Niederlagen bei Wahlen sind schmerzhaft. Es kommt vor, dass die Wunden auch Jahre später immer wieder aufplatzen. Exemplarisch ist der Fall der Stadtberner SP, der im Januar 2017 das Stadtpräsidium nach 24 Jahren entrissen worden war. Statt Ursula Wyss wurde damals Alec von Graffenried von der kleinen Grünen Freien Liste (GFL) gewählt.
Seither wabern immer wieder Gerüchte und Verschwörungstheorien durch die Lauben. Einige SP-Mitglieder zürnen der Zeitung «Der Bund», weil diese mit Kampagnenjournalismus die Nichtwahl von Wyss herbeigeschrieben habe, so der Vorwurf.
Letzte Woche goss der ehemalige «Bund»-Redaktor Basil Weingartner Öl ins Feuer. Auf seinem persönlichen Twitter-Konto veröffentlichte er einen elfteiligen Thread, in dem er «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz als Strippenzieher der von-Graffenried-Kampagne darstellt. Beweise kann er keine liefern, aber ein Teil der SP-Community teilte und kommentierte seine Tweets eifrig.
Feuz nennt die Vorwürfe Weingartners auf Anfrage «happig und haarsträubend». Und er dementiert: «Es gab vor den Wahlen 2016 ein einziges Treffen mit von Graffenried. Als wir das Gerücht seiner allfälligen Kandidatur vernahmen, haben wir ihn zu einem Gespräch eingeladen, um herauszufinden, ob etwas daran ist. Das Gespräch hatte nichts Klandestines, es fand in meinem Glasbüro statt, für die ganze Redaktion sichtbar – also kein schummriges Hinterzimmer-Treffen.»
Es steht Aussage gegen Aussage. Was stimmt, weiss ich nicht. Was ich weiss: Weingartners Abgang beim «Bund» im Frühling 2018 geschah nicht ganz in Minne, wie er selber bestätigt. Er vertrete im Übrigen eine andere politische Linie als Chefredaktor Feuz, fühle sich aber weder der SP noch der GFL nahe. Sein Twitter-Thread, der sich stellenweise liest wie ein Krimi, sei kein Nachtreten, erklärt er auf Nachfrage. «Ich tat es aus Pflichtgefühl.»
Viele politisch Interessierte haben ihre eigene Wahrheit zu diesem Fall. Auffallend ist die Wut, die dem «Bund» von einzelnen SP-Mitgliedern noch heute entgegenbrandet. Er sei ein «Drecksblatt», ereifern sie sich. Andere haben das Abo abbestellt. Für sie ist die Nicht-Wahl von Wyss mehr als eine Kränkung. Sie ist ein Trauma.
Richten wir unseren Fokus auf die zentralen Punkte, um den Fall einzuordnen:
Hat eine Zeitung so viel Macht, um jemanden in ein politisches Amt zu hieven?
Mich übermannen heftige Zweifel, zumal die Forschung dafür keine Nachweise liefert. Medien können Themen setzen, klar, und sie haben Deutungsmacht. Aber ihr Einfluss auf den Wahlausgang ist zu bescheiden, weil die Schweizerinnen und Schweizer schlicht sehr unabhängig sind und ihre Entscheidung auf Basis vieler Faktoren fällen.
Vorwurf 1: Der «Bund» hat 2016 eine Kampagne gegen Ursula Wyss gefahren.
Im Stadtberner Wahljahr 2016 las ich vermutlich alle Artikel, die der «Bund» und die «Berner Zeitung» darüber publizierten, und muss diesen Vorwurf zurückweisen. Natürlich fiel mir auf, dass der «Bund» im Rahmen des Tolerierbaren von Graffenried als Stadtpräsidenten favorisierte, währenddessen die BZ Wyss als geeigneter einstufte. Diese Erkenntnis ist nicht trivial, weil beide Zeitungen ungefähr dieselbe Reichweite in der Bundesstadt haben. Die Empörten im SP-Lager blenden den Support der BZ kategorisch aus.
