Was sie macht, macht sie mit Herzblut und Haltung

Dreissig Jahre lang war Regula Rytz in der aktiven Politik – im Kantonsparlament, in der Regierung der Stadt Bern, 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, kurze Zeit später übernahm sie das Präsidium der Grünen Schweiz. Gestern kündigte sie ihren Rücktritt an – eine persönliche Würdigung.

 

Ein milder Sonntagabend im Frühsommer 2007. Wir finden uns an einer lauschigen Stätte ein. Die Gäste freuen sich über das Ja des Stimmvolks zu Tram Bern West, dessen Abstimmungskampagne mein Team 2006 und 2007 konzipiert hatte. Es gibt Salzgebäck, kalte Getränke und gegenseitiges Schulterklopfen – endlich kann Bümpliz an das städtische Tramnetz angeschlossen werden.

Ein bekannter Politiker, der schon vorher viel Alkohol getrunken hatte, wird in seiner Ansprache ausschweifend, seine Zunge immer schwerer. Im Publikum werfen wir uns versteckte Blicke zu: «Es ist gut jetzt!», sagen sie.

Zunächst unbemerkt hat sich Regula Rytz, damals die städtische Verkehrs- und Tiefbaudirektorin, ganz in die Nähe des Redners hingestellt. Als dieser nach Worten sucht, übernimmt sie fliegend und charmant, verdankt ihn, drei Minuten später ist der offizielle Teil vorbei.

Was wie einstudiert wirkte, war eine geschickte Ad-hoc-Intervention: Der Alkoholisierte wurde vor sich selber geschützt, Peinlichkeiten blieben aus, das Publikum reagierte erleichtert. Rytz hatte die Situation mit ihrem feinen Sensorium gerettet.

Eine andere Anekdote: Während eines kalten Wintermonats kam ich ins Gespräch mit Angestellten des Tiefbauamts, die im Schichtbetrieb die Strassen rund um den Bahnhof Bern sanieren mussten. Sie erzählten mir, wie Rytz eines Morgens mit einer Thermoskanne aufgetaucht sei und ihnen heissen Kaffee ausgeschenkt habe. Andere Exekutivpolitiker machen dasselbe, allerdings mit den Medien im Schlepptau.

Seit nunmehr 20 Jahre beobachte ich Regula Rytz, gelegentlich hatten wir auch beruflich miteinander zu tun. Etwa in der Phase 2018/2019, als wir zusammen mit anderen für den SRF-Radiostandort Bern und gegen die Zentralisierung in Zürich kämpften.

Sie war tief in die Medienpolitik eingetaucht und dossiersicher, an die Sitzungen kam sie gut vorbereitet. Während derjenige, der sich mit diesem Thema hätte profilieren können, wenig Ahnung und keinen Plan hatte, moderierte sie Ausgangslage und Optionen. Er schenkte seinem Smartphone viel Aufmerksamkeit, sie steuerte die Veranstaltung, ohne zu dominieren.

2012 erfolgte der Wechsel auf die nationale Bühne

Rytz mag die Menschen. Sie hört ihnen zu und nimmt sie ernst. Sie engagiert sich mit Herzblut und Haltung. Zugleich hat sie verinnerlicht, dass man in diesem Land nur mit solidem Know-how und einem pragmatischen Vorgehen etwas bewegen kann. Laut und moralinsauer wird sie nie. Seit 2012 steht sie als Nationalrätin und Parteipräsidentin (bis Sommer 2020) immer wieder auf der grossen, grell ausgeleuchteten Bühne, bleibt aber stets sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Es geht ihr immer um die Sache, inhaltlich sind unsere Positionen oft nicht deckungsgleich.

Die Höhenflüge und brutal einsamen Momente der Politik kennt sie. Als die Grünen bei den eidgenössischen Wahlen 2015 verloren, musste sie, die ehemalige Gewerkschafterin, im Generalsekretariat Stellen abbauen. Vier Jahre später folgte der grösste Triumph, den eine Partei in der Schweiz je erreicht hat: ein Zuwachs von 6.1 Prozentpunkten. Rytz ist eine der Architektinnen dieses Erfolgs.

Auch nach 30 Jahren politisiert sie immer noch lustvoll. Dass sie sich im Frühling aus dem Nationalrat verabschiedet, überrascht mich nicht. Rytz spürt immer rechtzeitig, wenn es Zeit ist für ein neues Kapitel. Sie kehrt der Politik nicht den Rücken, sondern wird künftig hinter den Kulissen tätig sein. Eine Konstante bleibt, da bin ich mir sicher: Was sie macht, macht sie richtig.


Transparenz:

In den 20 Jahren meiner Selbständigkeit gab es einmal ein Auftragsverhältnis zwischen Regula Rytz und meiner Firma: Im Frühjahr 2013 bereiteten wir zusammen ihren Auftritt in der «Arena» vor.

