bible Belt», der sich über das Emmental bis ins Oberland erstreckt. Es gibt dort überdurchschnittlich viele Freikirchler und Sekten, die wiederum eine Nähe zu den massnahmen-kritischen Gruppierungen haben oder Teil davon sind.

Dieselbe Zusammenstellung gibt es hier als PDF zum Herunterladen.

Dieses Rechenbeispiel zeigt, dass im Jura bernois die Hürden für das Erringen eines einzelnen Sitzes im Kantonsparlament ziemlich hoch sind.

Wenn bei den Parlamentswahlen im März 2022 mehr Listen und mehr Kandidierende als 2018 zur Verfügung stehen, ist die Konkurrenz noch stärker, was die Erfolgsaussichten für die «Aufrechten» weiter schmälert. Natürlich ist es möglich, dass sie eine Listenverbindung anstreben, um so ihre Chancen zu verbessern. Als natürliche Partnerin könnte die EDU betrachtet werden. Diese wird, so meine Hypothese, nur dann ein Mitmachen in Betracht ziehen, wenn sie sicher ist, besser als die «Aufrechten» abzuschneiden und mit deren Hilfe selber ein Grossratsmandat zu erringen. So würde die EDU allerdings die EVP düpieren und diese ihren Sitz im Kantonsparlament verlieren.

Fazit: In jedem Fall ist es positiv zu werten, dass «Aufrecht Schweiz» den demokratischen Weg einschlägt, um in der Politik mitzuwirken. Noch im November äusserte sich Michael Bubendorf, der Sprecher der «Freunde der Verfassung» deutlich anders: Es sprach davon, die Nase voll zu haben von den «Faschos» und lieber ein neues System mit eigenen Strukturen aufbauen möchte.

Die Massnahmen-kritischen Gruppierungen brachten es ohne Erfahrung zweimal problemlos hin, mehr als genügend Unterschriften für die beiden Covid-19-Referenden einzureichen. Das verdient Respekt. Sie verschafften sich die letzten eineinhalb Jahre viel Publizität und generierten so viele Mitglieder und Spenden. Jetzt im Winter in den rauhen Wind von Wahlen zu stehen, gegen viele grosse und kleine etablierte Parteien, ist anspruchsvoll. Der Wahlkampf bis Ende März ist dabei nur die erste Etappe.

Wie das Ja zum CO2-Gesetz vergeigt wurde

Am «Super Sunday» im Herbst letzten Jahres triumphierte die urban-fortschrittliche Schweiz: Nein zur Kündigungsinitiative und zum Jagdgesetz, Ja zum Vaterschaftsurlaub. Heute war die ländlich-konservative Schweiz an der Reihe und versenkte die beiden Agrarinitiativen und das CO2-Gesetz. Letzteres ist bitter und selbstverschuldet. Der breiten Ja-Allianz, die vom WWF bis zum TCS und von den Grünen bis zu economiesuisse reichte, fehlten strategisches Geschick und Leidenschaft. Ein Abstimmungskommentar. 

Das Nein zum CO2-Gesetz brennt wie eine Ohrfeige. Es ist ein Desaster für Bundesrat und Parlament. Jetzt die laute und irreführende Kampagne der Gegner als Grund ins Feld zu führen, wäre billig. Die grossen Fehler unterliefen nämlich der breiten Ja-Allianz. Ich erwähne sechs Gründe, die zum Nein führten.

Die Terminierung:
Der Bundesrat hat Spielraum, welche Vorlage an welchem Tag zur Abstimmung kommt. Die beiden Agrarinitiativen auf denselben Tag wie das CO2-Gesetz festzulegen, war ein kapitaler strategischer Fehler. Weshalb? Beide Initiativen waren von Anfang an chancenlos, auch weil sie schlecht formuliert sind. Dass sie die ländlich-konservative Schweiz weit überdurchschnittlich mobilisieren, war klar. Der Bauernstand ist dort gut verwurzelt, mental stehen wir ihm nahe. Die Agrarinitiativen wurden auf dem Land (und in der Agglomeration) geschickt mit dem CO2-Gesetz verzurrt. Daraus bildete sich ein kompakter Nein-Block zu diesem «Zeugs aus der links-grünen Ecke».

Die Bundesrätin:
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Landesregierung hat Simonetta Sommaruga einen Kompass. Sie weiss, was sie will und sie arbeitet hart dafür, diese Ziele auch zu erreichen. Seit Langem war klar, dass die Abstimmung über das CO2-Gesetz in der bürgerlichen Mitte und von den Parteiunabhängigen entschieden wird. Eine Bundesrätin der FDP oder der Mitte (ex CVP bzw. BDP) hätte mit dieser Vorlage weniger Abwehrreflexe ausgelöst als SP-Umweltministerin Sommaruga.

Die Klimajugend:
Anfang 2019 hatte es die Klimajugend geschafft, die Klimakrise zum Thema Nummer 1 zu machen, was die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit und damit die Wahlen im Herbst desselben Jahres stark beeinflusste. Nachdem das Parlament im Herbst 2020 das komplett revidierte CO2-Gesetz mit überwältigendem Mehr guthiess, sprangen beim Referendum allerdings ein paar Regionalsektionen der Klimajugend auf. Dies, weil ihnen das Gesetz zu wenig weit geht. Sie machten sich damit zu nützlichen Idiotinnen von SVP, Hauseigentümerverband (HEV), Automobil Club der Schweiz (ACS), Auto Schweiz und Avenergy (vormals Erdölvereinigung). Für Behördenvorlagen ist ein Zangengriff – von rechts und links – Gift.

Am 21. Mai fand der internationale Aktionstag «Strike for Future» statt, also drei Wochen vor der Abstimmung. In der Schweiz konnte er an rund 100 verschiedenen Veranstaltungen 30’000 Menschen mobilisieren. Sie demonstrierten und disktutierten für eine bessere Welt. Im Manifest findet man aber keinen Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung zum CO2-Gesetz. Institutionelle Politik mag langsam, abgeschliffen und langweilig sein, bislang ist es der einzige Weg, um Veränderungen in Gesetze und die Bundesverfassung zu schreiben. Die Klimajugend fordert nicht nur viel mehr Tempo beim Klimawandel, sondern auch einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Das ist legitim, bloss muss sie sich jetzt vorwerfen lassen, zu wenig für ein Ja getan zu haben, ja dem Klima gar einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Die FDP:
Im Dezember 2018 war die FDP-Fraktion dafür verantwortlich, dass das erste CO2-Gesetz im Parlament abstürzte. Ein Aufschrei ging durch das Land, was der Kabarettist Michael Elsener flugs in einen Slogan goss: «FDP – Fuck the Planet.» Während der Tür-zu-Tür-Befragung der freisinnigen Basis im Frühjahr 2019 wurde Parteipräsidentin Petra Gössi bewusst, dass der Klimawandel enorm bewegt. Es folgte die Kurskorrektur: Während des Wahljahres verpasste sich die FDP, von den Delegierten abgesegnet, einen grünen Anstrich.

Das neue CO2-Gesetz ist umfassend und reglementiert in Teilen staatlich, kommt aber ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, Lenkungsabgaben und das Verursacherprinzip. Umfragen zeigen, dass die Basis des Freisinns bis am Schluss skeptisch blieb. Bloss mit einem «Fifty-fifty» der FDP war diese Abstimmung kaum zu gewinnen.