Vorwurf 2: Der «Bund» betreibt seit Jahren eine Anti-SP-Kampagne.
Diese Kritik fällt regelmässig im Gespräch mit SP-Leuten und auf Social Media. Exemplarisch das Facebook-Posting von David Stampfli, Grossrat und Parteisekretär der Kantonalpartei. Er unterstellte der Zeitung am 28. September sogar, die Resultate der jüngsten Bieler Wahlen absichtlich verdreht zu haben, was jemand trocken mit «Paranoia» kommentierte.
Natürlich: Medien unterlaufen inzwischen zu viele Fehler, nicht nur wegen knappen Ressourcen und hohem Produktionsdruck. Sie treiben immer mal wieder eine Sau durchs Dorf, lancieren Kampagnen, wie zum Beispiel gegen den Genfer Staatsrat Pierre Maudet oder die Zugerin Jolanda Spiess-Hegglin. Manchmal bringen die Recherchen und Enthüllungen die Wahrheit an den Tag, manchmal führen sie zu grossen Verletzungen.
Medien haben den Auftrag, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Auf nationaler Ebene ist die SVP seit 1999 die wählerstärkste Partei; sie steht unter Dauerbeobachtung und Dauerkritik der Medien.
In der Stadt Bern ist die SP seit Jahrzehnten eine 30-Prozent-Partei und damit mit Abstand die stärkste Kraft. Ihr Wirken wird genauer beobachtet als dasjenige der Kleinparteien. Wenn «Bund»-Chefredaktor Feuz in einem Leitartikel schreibt, die städtische SP sei «selbstherrlich» geworden, jaulen viele Parteimitglieder auf. Womöglich wünschen sie sich die Neunzigerjahre zurück, als der «Bund» das Bündnis von Rot-Grün-Mitte (RGM) und damit die SP wohlwollend, wenn nicht sogar unkritisch begleitet hatte.
Ich finde den Kampagnen-Vorwurf seitens der SP dünnhäutig und billig – Hofberichterstattung oder eine Wiederbelebung der drögen Parteizeitungen sind keine Optionen! Sollte die SP bei den Gemeinderatswahlen am 29. November einen ihrer beiden Gemeinderatssitze verlieren, wäre der Sündenbock schnell gefunden: Klar, der «Bund» ist schuld. Das würde in das bequeme Narrativ passen, das seit Jahren gepflegt wird.
Schliesslich ein Blick auf nüchterne Zahlen: Die SP erreichte bei der Machtübernahme von RGM am 6. Dezember 1992 einen Wähleranteil von 27,4 Prozent, 2004 waren es 29,1 Prozent, 2016 schliesslich 28,7 Prozent. Wenn der «Bund» tatsächlich versucht haben sollte, die SP nieder zu schreiben, war er dabei hochgradig erfolglos. So viel zur «Macht» einer Zeitung.
Weshalb verlor die SP bei den letzten Wahlen das Stadtpräsidium?
Wie ich hier im Januar 2017 analysierte, hatte Wyss’ Kandidatur ausserhalb der eigenen «Bubble» vielerorts Abwehrreflexe ausgelöst. Entscheidender war aber ein anderer Punkt: 1992, 1996, 2000, 2004, 2008 und 2012 brachte die SP ihre Stapi-Kandidatur stets problemlos durch, weil das RGM-Bündnis sich immer darauf geeinigt hatte, nur eine Kandidatur zuzulassen – diejenige des Platzhirschs.
Es ist legitim, wenn die klar stärkste Partei das Stadtpräsidium für sich reklamiert. Doch 2016 liess sich die SP-Spitze von den beiden grünen Bündnispartnerinnen austricksen.