 

Ergänzend: Was die «SonntagsZeitung» am 3. April 2022 über den Rücktritt von Regula Rytz schrieb:

Die ungekrönte Königin der Grünen tritt ab (PDF)

«Bund» und «Berner Zeitung» verschmelzen komplett

Der grösste Medienkonzern der Schweiz, die TX Group, will in Bern nun also auch noch die bislang eigenständigen Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» komplett verschmelzen. Der identische Inhalt soll in beiden Titeln in ihren altbekannten Layouts verbreitet werden. Der Fusionsprozess beginnt im April nächsten Jahres. Auf dem Medienplatz Bern entsteht damit ein Monopol. Demokratiepolitisch ist das problematisch.

Zunächst ein paar Fakten und Zusammenhänge:

– In den letzten fünf Jahren hat die TX Group (früher Tamedia) einen Reingewinn von 852 Millionen Franken erwirtschaftet (Geschäftsjahre 2015 bis 2019). Das freute die Aktionäre und das Management, welches zum Teil fette Boni erhielt. In die Stärkung der Zeitungen, die seit Jahrzenten (und immer noch) Gewinne machen, wird hingegen nicht investiert.

– Im Frühling beantragte TX Group Kurzarbeit. Trotz Kritik im Vorfeld der GV wurde an einer Dividende in derselbe Höhe wie in den Vorjahren festgehalten. Auf nationaler Ebene ist seit Jahren ein intensives Lobbying für staatliche Unterstützung der grossen Medienhäuser im Gang.

– In den letzten Jahren wurde die ohnehin schon schwach dotierten Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» weiter schleichend ausgedünnt (z.B. werden Abgänge teilweise nicht mehr ersetzt). Schon vor drei Jahren hatte ich vor der kompletten Fusion gewarnt.

– Eine Befragung von 4000 Abonnentinnen und Abonnenten, die wir 2009 seitens des Komitees «Rettet den Bund» durchgeführt hatten, zeigte auf, dass das Ressort Bern für sie am wichtigsten ist (zusammen mit dem Ressort Inland). Die Konzernspitze foutierte sich um diesen klaren Befund.

– Dass es sich lohnt, in Personal und Qualität zu investieren zeigt das Beispiel der «Zeit». Die Wochenzeitung aus Hamburg hat heute eine grössere Auflage als vor 20 Jahren. In unserem Land konnte dieser Qualitätstitel seine Abonnentenzahl in den letzten zehn Jahren massiv erhöhen – auch dank drei Schweiz-Seiten pro Ausgabe. Guter Journalismus ist gefragt. Er darf etwas kosten und rentiert.

– Vor vier Wochen gratulierte Verwaltungsratspräsident Pietro Supino in einem Gastbeitrag dem «Bund» zu seinem 170-Jahre-Jubiläum. Er sei stolz, diesen Titel in seinem Portfolio zu haben. Zugleich drohte er der Politik unverhohlen: Wenn das Medienförderungsgesetz nicht in seinem Sinne ausgestaltet werde, sei der Fortbestand des «Berner Modells» (beide Zeitungen werden unter einem Dach herausgegeben, bleiben aber publizistisch unabhängig) nicht mehr gesichert.

Meine Einschätzung: Die beinharten Medienmanager interessieren sich nicht für Publizistik. Es geht ihnen nur um Rendite. Sie glauben daran, dass diese mit knalligen Storys, vielen Clicks und direkt verknüpfter Werbung eingefahren wird. Unternehmungen sollen Gewinn machen, keine Frage. Allerdings zweifle ich daran, dass Journalismus gleich produziert und verkauft werden sollte wie Billig-Hundefutter.

Ob in der Bundesstadt der Einheitsbrei goutiert wird, ist offen. Der «Bund» bedient ein urbanes Publikum, die «Berner Zeitung» ein ländliches.

Ich bin nicht Gewerkschafter, sondern ein besorgter Staatsbürger, der seine Augen nicht vor der Realität verschliesst: Im Mediengeschäft herrscht ein intensiver Verdrängungskampf, die Auflagen der gedruckten Zeitungen sinken, die Werbeeinnahmen brechen weg, Die vier Tech-Giganten Google, Amazon, Facebook und Apple – auch GAFA genannt – machen den grossen Reibach. Während Jahrzehnten bildeten die Rubrikeninserate für Immobilien, Autos, Stellen, käufliche und ewige Liebe das ökonomische Rückgrat für die Zeitungen. Inzwischen sind sie fast komplett ins Netz abgewandert, wo sie deutlich weniger abwerfen.

Nur: «Berner Zeitung» und «Bund» waren in den letzten Jahren wie alle anderen Titel im Tamedia-Portfolio profitabel, die Renditen gemäss Medienökonomen höher als während den goldenen Zeiten der Zeitungen ohne Internet. Einen Teil der Gewinne hätte man in die beiden Regionalredaktionen investieren können – nein, müssen! Stattdessen wurden beim «Bund» immer weiter Stellenprozente reduziert. Und bei der «Berner Zeitung» fiel die Wochenendbeilage «Zeitpunkt», während vieler Jahre ein leuchtendes Beispiel für Qualitätsjournalismus, dem Sparhammer zum Opfer.