Die Kampagnen:
Mehreren Komitees standen mehrere Millionen Franken für ein Ja zur Verfügung. Die Absprachen innerhalb des Ja-Lagers waren ungenügend, den Kampagnen fehlte die Leidenschaft.

Stringente Kampagnen entstehen, wenn auf Basis von Meinungsumfragen und Fokusgruppen die besten Argumente herausgefiltert werden. Diese werden dann während Monaten mit einer überzeugenden Bildsprache vermittelt. Das blieb aus. Vielmehr wurde der Bevölkerung ein buntes Potpourri mit x verschiedenen Argumenten serviert, was zu Irritationen führte. Als der Fokus der Abstimmung schliesslich bei den Kosten angelangt war, war es zu spät. So hatte sich beispielsweise die Mär, dass die Landbevölkerung geschröpft wird, festgesetzt.

Die Kosten:
Die Strippenzieher im Hintergrund glaubten lange Zeit, dass diese austarierte Vorlage problemlos durchkommt. Die Allianz ist breit, die SVP von der Rolle, so glaubten sie. Dabei gab es drei Warnschüsse: In den Kantonen Solothurn, Bern und Aargau wurden in den letzten Jahren die kantonalen Energiegesetze abgelehnt: zweimal äusserst knapp (BE: 50.6%, AG: 50.9% Nein) einmal sehr deutlich (SO: 70.5% Nein). Von diesen Abstimmungsniederlagen hätte man lernen müssen, dass es in der Umsetzung, wenn es um die Kosten geht, eng wird. Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, denn: Energiethemen und Klimaschutz werden vom Volk gleich beurteilt.

Fazit:
Für 51.6 Prozent der Stimmenden* liegt der eigene Geldbeutel näher als ein solides CO2-Gesetz. Die bittere Erkenntnis dieses Abstimmungssonntags kennt die Politikwissenschaft schon lange: Der Ansatz nennt sich «Rational Choice». Allerdings war es eine Niederlage mit Ansage. Das Ja-Lager hat diese Abstimmung am Anfang zu wenig ernst genommen und schliesslich vergeigt. Bedenklich ist, dass damit einmal mehr eine Behördenvorlage scheiterte. Bis der dritte Entwurf eines CO2-Gesetzes vorliegen wird, verstreicht wieder wertvolle Zeit. Industrie und Wirtschaft traue ich zu, die Klimaziele zu erreichen. Beim Verkehr hingegen sieht es düster aus.

 

* Die Differenz Nein/Ja liegt bei 103’114 Stimmen. Die Stimmbeteiligung ist mit 59.7 Prozent sehr hoch.

Nachtrag am Abstimmungssonntag von 16.30 Uhr:
Der hochgeschätzte Politbeobachter Claudio Kuster brachte auf Twitter eben einen siebten Grund ins Spiel: Hätten sich SP, Grüne, Junge GLP und Operation Libero ebenso engagiert für das CO2-Gesetz engagiert, wie gegen das «vergleichweise belanglose» PMT-Gesetz, wäre es anders ausgegangen.

Nachtrag vom 14. Juni 2021:
Das Politologen-Duo LeeWas macht schon seit Jahren Nachabstimmungsbefragungen. Ihr Befund zum CO2-Gesetz kommt überraschend: 58 Prozent der 18- bis 34-Jährigen, zuweilen auch Generation Easyjet genannt, lehnten das Gesetz ab. Der höchste Ja-Anteil wiederum kommt von den Altersgruppe der über 65-Jährigen (mit 54 Prozent). Der komplette Bericht ist hier als PDF verlinkt.

Die Grafik aus den Tamedia-Zeitungen:

So wird der Bundesrat zum Bittsteller

Das nationale Parlament stimmt laufend über Kleinkram ab, das Schweizer Volk tut dasselbe regelmässig. Aber ausgerechnet beim seit Jahren wichtigsten Thema, dem Rahmenabkommen, können weder das Parlament noch das Volk mitreden, und auch die Kantone bleiben aussen vor. Das ist ein Affront.

Der Bundesrat hat gestern entschieden, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Eine Volksabstimmung über das Rahmenabkommen sei nicht zu gewinnen, behauptet ein vielstimmiger Chor seit Jahren. Viele Sänger behaupteten das bereits, als die Verhandlungen noch im Gange waren. Andere wiederum machen seit Langem Stimmung gegen das Rahmenabkommen, ohne sich darum zu kümmern, was in diesem 30 Seiten umfassenden Vertrag steht. Wer es als tauglich bezeichnet, wird als «EU-Turbo» etikettiert. Das Niveau der Debatte: jämmerlich.

Tatsache ist, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Inzwischen existieren rund 140 verschiedene bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Das Rahmenabkommen hätte fünf Verträge und alle künftigen tangiert. Angesichts solcher Zahlen ist es unverfroren, von einem «Unterwerfungsvertrag» zu reden. Die EU und die Schweiz pflegen unterschiedliche Traditionen, wie sie Streitpunkte klären. «Brüssel» tut es juristisch, die Schweiz politisch.

Der Bundesrat hat also den roten Knopf gedrückt. Seit 2008, als die einheitliche Rechtsauslegung erstmals auf Tapet kam, hat er es nicht geschafft, in der Europapolitik eine Strategie zu entwickeln. Stets waren drei oder sogar vier verschiedene Positionen am Bundesratstisch vertreten. Die Landesregierung besteht aus sieben Einzelkämpfern, die Angst vor Abstimmungsniederlagen und der eigenen Abwahl haben. Was klar ist:

1.)  Es gibt keine neuen bilateralen Verträge mehr, die alten setzen Rost an. So bleibt beispielsweise das seit Langem geplante Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

2.)  Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird ungleich schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.

3.)  Das Narrativ «souverän seit 1291» ist in unserem Land weiterhin ungemein stark. Nicht die drei Eidgenossen haben die Neutralität der Schweiz erfunden, sondern der Wiener Kongress 1815. (Ein Schweizer sass damals übrigens nicht am Verhandlungstisch.)

Wichtig wäre jetzt, dass man die europäische Idee wieder in den Vordergrund rückt. (Mit «EU-Turbo» hat das nichts zu tun.) Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich zusammen mit der Wirtschaft und der Forschung zu einer soliden Allianz formieren, könnten eine ernsthafte Debatte anstossen und so eine Deblockierung der Europapolitik erreichen.


Ergänzende Leseempfehlung:

– Das Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier – hier als PDF verlinkt.
Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

– Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)

Die Zeitungsente, die alle aufgeschreckt hat

Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: Seit dem 1. Januar 2020 wurden rund 352’000 Artikel zum Thema «Coronavirus» referenziert. Im Durchschnitt sind das 800 Artikel pro Tag, die in Wellen über uns hinwegrollen. Einige sind von Bedeutung, andere schon Stunden nach ihrer Publikation wieder überholt und vergessen.

Die Story, welche die Tamedia-Zeitungen am Abend des 10. März online und tags darauf in ihren Printausgaben von Winterthur bis Interlaken bringt, ist ein ganz anderes Kaliber. Sie suggeriert, dass es einen schnellen Weg zurück in die Normalität gegeben hätte.