Der Mastermind, der 2015/2016 im Hintergrund für GFL-Mann von Graffenried die Fäden zog, heisst Blaise Kropf (Bild) und ist Mitglied beim Grünen Bündnis (GB). Er hatte frühzeitig erkannt, wie man Kronfavoritin Ursula Wyss abfangen kann. Während andere noch GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy oder den weitherum geschätzten Unternehmer Peter Stämpfli beknieten, bereitete er das Terrain vor. Die Kampfkandidatur durfte nicht bürgerlich sein, sondern musste aus dem RGM-Block stammen. Alec von Graffenried, hervorragend vernetzt, jovial und politisch sehr weich gezeichnet, war die ideale Figur für dieses Unterfangen.
Damit sind wir bei Franziska Teuscher (GB) angelangt, die unwissentlich eine Schlüsselrolle spielte. Sie warf den Hut als Zweite in den Ring, obwohl sie gar nicht Stadtpräsidentin werden wollten, sondern damit die Chancen für ihre Wiederwahl als Gemeinderätin optimierte. Wegen ihrem Vorpreschen wurde der Weg für von Graffenried frei: Wenn das RGM-Bündnis zwei Stapi-Kandidaturen erlaubt, kann es einen Dritten kaum mehr verhindern, zumal GFL und GB praktisch gleich stark sind.
Kropfs Strategie ging also auf. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ausgerechnet ein Mitglied des GB – der Frauenpartei! – erarbeitete den Masterplan, um die erste Stadtpräsidentin Berns zu verhindern!
Am Verhandlungstisch pokerte die GFL-Spitze hoch und riskierte sogar das definitive Zerbrechen des RGM-Blocks. Nachdem die 10-Prozent-Partei seit dem Jahr 2000 stets nur Wasserträgerin gewesen war, gewann sie zum ersten Mal.
Abschliessend eine Handlungsempfehlung für SP-Mitglieder, die Legendenbildung betreiben und «Dreckszeitung» sagen:
1. Durchatmen, Sportsgeist zeigen und die Fakten zur Kenntnis nehmen: von Graffenried ist nicht das «Werkzeug» der Bürgerlichen, sondern ein blasser Grüner, der von einem brillanten Strategen lanciert worden war. So holte er bei den Gemeinderatswahlen auf den RGM-Listen nur 554 Stimmen weniger als Wyss, aber 1166 mehr als Michael Aebersold (SP). Bei den Stapi-Wahlen distanzierte von Graffenried Wyss schon im ersten Wahlgang um rund 1400 Stimmen, im zweiten Wahlgang baute er seinen Vorsprung auf fast 6500 Stimmen aus.
2. Eine Medienanalyse würde der SP helfen – entweder vom Wahljahr 2016 oder dem aktuellen -, um ihr Traum zu überwinden. Einzelne Institute an Universitäten und Fachhochschulen haben Erfahrung damit. So läge schliesslich eine Studie vor, die aufzeigt, ob der «Bund» tatsächlich einen «Bias» hat.
3. Sie sollten sich ein Beispiel an Ursula Wyss nehmen. Diese steckte ihre Niederlage weg, wandte sich ihren Dossiers zu und machte das, was man in einer Exekutive tun sollte: mit einem klaren Kompass und durchsetzungsstark gestalten. Was sie erreicht hat, ist beeindruckend. Sie liefert, während die Dauerempörten in ihrer Partei immer wieder am «Liire» sind.
Mark Balsiger
Transparenz:
– Meine Firma hat in den letzten zehn Jahren keine Mandate von Stadtberner Parteien und von Einzelpersonen innegehabt, die in diesem Posting genannt werden.
– Als Tamedia Ende 2008 den Plan schmiedete, den «Bund» und die «Berner Zeitung» zu fusionieren, initiierte ich das Komitee «Rettet den Bund». Das führte 2008/2009 für mein kleines Team zu 1200 Stunden Fronarbeit.
– Bei den Stapi-Wahlen 2016/17 schrieb ich im ersten Wahlgang den Namen von Graffenried auf meinen Zettel, beim zweiten denjenigen von Wyss.