Der Ausblick: Im Grossraum Bern mit seinen rund 350’000 Menschen hat es Platz für ein neues Online-Magazin, das unabhängigen Qualitätsjournalismus liefert. Nochmals auf Tamedia/TX Group zu setzen wäre falsch, es braucht ein Medium von Bern für Bern. Start-ups in anderen Ballungsräumen zeigen, dass das Interesse an einem anderen Journalismus vorhanden ist, etwa «Tsüri» (Zürich), «bajour» (Basel), «Die Ostschweiz» (St. Gallen) oder «ZentralPlus» (Zentralschweiz).

Was es jetzt braucht, sind Leute mit Knowhow, Zeit und Kapital, die ein neues Kapitel Berner Mediengeschichte schreiben wollen. Wenn es gewünscht sein sollte, koordiniere ich die ersten Schritte dafür. Vom Komitee «Rettet den Bund» her haben wir viele Adressen zur Verfügung. Das ist ein Start.

Nachtrag:
Eine ausgesprochen solide Zusammenfassung zu den Herausforderungen auf dem Medienplatz liefert Nick Lüthi in der «Medienwoche».
– Was ich Radio SRF4 News zu dieser Fusion sagte – das Interview von Medienredaktor Salvador Atasoy auf Soundcloud
(30. Oktober 2020)
– Meine E-Mail-Adresse: mark.balsiger@border-crossing.ch

Die SP und ihr Stapi-Trauma

Niederlagen bei Wahlen sind schmerzhaft. Es kommt vor, dass die Wunden auch Jahre später immer wieder aufplatzen. Exemplarisch ist der Fall der Stadtberner SP, der im Januar 2017 das Stadtpräsidium nach 24 Jahren entrissen worden war. Statt Ursula Wyss wurde damals Alec von Graffenried von der kleinen Grünen Freien Liste (GFL) gewählt.

Seither wabern immer wieder Gerüchte und Verschwörungstheorien durch die Lauben. Einige SP-Mitglieder zürnen der Zeitung «Der Bund», weil diese mit Kampagnenjournalismus die Nichtwahl von Wyss herbeigeschrieben habe, so der Vorwurf.

Letzte Woche goss der ehemalige «Bund»-Redaktor Basil Weingartner Öl ins Feuer. Auf seinem persönlichen Twitter-Konto veröffentlichte er einen elfteiligen Thread, in dem er «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz als Strippenzieher der von-Graffenried-Kampagne darstellt. Beweise kann er keine liefern, aber ein Teil der SP-Community teilte und kommentierte seine Tweets eifrig.

Feuz nennt die Vorwürfe Weingartners auf Anfrage «happig und haarsträubend». Und er dementiert: «Es gab vor den Wahlen 2016 ein einziges Treffen mit von Graffenried. Als wir das Gerücht seiner allfälligen Kandidatur vernahmen, haben wir ihn zu einem Gespräch eingeladen, um herauszufinden, ob etwas daran ist. Das Gespräch hatte nichts Klandestines, es fand in meinem Glasbüro statt, für die ganze Redaktion sichtbar – also kein schummriges Hinterzimmer-Treffen.»

Es steht Aussage gegen Aussage. Was stimmt, weiss ich nicht. Was ich weiss: Weingartners Abgang beim «Bund» im Frühling 2018 geschah nicht ganz in Minne, wie er selber bestätigt. Er vertrete im Übrigen eine andere politische Linie als Chefredaktor Feuz, fühle sich aber weder der SP noch der GFL nahe. Sein Twitter-Thread, der sich stellenweise liest wie ein Krimi, sei kein Nachtreten, erklärt er auf Nachfrage. «Ich tat es aus Pflichtgefühl.»

Viele politisch Interessierte haben ihre eigene Wahrheit zu diesem Fall. Auffallend ist die Wut, die dem «Bund» von einzelnen SP-Mitgliedern noch heute entgegenbrandet. Er sei ein «Drecksblatt», ereifern sie sich. Andere haben das Abo abbestellt. Für sie ist die Nicht-Wahl von Wyss mehr als eine Kränkung. Sie ist ein Trauma.

Richten wir unseren Fokus auf die zentralen Punkte, um den Fall einzuordnen:

Hat eine Zeitung so viel Macht, um jemanden in ein politisches Amt zu hieven?
Mich übermannen heftige Zweifel, zumal die Forschung dafür keine Nachweise liefert. Medien können Themen setzen, klar, und sie haben Deutungsmacht. Aber ihr Einfluss auf den Wahlausgang ist zu bescheiden, weil die Schweizerinnen und Schweizer schlicht sehr unabhängig sind und ihre Entscheidung auf Basis vieler Faktoren fällen.

Vorwurf 1: Der «Bund» hat 2016 eine Kampagne gegen Ursula Wyss gefahren.
Im Stadtberner Wahljahr 2016 las ich vermutlich alle Artikel, die der «Bund» und die «Berner Zeitung» darüber publizierten, und muss diesen Vorwurf zurückweisen. Natürlich fiel mir auf, dass der «Bund» im Rahmen des Tolerierbaren von Graffenried als Stadtpräsidenten favorisierte, währenddessen die BZ Wyss als geeigneter einstufte. Diese Erkenntnis ist nicht trivial, weil beide Zeitungen ungefähr dieselbe Reichweite in der Bundesstadt haben. Die Empörten im SP-Lager blenden den Support der BZ kategorisch aus.