Titel und Lead lassen keine Zweifel aufkommen: Der Bund hat es versemmelt. Gesundheitsminister Alain Berset erkannte im letzten Frühling die Riesenchance nicht, Lonza ein Vakzin aus der Schweiz für die Schweiz produzieren zu lassen. Der eitle, omnipräsente und laut Umfragen beliebteste Bundesrat machte also einen groben Fehler. Skandalös! Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die gut bezahlten Bürokraten, wie sie oft genannt werden, schon lange angeschossen. Von ihnen Agilität und Tempo zu erwarten, liegt ausserhalb des Vorstellbaren. Ein explosiver Plott, der in diesem Artikel angerichtet wird.

Die Story geht durch die Decke, Dutzende von anderen Medien greifen sie auf (hier: der «Blick»), das Thema ist gesetzt.

Im Bundeshaus läuft die zweite Sessionswoche, und die Wogen gehen hoch. Die Politik ist aufgeschreckt und macht Lärm, die Fraktionen wollen sich profilieren. So spricht die FDP Schweiz von einem Donnerschlag und verlangt Klärung, «bei Bedarf durch eine PUK», also einer Parlamentarischen Untersuchungskommission, wie sie im Fall Kopp oder bei der Fichenaffäre zum Zuge kam.

Ein paar Tage später wird klar, dass die Tamedia-Story eine Zeitungsente ist. (Die entscheidenden Artikel befinden sich am Ende dieses Postings.)

Vermutlich hilft ein Vergleich: Nehmen wir an, dass Sie an einem schönen Südhang ein neues Haus bauen wollen. In einem solchen Fall verhandeln Sie nicht mit dem Gipser, der auf der Parzelle nebenan arbeitet. Nein, sie verhandeln mit der Architektin, die das Projekt im Auftrag der Bauherrschaft entwickelt.

Lonza ist in der Rolle des Gipsers. In ihrem Werk in Visp produziert sie den Wirkstoff, also bloss einen Teil des Impfstoffs, und das im Auftrag von Moderna. Die Rechte liegen bei der Biotech-Unternehmung aus den USA, sie entscheidet, an wen der Impfstoff verkauft wird.

Berset und die BAG-Spitze hatten im Frühling 2020 keinen Spielraum, um auf eine eigene Produktionsanlage in Visp hinzuwirken. Das wäre auch sehr riskant gewesen, zumal man damals noch nicht wusste, welche Impfstoffe eingesetzt werden können.

Doch der Schaden in der Öffentlichkeit ist längst angerichtet: Das BAG mit Anne Lévy und Nora Kronig im Brennpunkt wird in Kommentarspalten, Leserbriefen und sozialen Medien an den Pranger gestellt. Im Volk sind die Zweifel am Impfplan noch einmal etwas grösser geworden. Und die FDP forderte tatsächlich auf Basis einer Zeitungsente eine Untersuchung, bei Bedarf eine PUK.

Am 16. bzw. 17. März berichten die Tamedia-Zeitungen erneut prominent über den Fall. Konkret korrigieren sie die Story der Vorwoche, nennen das allerdings «neue Recherchen». Sowohl auf ihren Online-Portalen wie im Print platzieren sie eine «Korrektur» (siehe nebenan). Ein aufmerksamer Twitterer weist darauf hin und bringt so den Stein ins Rollen.

Eine Entschuldigung für die schlampige (oder bewusst perfide) Arbeit sucht man vergebens, auch am Tag danach.

Gestern Morgen mailte ich Chefredaktor Arthur Rutishauser und der Medienstelle von Tamedia fünf Fragen zu diesem Fall.

Ich bitte Sie höflich, folgende Fragen schriftlich zu beantworten.

1.  Nehmen bei aufwändigen Recherchen zu heiklen Themen andere Redaktionsmitglieder einen zweiten Faktencheck vor, bevor der Artikel jeweils publiziert wird? Es geht hier explizit um tagesaktuelle Titel, nicht um die «SonntagsZeitung», und es geht um das grundsätzliche Meccano.

2.  Aus welchen Gründen blieb die Zeitungsente vom 10./11. März zunächst unerkannt?

3.  Ist die Reaktion, die Tamedia am 16./17. März mit der Notiz «Korrektur» platzierte, adäquat?

4.  Wie behandelt die Chefredaktion diesen Fall?

5.  Wie reduzieren Sie in Zukunft das Risiko solch gravierender Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Journalismus und von Tamedia beeinträchtigen?

Gestern Abend ging Arthur Rutishausers Antwort via Medienstelle ein. Er beantwortet meine Fragen summarisch.

«Wir haben den ursprünglichen Artikel transparent korrigiert und aufgezeigt, was wir darüber wissen wie der Sachverhalt war. Alle involvierten Stellen wurden immer mit allen Sachverhalten konfrontiert und haben teilweise auch Stellung genommen. Offen bleibt, warum in der Schweiz scheiterte, was in den USA funktionierte – und dem gehen wir weiter nach.»

Rutishauser erkennt also keine Fehler seitens der Tamedia-Redaktion, ein schlichtes Pardon bleibt aus.

Die Tamedia-Zeitungsente hat bislang erst «Persönlich», das Portal der Kommunikationsbranche, aufgegriffen. Medienkritik hat es schwer in diesem Land – weil es keine Fehlerkultur gibt. Aber auch heute werden die Wellen wieder 800 neue Artikel zum Thema Coronavirus heranspülen.

*****
Nachfolgend die beiden Artikel der Tamedia-Zeitungen als PDF. Die Namen der beteiligten Medienschaffenden sind eingeschwärzt:

Bund wollte keine eigene Impfstoffproduktion
(11. März 2021)

Warum die Gespräche zwischen Berset und Lonza im Sand verliefen
(17. März 2021)

Von Anfang an einen soliden Job machte die NZZ mit ihrer Einordung:
Der Bund taugt nicht zum Impfstoff-Hersteller
(13. März 2021)

Die SP und ihr Stapi-Trauma

Niederlagen bei Wahlen sind schmerzhaft. Es kommt vor, dass die Wunden auch Jahre später immer wieder aufplatzen. Exemplarisch ist der Fall der Stadtberner SP, der im Januar 2017 das Stadtpräsidium nach 24 Jahren entrissen worden war. Statt Ursula Wyss wurde damals Alec von Graffenried von der kleinen Grünen Freien Liste (GFL) gewählt.

Seither wabern immer wieder Gerüchte und Verschwörungstheorien durch die Lauben. Einige SP-Mitglieder zürnen der Zeitung «Der Bund», weil diese mit Kampagnenjournalismus die Nichtwahl von Wyss herbeigeschrieben habe, so der Vorwurf.

Letzte Woche goss der ehemalige «Bund»-Redaktor Basil Weingartner Öl ins Feuer. Auf seinem persönlichen Twitter-Konto veröffentlichte er einen elfteiligen Thread, in dem er «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz als Strippenzieher der von-Graffenried-Kampagne darstellt. Beweise kann er keine liefern, aber ein Teil der SP-Community teilte und kommentierte seine Tweets eifrig.