Vorwurf 2: Der «Bund» betreibt seit Jahren eine Anti-SP-Kampagne.
Diese Kritik fällt regelmässig im Gespräch mit SP-Leuten und auf Social Media. Exemplarisch das Facebook-Posting von David Stampfli, Grossrat und Parteisekretär der Kantonalpartei. Er unterstellte der Zeitung am 28. September sogar, die Resultate der jüngsten Bieler Wahlen absichtlich verdreht zu haben, was jemand trocken mit «Paranoia» kommentierte.

Natürlich: Medien unterlaufen inzwischen zu viele Fehler, nicht nur wegen knappen Ressourcen und hohem Produktionsdruck. Sie treiben immer mal wieder eine Sau durchs Dorf, lancieren Kampagnen, wie zum Beispiel gegen den Genfer Staatsrat Pierre Maudet oder die Zugerin Jolanda Spiess-Hegglin. Manchmal bringen die Recherchen und Enthüllungen die Wahrheit an den Tag, manchmal führen sie zu grossen Verletzungen.

Medien haben den Auftrag, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Auf nationaler Ebene ist die SVP seit 1999 die wählerstärkste Partei; sie steht unter Dauerbeobachtung und Dauerkritik der Medien.

In der Stadt Bern ist die SP seit Jahrzehnten eine 30-Prozent-Partei und damit mit Abstand die stärkste Kraft. Ihr Wirken wird genauer beobachtet als dasjenige der Kleinparteien. Wenn «Bund»-Chefredaktor Feuz in einem Leitartikel schreibt, die städtische SP sei «selbstherrlich» geworden, jaulen viele Parteimitglieder auf. Womöglich wünschen sie sich die Neunzigerjahre zurück, als der «Bund» das Bündnis von Rot-Grün-Mitte (RGM) und damit die SP wohlwollend, wenn nicht sogar unkritisch begleitet hatte.

Ich finde den Kampagnen-Vorwurf seitens der SP dünnhäutig und billig – Hofberichterstattung oder eine Wiederbelebung der drögen Parteizeitungen sind keine Optionen! Sollte die SP bei den Gemeinderatswahlen am 29. November einen ihrer beiden Gemeinderatssitze verlieren, wäre der Sündenbock schnell gefunden: Klar, der «Bund» ist schuld. Das würde in das bequeme Narrativ passen, das seit Jahren gepflegt wird.

Schliesslich ein Blick auf nüchterne Zahlen: Die SP erreichte bei der Machtübernahme von RGM am 6. Dezember 1992 einen Wähleranteil von 27,4 Prozent, 2004 waren es 29,1 Prozent, 2016 schliesslich 28,7 Prozent. Wenn der «Bund» tatsächlich versucht haben sollte, die SP nieder zu schreiben, war er dabei hochgradig erfolglos. So viel zur «Macht» einer Zeitung.

Weshalb verlor die SP bei den letzten Wahlen das Stadtpräsidium?
Wie ich hier im Januar 2017 analysierte, hatte Wyss’ Kandidatur ausserhalb der eigenen «Bubble» vielerorts Abwehrreflexe ausgelöst. Entscheidender war aber ein anderer Punkt: 1992, 1996, 2000, 2004, 2008 und 2012 brachte die SP ihre Stapi-Kandidatur stets problemlos durch, weil das RGM-Bündnis sich immer darauf geeinigt hatte, nur eine Kandidatur zuzulassen – diejenige des Platzhirschs.

Es ist legitim, wenn die klar stärkste Partei das Stadtpräsidium für sich reklamiert. Doch 2016 liess sich die SP-Spitze von den beiden grünen Bündnispartnerinnen austricksen.

Der Mastermind, der 2015/2016 im Hintergrund für GFL-Mann von Graffenried die Fäden zog, heisst Blaise Kropf (Bild) und ist Mitglied beim Grünen Bündnis (GB). Er hatte frühzeitig erkannt, wie man Kronfavoritin Ursula Wyss abfangen kann. Während andere noch GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy oder den weitherum geschätzten Unternehmer Peter Stämpfli beknieten, bereitete er das Terrain vor. Die Kampfkandidatur durfte nicht bürgerlich sein, sondern musste aus dem RGM-Block stammen. Alec von Graffenried, hervorragend vernetzt, jovial und politisch sehr weich gezeichnet, war die ideale Figur für dieses Unterfangen.

Damit sind wir bei Franziska Teuscher (GB) angelangt, die unwissentlich eine Schlüsselrolle spielte. Sie warf den Hut als Zweite in den Ring, obwohl sie gar nicht Stadtpräsidentin werden wollten, sondern damit die Chancen für ihre Wiederwahl als Gemeinderätin optimierte. Wegen ihrem Vorpreschen wurde der Weg für von Graffenried frei: Wenn das RGM-Bündnis zwei Stapi-Kandidaturen erlaubt, kann es einen Dritten kaum mehr verhindern, zumal GFL und GB praktisch gleich stark sind.

Kropfs Strategie ging also auf. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ausgerechnet ein Mitglied des GB – der Frauenpartei! – erarbeitete den Masterplan, um die erste Stadtpräsidentin Berns zu verhindern!

Am Verhandlungstisch pokerte die GFL-Spitze hoch und riskierte sogar das definitive Zerbrechen des RGM-Blocks. Nachdem die 10-Prozent-Partei seit dem Jahr 2000 stets nur Wasserträgerin gewesen war, gewann sie zum ersten Mal.

Abschliessend eine Handlungsempfehlung für SP-Mitglieder, die Legendenbildung betreiben und «Dreckszeitung» sagen:

1.  Durchatmen, Sportsgeist zeigen und die Fakten zur Kenntnis nehmen: von Graffenried ist nicht das «Werkzeug» der Bürgerlichen, sondern ein blasser Grüner, der von einem brillanten Strategen lanciert worden war. So holte er bei den Gemeinderatswahlen auf den RGM-Listen nur 554 Stimmen weniger als Wyss, aber 1166 mehr als Michael Aebersold (SP). Bei den Stapi-Wahlen distanzierte von Graffenried Wyss schon im ersten Wahlgang um rund 1400 Stimmen, im zweiten Wahlgang baute er seinen Vorsprung auf fast 6500 Stimmen aus.

2.  Eine Medienanalyse würde der SP helfen – entweder vom Wahljahr 2016 oder dem aktuellen -, um ihr Traum zu überwinden. Einzelne Institute an Universitäten und Fachhochschulen haben Erfahrung damit. So läge schliesslich eine Studie vor, die aufzeigt, ob der «Bund» tatsächlich einen «Bias» hat.

3.  Sie sollten sich ein Beispiel an Ursula Wyss nehmen. Diese steckte ihre Niederlage weg, wandte sich ihren Dossiers zu und machte das, was man in einer Exekutive tun sollte: mit einem klaren Kompass und durchsetzungsstark gestalten. Was sie erreicht hat, ist beeindruckend. Sie liefert, während die Dauerempörten in ihrer Partei immer wieder am «Liire» sind.

Mark Balsiger


Transparenz:

– Meine Firma hat in den letzten zehn Jahren keine Mandate von Stadtberner Parteien und von Einzelpersonen innegehabt, die in diesem Posting genannt werden.
– Als Tamedia Ende 2008 den Plan schmiedete, den «Bund» und die «Berner Zeitung» zu fusionieren, initiierte ich das Komitee «Rettet den Bund». Das führte 2008/2009 für mein kleines Team zu 1200 Stunden Fronarbeit.
– Bei den Stapi-Wahlen 2016/17 schrieb ich im ersten Wahlgang den Namen von Graffenried auf meinen Zettel, beim zweiten denjenigen von Wyss.

Das Zentralisierungsprojekt der SRG ist vorerst gestoppt

Dieses Signal ist überdeutlich: Der Nationalrat entschied heute mit 120 zu 54 Stimmen, sich gegen die Verstümmelung des SRF-Radiostudios Bern zu wehren. Das ist eine Watsche für die SRG-Führungsriege – gemeint ist nicht der Verwaltungsrat! -, die vor 14 Monaten die Zentralisierung am Standort Zürich-Leutschenbach ankündigte und seither um jeden Preis durchboxen will.

Seit 14 Monaten wiederhole ich immer wieder dasselbe:

> Nein, es geht nicht um Lokalpatriotismus!
> Ja, die SRG soll sparen – sie kann es auch. Bei diesem Zentralisierungsprojekt konnte sie allerdings bis heute nicht überzeugend belegen, dass es einen Spareffekt gibt. Vielmehr wurde versucht, den Umzug als alternativlos darzustellen.

Es ist entscheidend für die Qualität der SRF-Informationssendungen, dass TV und Radio nicht unter demselben Dach und von denselben Entscheidungsträgern im gemeinsamen Newsroom produziert wird. Die Folge wäre eine Verwässerung und Angleichung der Programme. Das darf sich ein Medienhaus, das zur Hauptsache von öffentlichen Geldern finanziert wird, nicht leisten.

Die undurchdachte Hauruckübung ist auch ein Desaster in Sachen Kommunikation und hat einen erheblichen Reputationsschaden für die SRG zur Folge – selbstverschuldet. Jetzt liegt es am Ständerat, also den Herren, die den Föderalismus hochhalten, auf die Position des Nationalrats einzuschwenken. Klar ist: Mit der Entscheidung des Nationalrats kommen die Umzugs- und Zentralisierungspläne ins Stocken. Wenn die Führungsriege der SRG die Zeit nutzt, um dieses Projekt in Ruhe zu überdenken, kommt sie vielleicht doch noch zum richtigen Schluss.

Ergänzend:
der Kommentar von «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz.