Feuz nennt die Vorwürfe Weingartners auf Anfrage «happig und haarsträubend». Und er dementiert: «Es gab vor den Wahlen 2016 ein einziges Treffen mit von Graffenried. Als wir das Gerücht seiner allfälligen Kandidatur vernahmen, haben wir ihn zu einem Gespräch eingeladen, um herauszufinden, ob etwas daran ist. Das Gespräch hatte nichts Klandestines, es fand in meinem Glasbüro statt, für die ganze Redaktion sichtbar – also kein schummriges Hinterzimmer-Treffen.»

Es steht Aussage gegen Aussage. Was stimmt, weiss ich nicht. Was ich weiss: Weingartners Abgang beim «Bund» im Frühling 2018 geschah nicht ganz in Minne, wie er selber bestätigt. Er vertrete im Übrigen eine andere politische Linie als Chefredaktor Feuz, fühle sich aber weder der SP noch der GFL nahe. Sein Twitter-Thread, der sich stellenweise liest wie ein Krimi, sei kein Nachtreten, erklärt er auf Nachfrage. «Ich tat es aus Pflichtgefühl.»

Viele politisch Interessierte haben ihre eigene Wahrheit zu diesem Fall. Auffallend ist die Wut, die dem «Bund» von einzelnen SP-Mitgliedern noch heute entgegenbrandet. Er sei ein «Drecksblatt», ereifern sie sich. Andere haben das Abo abbestellt. Für sie ist die Nicht-Wahl von Wyss mehr als eine Kränkung. Sie ist ein Trauma.

Richten wir unseren Fokus auf die zentralen Punkte, um den Fall einzuordnen:

Hat eine Zeitung so viel Macht, um jemanden in ein politisches Amt zu hieven?
Mich übermannen heftige Zweifel, zumal die Forschung dafür keine Nachweise liefert. Medien können Themen setzen, klar, und sie haben Deutungsmacht. Aber ihr Einfluss auf den Wahlausgang ist zu bescheiden, weil die Schweizerinnen und Schweizer schlicht sehr unabhängig sind und ihre Entscheidung auf Basis vieler Faktoren fällen.

Vorwurf 1: Der «Bund» hat 2016 eine Kampagne gegen Ursula Wyss gefahren.
Im Stadtberner Wahljahr 2016 las ich vermutlich alle Artikel, die der «Bund» und die «Berner Zeitung» darüber publizierten, und muss diesen Vorwurf zurückweisen. Natürlich fiel mir auf, dass der «Bund» im Rahmen des Tolerierbaren von Graffenried als Stadtpräsidenten favorisierte, währenddessen die BZ Wyss als geeigneter einstufte. Diese Erkenntnis ist nicht trivial, weil beide Zeitungen ungefähr dieselbe Reichweite in der Bundesstadt haben. Die Empörten im SP-Lager blenden den Support der BZ kategorisch aus.

Vorwurf 2: Der «Bund» betreibt seit Jahren eine Anti-SP-Kampagne.
Diese Kritik fällt regelmässig im Gespräch mit SP-Leuten und auf Social Media. Exemplarisch das Facebook-Posting von David Stampfli, Grossrat und Parteisekretär der Kantonalpartei. Er unterstellte der Zeitung am 28. September sogar, die Resultate der jüngsten Bieler Wahlen absichtlich verdreht zu haben, was jemand trocken mit «Paranoia» kommentierte.

Natürlich: Medien unterlaufen inzwischen zu viele Fehler, nicht nur wegen knappen Ressourcen und hohem Produktionsdruck. Sie treiben immer mal wieder eine Sau durchs Dorf, lancieren Kampagnen, wie zum Beispiel gegen den Genfer Staatsrat Pierre Maudet oder die Zugerin Jolanda Spiess-Hegglin. Manchmal bringen die Recherchen und Enthüllungen die Wahrheit an den Tag, manchmal führen sie zu grossen Verletzungen.

Medien haben den Auftrag, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Auf nationaler Ebene ist die SVP seit 1999 die wählerstärkste Partei; sie steht unter Dauerbeobachtung und Dauerkritik der Medien.

In der Stadt Bern ist die SP seit Jahrzehnten eine 30-Prozent-Partei und damit mit Abstand die stärkste Kraft. Ihr Wirken wird genauer beobachtet als dasjenige der Kleinparteien. Wenn «Bund»-Chefredaktor Feuz in einem Leitartikel schreibt, die städtische SP sei «selbstherrlich» geworden, jaulen viele Parteimitglieder auf. Womöglich wünschen sie sich die Neunzigerjahre zurück, als der «Bund» das Bündnis von Rot-Grün-Mitte (RGM) und damit die SP wohlwollend, wenn nicht sogar unkritisch begleitet hatte.

Ich finde den Kampagnen-Vorwurf seitens der SP dünnhäutig und billig – Hofberichterstattung oder eine Wiederbelebung der drögen Parteizeitungen sind keine Optionen! Sollte die SP bei den Gemeinderatswahlen am 29. November einen ihrer beiden Gemeinderatssitze verlieren, wäre der Sündenbock schnell gefunden: Klar, der «Bund» ist schuld. Das würde in das bequeme Narrativ passen, das seit Jahren gepflegt wird.

Schliesslich ein Blick auf nüchterne Zahlen: Die SP erreichte bei der Machtübernahme von RGM am 6. Dezember 1992 einen Wähleranteil von 27,4 Prozent, 2004 waren es 29,1 Prozent, 2016 schliesslich 28,7 Prozent. Wenn der «Bund» tatsächlich versucht haben sollte, die SP nieder zu schreiben, war er dabei hochgradig erfolglos. So viel zur «Macht» einer Zeitung.

Weshalb verlor die SP bei den letzten Wahlen das Stadtpräsidium?
Wie ich hier im Januar 2017 analysierte, hatte Wyss’ Kandidatur ausserhalb der eigenen «Bubble» vielerorts Abwehrreflexe ausgelöst. Entscheidender war aber ein anderer Punkt: 1992, 1996, 2000, 2004, 2008 und 2012 brachte die SP ihre Stapi-Kandidatur stets problemlos durch, weil das RGM-Bündnis sich immer darauf geeinigt hatte, nur eine Kandidatur zuzulassen – diejenige des Platzhirschs.

Es ist legitim, wenn die klar stärkste Partei das Stadtpräsidium für sich reklamiert. Doch 2016 liess sich die SP-Spitze von den beiden grünen Bündnispartnerinnen austricksen.

Der Mastermind, der 2015/2016 im Hintergrund für GFL-Mann von Graffenried die Fäden zog, heisst Blaise Kropf (Bild) und ist Mitglied beim Grünen Bündnis (GB). Er hatte frühzeitig erkannt, wie man Kronfavoritin Ursula Wyss abfangen kann. Während andere noch GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy oder den weitherum geschätzten Unternehmer Peter Stämpfli beknieten, bereitete er das Terrain vor. Die Kampfkandidatur durfte nicht bürgerlich sein, sondern musste aus dem RGM-Block stammen. Alec von Graffenried, hervorragend vernetzt, jovial und politisch sehr weich gezeichnet, war die ideale Figur für dieses Unterfangen.