 

Tschou, «Tschäppu»

Zum ersten Mal habe ich Alex «Tschäppu» Tschäppät auf einem Podium in Baden erlebt, Anfang der Neunzigerjahre war’s. Es ist kein Zufall, dass ich mich weder an das Thema noch die anderen Teilnehmer auf der Bühne erinnern kann. Aber Tschäppät sehe ich noch heute vor mir, wie er dort sitzt, aufrecht, mit akkurat geschnittenem Bart und schlecht gebundener Krawatte. Er hört konzentriert zu. Wenn er spricht, sind seine Voten stringent, bildlich, er setzt Zäsuren, um Spannung aufzubauen, zerpflückt die Argumente seiner Kontrahenten, ohne zu verletzen, und holt so Punkt für Punkt. Eine Show ist es trotzdem nicht, dieser Verlockung kann er widerstehen. Pointen bringt er keine, das Thema ist zu ernst.

Tschäppät ist ein Riesentalent.

1991 war er in den Nationalrat gewählt worden, im Jahr 2000 folgte der Sprung in die Stadtberner Exekutive, vier Jahre später erreichte er das Ziel seiner Träume: Stadtpräsident. Endlich in den Fussstapfen seines Vaters! Der legendäre Reynold Tschäppät verstarb 1979, im Amt. Jetzt ist Alex, sein zweiter Sohn, bei ihm. Am Freitag wurde er, 66-jährig und 16 Monate nach seinem Rücktritt als Stadtpräsident, abberufen. Der Krebs war stärker. «Jede chunnt u jede geit», sang Tinu Heiniger einmal.

Die rhetorische Brillanz von Alex Tschäppät führte oft zur Einschätzung, sie sei seine einzige echte Kompetenz. Ich hatte die letzten 15 Jahre ab und an beruflich mit ihm zu tun, eine Geschäftsbeziehung gab es allerdings nie. In meiner Beobachtung war er schnell im Kopf, er wusste sofort, wie das Spiel läuft, zog wie ein Mittelfeldregisseur die Fäden und konnte sich auf seinen Instinkt verlassen. Übersetzt in die Politik heisst das: Er spürte sofort, wie ein Gremium tickt und konnte die Stimmung im Raum präzis einschätzen. Diese Eigenschaften machten ihn zu einem erfolgreichen Verhandler. Er war einer der gewieftesten Politiker der letzten 25 Jahre, der hartnäckig und mit Raffinesse für seine Anliegen und seine Stadt, die er über alles liebte, kämpfte.

Bern hat ihm viel zu verdanken. Erst in ein paar Jahren wird uns bewusst sein, was wir an ihm als Stapi verloren haben.

Alex Tschäppät liebte das Leben, und wenn seine Zunge gut geölt war, was wir in Bern, halt doch ein Dorf, regelmässig mitkriegten, schauten wir indigniert weg. Auch sein offensiver Charme gegenüber Frauen wurde immer wieder Thema. All die Jahre diskutierten wir leidenschaftlich über «Tschäppu», wie Christof Gertsch in einem wunderbaren «Magazin»-Porträt Ende 2016 aufzeigt (am Schluss dieses Postings verlinkt). Vermutlich alle Menschen in dieser Stadt könnten eine Anekdote mit ihm erzählen – an der Tramhaltstelle, in der Beiz, am YB-Match. Er liess niemanden kalt.

Die meisten Politiker sind auch Schauspieler. Tschäppät aber spielte keine Rollen: Er war einfach Tschäppät. Wenn er beispielsweise hässig war, zeigte er es auch. Das machte ihn berührbar, verletzlich, unverwechselbar, und deshalb mochten ihn die Menschen. Und er mochte sie. Er war «üse Stapi».

 

Mensch, Alex (Porträt über Alex Tschäppät, Das Magazin, 12. November 2016 – von Christof Gertsch (PDF – Lauftext)

“Berner Zeitung” und “Der Bund” beginnen zu verschmelzen

Die definitive Entscheidung fällt zwar erst nächste Woche, aber die Stossrichtung ist klar und wurde deshalb bewusst geleakt, das erste Mal bereits im Mai in der “NZZ am Sonntag”: Der Verwaltungsrat des Zürcher Medienkonzerns Tamedia wird auf dem Platz Bern Tabula rasa machen. „Berner Zeitung“ und „Der Bund“ bleiben zwar als Titel bestehen, werden aber zu einem rechten Teil mit demselben Inhalt gefüllt – aus dem Kompetenzzentrum, wie das schönfärberisch genannt wird. Einzig im Lokalen bzw. Regionalen gibt es noch unterschiedliche Themen und Gewichtungen. Vorerst.

Mit dieser Massnahme können die Kosten weiter gedrückt werden, viele Journalistinnen und IT-Fachleute verlieren ihre Jobs. Erinnerungen an das Mai-Massaker im Jahr 2009 werden wach, als Tamedia 79 Vollzeitstellen strich und viele langjährige Angestellte auf die Strasse stellte.