Damit sind wir bei Franziska Teuscher (GB) angelangt, die unwissentlich eine Schlüsselrolle spielte. Sie warf den Hut als Zweite in den Ring, obwohl sie gar nicht Stadtpräsidentin werden wollten, sondern damit die Chancen für ihre Wiederwahl als Gemeinderätin optimierte. Wegen ihrem Vorpreschen wurde der Weg für von Graffenried frei: Wenn das RGM-Bündnis zwei Stapi-Kandidaturen erlaubt, kann es einen Dritten kaum mehr verhindern, zumal GFL und GB praktisch gleich stark sind.

Kropfs Strategie ging also auf. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ausgerechnet ein Mitglied des GB – der Frauenpartei! – erarbeitete den Masterplan, um die erste Stadtpräsidentin Berns zu verhindern!

Am Verhandlungstisch pokerte die GFL-Spitze hoch und riskierte sogar das definitive Zerbrechen des RGM-Blocks. Nachdem die 10-Prozent-Partei seit dem Jahr 2000 stets nur Wasserträgerin gewesen war, gewann sie zum ersten Mal.

Abschliessend eine Handlungsempfehlung für SP-Mitglieder, die Legendenbildung betreiben und «Dreckszeitung» sagen:

1.  Durchatmen, Sportsgeist zeigen und die Fakten zur Kenntnis nehmen: von Graffenried ist nicht das «Werkzeug» der Bürgerlichen, sondern ein blasser Grüner, der von einem brillanten Strategen lanciert worden war. So holte er bei den Gemeinderatswahlen auf den RGM-Listen nur 554 Stimmen weniger als Wyss, aber 1166 mehr als Michael Aebersold (SP). Bei den Stapi-Wahlen distanzierte von Graffenried Wyss schon im ersten Wahlgang um rund 1400 Stimmen, im zweiten Wahlgang baute er seinen Vorsprung auf fast 6500 Stimmen aus.

2.  Eine Medienanalyse würde der SP helfen – entweder vom Wahljahr 2016 oder dem aktuellen -, um ihr Traum zu überwinden. Einzelne Institute an Universitäten und Fachhochschulen haben Erfahrung damit. So läge schliesslich eine Studie vor, die aufzeigt, ob der «Bund» tatsächlich einen «Bias» hat.

3.  Sie sollten sich ein Beispiel an Ursula Wyss nehmen. Diese steckte ihre Niederlage weg, wandte sich ihren Dossiers zu und machte das, was man in einer Exekutive tun sollte: mit einem klaren Kompass und durchsetzungsstark gestalten. Was sie erreicht hat, ist beeindruckend. Sie liefert, während die Dauerempörten in ihrer Partei immer wieder am «Liire» sind.

Mark Balsiger


Transparenz:

– Meine Firma hat in den letzten zehn Jahren keine Mandate von Stadtberner Parteien und von Einzelpersonen innegehabt, die in diesem Posting genannt werden.
– Als Tamedia Ende 2008 den Plan schmiedete, den «Bund» und die «Berner Zeitung» zu fusionieren, initiierte ich das Komitee «Rettet den Bund». Das führte 2008/2009 für mein kleines Team zu 1200 Stunden Fronarbeit.
– Bei den Stapi-Wahlen 2016/17 schrieb ich im ersten Wahlgang den Namen von Graffenried auf meinen Zettel, beim zweiten denjenigen von Wyss.

Gewaltenteilung ist ein Grundpfeiler der Demokratie

Es ist ja nicht so, dass 1848 die Demokratie vom Himmel gefallen wäre und von Anfang an reibungslos funktionierte. Vielmehr mussten kluge Köpfe damals Grundrechte und Gewaltenteilung erkämpfen, die erste Bundesverfassung war ein Wurf.

Die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats sollten aber immer wieder überprüft, neu verhandelt und ergänzt werden. Ein paar Meilensteine:

– die Einführung des fakultativen Referendums (1874);
– die Religionsfreiheit (1874);
– die Einführung der Volksinitiative (1891);
– das Proporzwahlrecht bei Nationalratswahlen (1918);
– die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache (1938);
– die Schaffung des Kantons Jura (1979);
– der Beitritt zu den Vereinten Nationen (UNO; 2002).

Starke Minderheiten wurden schrittweise in den zunächst rein freisinnig-liberal dominierten Bundesrat integriert: 1891 die Katholisch-Konservativen (die heutige CVP), 1929 die Bauern-, Gewerbe und -Bürgerpartei (BGB; die heute SVP), 1942 schliesslich die SP.

All das waren weise Entscheidungen, die das politische System der Schweiz ausgesprochen stabil mach(t)en und dem Volk zugleich viel Verantwortung überträgt. Ebenso wichtig sind der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung.

Morgen will die SVP-Fraktion im Bundeshaus einem ihrer zwölf Bundesrichter die Wiederwahl verwehren. Das ist ein Versuch, die eigenen Leute ans Gängelband zu nehmen. Diese sollen politisch entscheiden, findet die SVP, obwohl die Bundesverfassung festhält, dass die Richterinnen und Richter unabhängig sein müssen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, und wir müssen resolut dagegenhalten!

Zwei Dinge sollten allerdings in den nächsten Monaten neu verhandelt werden:

– Es ist problematisch, dass die Bundesrichterinnen und -richter ihren Parteien jedes Jahr happige Abgaben entrichten müssen. Solche Mandatsabgaben – zwischen 5 und 15 Prozent des Lohns – gibt es in keinem anderen europäischen Land.

– Die Mitglieder des Bundesgerichts müssen alle sechs Jahre wiedergewählt werden. Damit sind sie abhängig von ihren Parteien, wie das aktuelle Beispiel zeigt. In Deutschland werden die Richterinnen und Richter auf Lebzeiten gewählt.

Die Justizinitiative, die u.a. diese beiden Bereiche aufgreift, gibt uns Gelegenheit, Pro und Contra abzuwägen.

Über diese und andere Punkte diskutierte ich gestern in der Sendung «TalkTäglich» der «CH-Media»-Regionalsender von St. Gallen bis Bern – zusammen mit Alt-Nationalrat Christoph Mörgeli.

«Marco Chiesa hat ein Winner-Image»

Seit vielen Monaten ist die SVP Schweiz auf der Suche nach einem neuen Präsidenten oder einer Präsidentin. Die Ankündigung des bisherigen Amtshabers Albert Rösti hat die Partei offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Die Suche verläuft schleppend, die allermeisten Angefragten winkten ab.

Übrig blieben schliesslich die beiden Nationalräte Andreas Glarner (AG) und Fredi Heer (ZH). Bis gestern Abend, als die Findungskommission einen neuen Namen präsentierte: Marco Chiesa. Der Tessiner ist seit 2015 in Bundesbern, zuerst als Nationalrat, im letzten Herbst wurde er in den Ständerat gewählt. Er wird der Delegiertenversammlung vom 22. August vorgeschlagen. «20-Minuten»-Redaktor Claudius Seemann stellte mir zu Chiesa ein paar Fragen. Nachfolgend wird dieses Interview integral übernommen.

Herr Balsiger, der Tessiner Ständerat Marco Chiesa soll auf SVP-Chef Albert Rösti folgen. Hätten Sie mit Chiesa als Favorit gerechnet?