„Berner Zeitung“ und „Bund“ unterscheiden sich stark, was Auswahl, Gewichtung, Stil und Kommentierung betrifft. Nehmen wir die Unternehmenssteuerreform III als Beispiel: Vor der Abstimmung vom 12. Februar plädierte der „Bund“ in einem Leitartikel für ein Ja, die „Berner Zeitung“ für ein Nein. Aus demokratiepolitischen Gründen ist es fatal, wenn dieselbe Newsfabrik denselben Content für beide Zeitungen liefert.

Ich bin nicht Gewerkschafter, sondern besorgter Staatsbürger, der seine Augen nicht vor der Realität verschliesst: Im Mediengeschäft herrscht ein intensiver Verdrängungskampf, die Auflagen der gedruckten Zeitungen sinken, die Werbeeinnahmen brechen weg, Google, Facebook und Amazon machen den grossen Reibach. Während Jahrzehnten bildeten die Rubrikeninserate für Immobilien, Autos, Stellen, käufliche und ewige Liebe das ökonomische Rückgrat für die Zeitungen. Inzwischen sind sie fast komplett ins Netz abgewandert.

Nur: „Berner Zeitung“ und „Bund“ waren in den letzten Jahren wie alle anderen Titel im Tamedia-Portfolio profitabel, die Renditen gemäss Medienökonomen höher als während den goldenen Zeiten ohne Internet.

Einen Teil der Gewinne hätte man in die Redaktionen investieren können – nein, müssen! Stattdessen wurden beim „Bund“ immer weiter Stellenprozente reduziert. Und bei der „Berner Zeitung“ fiel die Wochenendbeilage „Zeitpunkt“, seit vielen Jahren ein leuchtendes Beispiel für Qualitätsjournalismus, dem Sparhammer zum Opfer. Es ist zum Heulen.

Die beinharten Medienmanager interessieren sich nicht für Publizistik und Qualität. Sie fokussieren auf reichweitenstarke Communitys, Native Advertising, Klicks, bewegte Bilder und Zahlen. Tamedia machte 2015 übrigens einen Reingewinn von 334 Mio. Franken (CEO Christoph Tognini erhielt einen Bonus von 6 Mio.), 2016 erwirtschaftete der Konzern ein Plus von 122 Mio. Franken.

Das Grundproblem hat einen Namen: Gratiskultur.

Die Gratiskultur wurde im Jahr 2000 salonfähig: An Bahnhöfen und Bushaltestellen liegen seither Pendlerzeitungen wie „Metropol“ (2002 wieder eingestellt), „20 Minuten“ oder „Blick am Abend“ auf, die Kurzfutter und viele bunte Bilder anbieten. Wenn Milo Moiré bei „Big Brother“ blankzieht, sieht sie vermutlich ganz gut aus dabei. Für die 8,2-Millionen-Gesellschaft zwischen Rorschach und Genf ist das aber nicht von Bedeutung.

Die Werbewirtschaft drängte anfänglich mit ihren Inseraten in diese neuen, auflagestarken Blätter, und entsprechend war der kommerzielle Erfolg riesig (In der Schweiz allerdings nur für “20Minuten”.) Dumm nur, dass die Pendlerzeitungen gleichzeitig die Kaufzeitungen aus denselben Medienverlagen kannibalisieren. Einen Anteil an der verfehlten Entwicklung haben die Newsportale, weil sie ihre Inhalte mehrheitlich gratis anbieten.

Die Entscheidung zugunsten der Gratiskultur ist der gravierendste Fehler in der langen Geschichte der Presse. Journalistisch aufbereitete Information darf nicht gratis sein, weil dahinter qualitative Arbeit und Produktionskosten stecken. Einem Bäcker würde es auch nicht in den Sinn kommen, den Passanten von Montag bis Freitag kostenlos Gipfeli abzugeben in der Hoffnung, diese würde dann am Samstag Zopf, Konfitüre und Schwarzwäldertorte bei ihm kaufen.

Grob geschätzt bis zu 80 Prozent der Inhalte von „Berner Zeitung“ und „Bund“ dürften in Zukunft identisch sein. Die beide Blätter verschmelzen zu einem Einheitsbrei, und das in der Hauptstadt einer der ältesten und stabilsten Demokratien! Was passiert mit ebendieser Demokratie, wenn die Medien mangels Ressourcen ihre Aufgabe als Wächter nicht mehr wahrnehmen? Und vor allem, liebe Bernerinnen, liebe Freunde einer intakten Demokratie, was machen wir jetzt? Die letzte Frage stelle ich als Initiant des Komitees „Rettet den Bund“, das 2008/2009 gegen eine Fusion von “Bund” und “Berner Zeitung” gekämpft hatte.

 

P. S.  Gestern trafen sich die Belegschaften von “Berner Zeitung” und “Bund” über Mittag zum Austausch vor dem Hauptsitz am Dammweg – einem Protestrisotto. Auf Facebook gibt es inzwischen eine Page mit dem Namen “Rettet die Berner Zeitungen”.