Mark Balsiger: Aus Deutschschweizer Sicht ist die Nomination überraschend – vor allem, weil Chiesa bisher kein bekannter Kopf in der Partei war. Auch ist er bei einem zentralen Geschäft noch nicht als Schlüsselfigur der SVP-Fraktion in Erscheinung getreten. Ich sehe die Nomination aber vor allem als Misstrauensvotum gegenüber Alfred Heer und Andreas Glarner.

Warum?

Die Kandidaturen von Heer und Glarner sind parteiintern nicht auf überbordende Begeisterung gestossen. Die Findungskommission hat deshalb einige andere Exponenten vermutlich sogar mehrfach angefragt. Doch die Wunschkandidaten haben alle abgesagt. Nun schlägt sie Chiesa vor, obwohl er eine Kandidatur im Februar noch abgelehnt hatte.

Marco Chiesa ist den meisten Deutschschweizern kaum ein Begriff. Warum hat die SVP an ihm den Narren gefressen?

Chiesa hat dank der Wahlen im letzten Herbst das Image eines Winners: So wurde er überraschend zum Tessiner Ständerat gewählt und hat CVP-Urgestein Filippo Lombardi verdrängt. Das war auch insofern überraschend, weil das rechte politische Spektrum im Tessin seit bald 40 Jahren von der Lega geprägt wird –die SVP ist eine Kleinpartei mit einem Wähleranteil zwischen fünf und zehn Prozentpunkten. Mit Chiesa hat die SVP zudem einen Kandidaten, der dreisprachig ist.

Hat die SVP mehr als andere Parteien einen Winnertyp nötig?

Albert Rösti ist ein kluger Kopf und «gmögig», aber als Parteipräsident startete er nicht durch. An der SVP-Basis sehnt man sich nach einem neuen Toni Brunner, der den harten Hund markiert, wenn es drauf ankommt, sonst aber gerne das «Chalb» macht. Die SVP hat eine klare Hierarchie, die Basis ist disziplinierter als bei anderen Parteien – deshalb ist die Rolle des Präsidenten wichtiger als anderswo.

Marco Chiesa gilt als Hardliner, fiel aber bisher nicht gross auf. Wird er den Schalter als Parteipräsident plötzlich kippen?

Was ich von ihm bisher wahrgenommen habe, ist, dass er weitgehend linientreu politisiert und eine umgängliche Art hat. Er scheint mir nicht eine Person zu sein, die verbal draufhaut. Doch das könnte sich ändern, wenn er an der Parteispitze steht und Verantwortung übernehmen muss. Schliesslich muss er seine Basis bei Laune halten, die Partei will wieder zulegen.

Welche Rolle spielt seine Tessiner Herkunft für die Partei?

Die Herkunft des Parteipräsidenten kann durchaus einen Einfluss haben. Mit einer Tessiner Kandidatur erhofft sich die SVP sicher auch, in der lateinischen Schweiz zuzulegen. Auf diese Karte setzte man bereits 2015 nach der Wahl von Guy Parmelin in den Bundesrat. Doch damals blieb ein Effekt aus.

Was kommt jetzt auf Chiesa zu?

Für ihn gilt es nun, die Basis in den Kantonen zu besuchen und von sich zu überzeugen. Chiesa ist mit seinen 45 Jahren auch noch jung und muss nicht nur an Bekanntheit, sondern auch an Statur und Präsenz gewinnen. Das ist ein Knochenjob. Denn die graue Eminenz der Partei – also Christoph Blocher – muss auch von ihm überzeugt sein. Welche Verbindungen Chiesa zu Herrliberg hat, kann ich nicht beurteilen.

Die SVP hat bei den letzten Wahlen Wählerprozente verloren, was ein Rücktrittsgrund von Albert Rösti war. Kann Chiesa die SVP wieder auf Kurs bringen?

Der Erfolg einer Partei lässt sich nicht nur am Präsidenten festmachen. Natürlich braucht es eine Führungsfigur, und diese wünscht man sich gerade bei der SVP. Doch der Erfolg einer Partei hängt auch davon ab, welche Themen die Leute gerade beschäftigen: Die Hauptthemen der SVP – Ausländer, Asyl und Migration – sind in den letzten Jahren jedoch in den Hintergrund gerückt.

Wermuth will an die Macht

Cédric Wermuth hat einen Plan – für die SP, die Gesellschaft und sich selber. Der Aargauer Nationalrat ist ein gerissener Stratege, dossiersicher, selbstbewusst, zuweilen arrogant und rhetorisch beschlagen. Nicht viele Politiker in Bundesbern können dem 33-Jährigen das Wasser reichen. Das wissen viele SP-Mitglieder, gute Beobachter und er selber.

Seit Jahren liegt in der Luft, dass Wermuth Parteipräsident der SP Schweiz werden will. Allerdings gilt als ausgemacht, dass nach der 12-jährigen Ära Levrat eine Frau folgen sollte. Der Vorschlag, der gestern Abend mit wohlwollender Unterstützung der «Wochenzeitung» lanciert wurde, ist ein Co-Präsidium: Wermuth zusammen mit der Zürcher Nationalrätin Mattea Meyer. Beide kennen sich schon lange: Meyer war früher seine Assistentin, ihr Lebenspartner Marco Kistler wiederum der Mastermind der 1:12-Initiative und von Wermuths Ständeratskampagne.

Auf Twitter schrieb ich, dass schon seit Jahren die verdeckte «Operation Occupy SP» durch ehemalige Juso im Gang sei – eine Provokation. Natürlich sind viele Mitglieder der Bundeshausfraktion ehemalige Juso; das hat Tradition. Auffällig ist hingegen, wie homogen sie sich diese präsentiert. Laut der Verortung von Smartvote besteht der sozialliberale Flügel noch aus einer Person: Ständerat Daniel Jositsch (ZH). Die wenigen anderen Vertreter verabschiedeten sich inzwischen von der Politik (Pascale Bruderer, AG) oder wechselten zu den Grünliberalen (Chantal Galladé, Daniel Frei, beide ZH).

Grautöne gibt es keine, Feindrhetorik aber zuhauf

Die inhaltliche Homogenität der SP-Fraktion ist ein zentraler Punkt, der andere ist die Rhetorik der Leute, die je länger, desto mehr den Ton angeben. Im Auftritt sind Wermuth, Meyer, Fabian Molina (ZH), Samira Marti (BL), Tamara Funiciello (BE) & Co. gleich: kompromisslos und fundamentalistisch. Für sie gibt es nur Schwarz oder Weiss, richtig oder falsch. Die Grautöne, die die Schweizer Politik seit vielen Jahrzehnten prägen, halten sie für überholt. Sie wollen Staat und Gesellschaft umbauen.

Die neuen Wortführerinnen und Wortführer sind ideologisch beinhart. Sie zweifeln nie an ihren Überzeugungen, vielmehr stehen die anderen im Schilf oder sind zu dumm. Man ist entweder auf der richtigen Seite oder ein Feind. Dass politische Projekte nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen des Absenders scheitern können, scheinen sie ausgeblendet zu haben.

Der Plan «Präsidium» wird im April nächsten Jahres verwirklicht: Ich zweifle keinen Moment daran, dass Wermuth am Parteitag gewählt wird. Die Sache ist von langer Hand geplant, er kann auf das Payback seiner jahrelangen Basisarbeit zählen. Einen anderen Plan setzte Wermuth am 20. Oktober in den Sand: seine eigene Ständeratskandidatur. Er hatte sich Chancen ausgerechnet, den farblosen SVP-Konkurrenten Hansjörg Knecht abzufangen. Das wollen wir näher betrachten.

Frauen predigen, selber kandidieren

Zunächst setzte Wermuth sich parteiintern gegen Nationalrätin Yvonne Feri durch, die vermutlich bessere Chancen gehabt hätte, weil sie im Gegensatz zu Wermuth nicht polarisiert. Doch das Thema Frauenförderung pausierte gerade, was das Alphatier mit einer kommunikativen Meisterleistung zu kaschieren vermochte. Einzig der junge Journalist Hannes von Wyl schaffte es, «Feminist Wermuth» zu überführen.

Die Maschinerie kam nach der Nomination erst recht auf Touren: Wermuth stellte zwei Profi-Campaigner an, baute ein Netzwerk mit mehr als 5000 Supportern auf (mehrheitlich ausserhalb der SP-Strukturen), investierte nach eigenen Angaben mehr als 300‘000 Franken, akzentuierte sein linkes Profil und lieferte den professionellsten Wahlkampf des Jahres 2019. Die Aargauerinnen und Aargauer belohnten das nicht: Wermuth erreichte 29 Prozent und lag damit weit hinter Thierry Burkart (FDP, 43%) und Knecht (SVP, 38%). Das Resultat ist schlecht und muss eine herbe Enttäuschung sein für ihn, obwohl er öffentlich das Gegenteil sagte.

Mit diesen 29 Prozent holte Wermuth gerade einmal das linke Lager ab. Zwei Tage später gab er forfait, verkaufte das aber als Frauenförderung – eine weitere kommunikative Meisterleistung.

Er fürchtete das Verlierer-Image

In den zweiten Wahlgang wurde die grüne Grossrätin Ruth Müri geschickt, während sich SP und Grüne auf die gemeinsame Regierungsratskandidatur von Yvonne Feri verständigten. (Es fand zum selben Zeitpunkt eine Ersatzwahl statt, Feri scheiterte knapp.) Dass Wermuth seine chancenlose Kandidatur zurückzog, weil er das «Verlierer»-Image fürchtete, ist die unbequeme Wahrheit.

Wie man als SP-Mitglied im stockbürgerlichen Aargau den Sprung in den Ständerat schafft, zeigte Pascale Bruderer vor acht Jahren. Die Realpolitik mitgestalten (wie Bruderer es tat) versus 100-prozentige Linientreue, das ist eine Frage, welche die hiesige Sozialdemokratie umtreibt.

Für die neuen Leader, so scheint es, ist die reine Lehre wichtiger. Sie jubeln Bernie Sanders und Jeremy Corbyn zu, zwei alten weissen Männern – pardon, aber der musste sein! Beide konnten in den letzten Jahren die Positionen ihrer Parteien verschieben. Indessen haben sie keine Chance, US-Präsident bzw. Premierminister in Grossbritannien zu werden. So stürzte Corbyns Labour-Partei, die u.a. mit einem Verstaatlichungsprogramm punkten wollte, jüngst mit einem Minus von  7.8 Prozentpunkten ab.

Zurück zur SP. Sie ist eine Volkspartei und vereint die 22-jährige Ethnologiestudentin in Genf und den pensionierten Eisenbahner in Erstfeld, die selbständige Treuhänderin in Muttenz und den Heilpädagogen im Toggenburg. Wie die Basis auf die inhaltliche Neupositionierung (à la Corbyn?) und die kompromisslose Rhetorik reagieren wird, ist offen.

Mit 16.8 Prozentpunkten hat die SP im Herbst das schlechteste Resultat in ihrer Geschichte erzielt. Die nächste Bilanz wird am 22. Oktober 2023 gezogen.

 

Weitere Einschätzungen und Interviews:

Cédric Wermuth, ein Geschenk für die Grünen (21. Dezember)
Blick, Christian Dorer

Der Parteipräsident*in (22. Dezember)
SonntagsBlick, Frank A. Meyer

– Interview mit dem neuen SP-Nationalrat Jon Pult (23. Dezember)
Republik, Dennis Bühler

Das Interview mit Mattea Meyer (Abo, 7. Januar 2020)
Tamedia, Raphaela Birrer, Markus Häfliger

Im Bundesrat ist jetzt Leadership gefragt

Der Coup der Grünen blieb aus: Damit sind die Bundesratswahlen genauso ausgegangen, wie es fast alle Journalistinnen und Auguren prognostiziert hatten. Es muss mehr Zeit verstreichen, bis eine aufstrebende politische Kraft in die Landesregierung integriert wird, obwohl sie «Anspruch» auf einen oder sogar zwei Sitze hätte. Das zeigt ein Blick in die Vergangenheit:

– Katholisch-Konservative, die heutige CVP: 1891;
– BGB, dir Vorläuferpartei der SVP: 1929;
– SP: 1943;
– SVP: 2003 bzw. 2015.

Die FDP und ihr Bundesrat Ignazio Cassis, dem der Angriff von Regula Rytz galt, sind erleichtert. Das dürfte insgeheim auch für die Grünen und ihre gescheiterte Kandidatin gelten. Sie wollten nicht mit letzter Konsequenz in die Landesregierung. Vor allem aber wissen sie, dass sie als Oppositionskraft mehr Druck aufbauen können – inhaltlich und elektoral. Viele Mitglieder verstehen die Grünen immer noch eher als Bewegung denn als Partei.

Es ist gut möglich, dass die Grünen in den nächsten Jahren bei kantonalen Wahlen weiter zulegen werden und, kraft ihrer neuen Stärke, in Bundesbern selbstbewusster auftreten. Tun sie es mit Cleverness, bleiben sie auf dem Radar der Medien und bleiben für einen Teil des Elektorats attraktiv.

Was geschieht bei der nächsten Vakanz, vorab wenn Ueli Maurer, immerhin seit elf Jahren im Amt, seinen Rücktritt ankündigt? Die Grünen werden wieder eine Kampfkandidatur lancieren. Dieser Zweikampf würde eine pikante Note erhalten, wenn die SVP-Kandidatin Magdalena Marullo-Blocher heissen sollte. Und was geschieht im Dezember 2023, wenn die Grünen immer noch unter den vier wählerstärksten Parteien figurieren?

Klar ist nur etwas: Die Zauberformel wurde heute Morgen geopfert, das Machtkartell hat sich problemlos durchgesetzt. Dass die Verteilung der Bundesratssitze ein Anachronismus ist und angepasst werden sollte, forderte ich vor ein paar Tagen in einem anderen Blog-Posting.

Der alte Bundesrat ist also zugleich der neue, hat allerdings ein paar alte Probleme zu lösen. Benennen wir nur eines: das Thema Europa. Seit Jahren schafft es der Bundesrat nicht, sich zusammenzuraufen. Das Rahmenabkommen liegt auf dem Tisch, aber die Landesväter und -mütter sind verzagt. Stattdessen wursteln sie sich irgendwie durch, Didier Burkhalter war irgendeinmal am Ende seiner Kräfte und warf den Bettel hin. Ignazio Cassis, sein Nachfolger, wollte den «Reset-Knopf» drücken, erwies sich dabei aber als Kommunikator, dem Klarheit und Finesse abgehen. EU-Unterhändler Roberto Balzaretti schliesslich ist inzwischen «verbrannt», wie das Diplomaten nennen. Es macht keinen Sinn, ihn weiterhin für Verhandlungen nach Brüssel zu schicken.

Kurz und schlecht: Es fehlte in diesem Bundesrat bislang an Leadership. Just das wurde auch im jüngsten Sorgenbarometer der CS bemängelt. Demnach sehen 77 Prozent der Befragten «die sinkende Fähigkeit der Politik, für tragfähige Lösungen zu sorgen» als die grösste Gefahr für die Schweizer Identität. Es folgen die Problemen mit der EU (62 Prozent) und der Reformstau generell (61 Prozent).

Plädoyer für eine neue Zauberformel

Im Vorfeld von Bundesratswahlen beginnt ein Satz immer gleich: «Wir haben Anspruch auf…» Er fällt seit 1999 mit penetranter Häufigkeit. Die Bundesverfassung hingegen hält nur fest, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sein sollten.

Den Anspruch auf Bundesratssitze begründen Politikerinnen und Politiker rechnerisch auf unterschiedlichste Weise, beispielsweise abgestützt auf die

– aktuelle Parteistärke in Prozentpunkten;
– Anzahl Sitze im National- und Ständerat;
– Stärke der Lager Rechts/Mitte/Links.

Je nach Konstellation wird auch die Zauberformel ins Feld geführt. Demnach erhalten die drei wählerstärksten Parteien je zwei Sitze in der Landesregierung, die vierstärkste schliesslich noch einen Sitz. Diese Formel hat seit 1959 Gültigkeit, wurde allerdings in der Phase von 1999 bis 2003 sowie während der Wirren um Eveline Widmer-Schlumpf zwischen 2008 und 2015 unterlaufen (Parteiausschluss, danach Übertritt zur BDP, Samuel Schmid folgte).

Offen gestanden ermüdet mich die «Wir-haben-Anspruch»-Diskussion schon lange. Wie die Mitglieder der Landesregierung gewählt werden, ist ohnehin ein Anachronismus: Die wichtigsten Kriterien sind Parteibuch, Konstellation und (sprach-)regionale Herkunft.

Tabelle: NZZ am Sonntag

Würde das Parlament am kommenden Mittwoch der Zauberformel treu bleiben, müsste die CVP den Sitz von Viola Amherd räumen und der Kandidatin der Grünen, Regula Rytz, überlassen (siehe Tabelle oben). Das wollen allerdings auch die Grünen nicht, zumal Amherd im VBS einen guten Start hinlegte. Der Angriff gilt vielmehr FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Doch damit stürzen sie einige Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung ins Dilemma: Grün oder Tessin – das ist die Gretchenfrage.

Dass Rytz’ Angriff auflaufen wird, thematisierte ich schon in zwei früheren Postings, am 6. September und dann am 21. November.

Wichtig wäre, dass in Zukunft ein Verteilschlüssel zur Anwendung kommt, der den Willen der Wählerinnen und Wähler besser abbildet. In der aktuellen Zusammensetzung, 2 SVP, 2 FDP, 2 SP und 1 CVP, werden noch 69 Prozent des Wahlvolks repräsentiert; der Stuhl hat nicht mehr vier solide Beine und verliert deshalb an Stabilität (Bild). Ein solcher Wert ist für Schweizer Verhältnisse tief, früher hatte er sich bei etwa 80 Prozent eingependelt (Ausnahme 1991 – 1995).

Die SVP wuchs gemäss einer Hypothese auch deswegen so robust, weil man ihr die Doppelvertretung im Bundesrat mehrmals verweigerte. Es ist möglich, dass nun auch die Grünen von ihrer Quasi-Oppositionsrolle profitieren können und 2023 nochmals zulegen.

Was geschieht dann? Räumt die CVP ihren einzigen Sitz, so sie wiederum als fünfstärkste Partei ins Ziel kommt? Oder gibt die FDP bzw. die SP freiwillig einen Sitz ab?

Vergessen Sie es! In der Politik geht es um Macht, und ein Sitz im Bundesrat bedeutet viel Macht. Ohne eine klare gesetzliche Regelung wird das Machtkartell der vier Bundesratsparteien ihre Sitze immer wieder zu verteidigen wissen.

CVP-Präsident Gerhard Pfister machte in der «Schweiz am Wochenende» einen kreativen Vorschlag: Die Amtsdauer der Bundesrätinnen und Bundesräte soll auf acht Jahre beschränkt werden. Die Amtszeit aller Bundesräte seit 1848 beträgt im Durchschnitt zehn Jahre, seit dem Zweiten Weltkrieg sind es elf Jahre. Das Amt laugt aus, die Belastung ist enorm, viele Bundesräte haben es nicht geschafft, ihre Rücktritt auf einem Höhepunkt anzukündigen.

Es gäbe nichts mehr zu dealen und zu powern

Klar, Amtszeitbeschränkungen sind ein Eingriff in die Freiheit und deshalb nicht populär. Dennoch sollte man über diesen Vorschlag diskutieren und prüfen, egal ob er acht, zehn oder zwölf Jahre beinhaltet: Starke Figuren, die in der Landesregierung schnell Fuss fassen, können weiterhin einiges bewirken. Zugleich wissen sie stets, dass sie nach einer fix definierten Anzahl Jahre wieder abtreten werden. So könnten sie während dieser Zeitspanne ihre Energie gezielt freisetzen.

Eine Amtszeitbeschränkung würde im Weiteren die taktischen Spielchen um die Nachfolge reduzieren, politische Karrieren wären plan- und berechenbar.

Der zweite Teil der Regelung umfasst eine Formel für die Verteilung der sieben Bundesratssitze. Eine Partei, die in beiden Kammern 35 Sitze holt, hat einen Bundesratssitz auf sicher. Die «Restmandate» gehen an die Parteien mit dem grössten Überhang.

Im aktuellen Fall präsentierte sich die Sitzverteilung wie folgt: Die SVP könnte zwei Bundesratssitze beanspruchen (mit 59 Mandaten im Parlament), währenddessen SP (48), FDP (41), CVP (38), Grüne (33) und Grünliberale (16) je einen Sitz erhielten.

Mit einer solchen Formel wären die Spekulationen und Winkelzüge im Vorfeld von Bundesratswahlen obsolet, das Machtkartell würde zerbrechen. Es gäbe schlicht nichts mehr zu dealen und zu powern! Die Sitzverteilung muss demokratisch wieder besser legitimiert werden. Gute Köpfe im Parlament haben es in der Hand, eine Reform zu erarbeiten, die in vier, spätestens aber in acht Jahren erstmals zur Anwendung kommt.

Man solle «mehr Demokratie wagen», sagte Willy Brandt einmal. Das Schweizer Volk hat Anspruch (ha!) darauf, dass seine Präferenzen sich in der Zusammensetzung der Landesregierung widerspiegeln.