Das Polit-Forum Käfigturm ist gerettet

Vor sechzehn Monaten riefen wir das Komitee «Rettet den Käfigturm» ins Leben, rund  7000 Personen unterzeichneten die Petition. Jetzt können wir aufatmen: Das Polit-Forum Bern ist gerettet! Endlich einmal eine gute Nachricht neben all den vielen schlechten, die im Tagestakt auf uns niederprasseln.

Die Institution im Herzen Berns hat eine neue Trägerschaft. Am Verein „Polit-Forum Bern“ sind Stadt, Kanton und Burgergemeinde Bern beteiligt, er wird präsidiert von Stadtpräsident Alec von Graffenried.

Ein Wermutstropfen: Die langjährigen Co-Leiter des Polit-Forums, Andreas Schilter und Michael Fritsche, werden sich beruflich neu orientieren. Sie waren es, die seit Ende der Neunzigerjahre für die Qualität im «Käfigturm» verantwortlich zeichneten, sie taten es mit Umsicht und viel Herzblut.

Mein herzliches Dankeschön geht an
– Regula Tschanz, die das Thema im Stadtparlament am Kochen hielt;
– Bruno Vanoni, der dasselbe im Grossen Rat tat. Just in einer Phase, in der Walter Stüdeli, mein Kompagnon im Rettungskomitee, und ich vom Kampf zermürbt in den Seilen hingen;
– Alexander Tschäppät, der in seinem letzten Jahr als Stadtpräsident das Polit-Forum zur Chefsache erklärte und das Fundament für die neue Trägerschaft legte;
– Claude Kuhn für das Kampagnensujet;
– Steven Götz für dessen Adaption;
– Andi Jacomet für die Website;
– den Mitgliedern im Co-Präsidium sowie allen 7000 Petentinnen und Petenten;
– Alec von Graffenried, der die Trägerschäft für das neue Polit-Forum definitiv formte.

DER HINTERGRUND DIESER RETTUNGSAKTION

Anfang Dezember 2015 gab der Bund bzw. die Bundeskanzlei bekannt, das Polit-Forum nicht mehr zu finanzieren. Dazu muss ich ein paar Gedanken wiederholen, für einmal etwas populistisch zugespitzt:

Sparen ist richtig, gerade wenn es um das Geld anderer geht. Das eidgenössische Parlament hat sich im Dezember letzten Jahres in langen Debatten durch das Budget 2017 gekämpft – und den Rotstift angesetzt. Doch was offenbart der geschärfte Blick auf die Zahlen: Die Bauern erhalten künftig 62 Millionen Franken mehr, ihre Subventionen erhöhen sich auf 3,39 Milliarden Franken jährlich. Und auch für die Armee gibt es mehr Geld: neu 5 Milliarden Franken pro Jahr.

Für das Polit-Forum in Bern hingegen gibt es in Zukunft: 0,00 Franken. Es hätte seitens des Bundes nur noch 400’000 Franken jährlich gebraucht, um diese Institution weiterhin zu betreiben. Bislang leistete er 1 Million Franken. Die Reduktion betrug also satte 60 Prozent, weil eine neue Trägerschaft, die sich im letzten Winter zu konstituieren begann, die Kosten breiter verteilen wollte.

Ich fasse zusammen: Bauern und Militär kriegen von diesem Jahr an noch mehr Geld, für politische Bildung gibt es weniger. Dabei weisen Politiker in jeder zweiten Sonntagsrede darauf hin, wie wichtig sie sei.

Was im Polit-Forum Käfigturm geboten wird, regt seit jeher zum Denken an und trifft den Nerv des Publikums: rund 30’000 Besucherinnen und Besucher werden jährlich gezählt, darunter zahllose Schulklassen. Im Zeitalter von Fake-News, digitaler Disruption und einem dauertwitternden US-Präsidenten wird es noch wichtiger, dass Jugendliche den Zugang zu Politik und Medien finden. Das Polit-Forum hat genau dies seit 1999 ermöglicht, volksnah und überzeugend. Die Latte für das neue Polit-Forum Bern liegt hoch.

Reflexe und Rituale rund um die Reitschule

Volkes Seele kocht, man zeigt mit dem Finger auf Bern, vor allem: auf den “Schandfleck”. Nach drei Ausschreitungen binnen weniger Tage haben die Kommunalpolitiker reflexartig abgesondert, was sie schon früher x-fach von sich gaben:

– Die Nationalkonservativen fordern: „Reitschule schliessen!“
– Aus der grünen Ecke findet jemand: „Die Polizei war repressiv!“
– Ein Rechtsfreisinniger: „Die rot-grüne Regierung hat total versagt!“

Die parteipolitisch motivierten Statements sind Rituale, inhaltlich so absehbar wie das Lächeln der Wetterfee. Wer von „Krieg“ und „einer Hundertschaft Terroristen“ spricht, überspannt den Bogen.

Doch wenden wir uns den zentralen Akteuren zu: Wer liefert den Polizisten wüste Strassenschlachten, setzt Laserpointer ein, zündet Lieferwagen an und zerlegt ein Bushäuschen von Bernmobil komplett? Was sind das für Leute? Der Haufen ist heterogen, aber es gibt ein Muster:

– Die meisten militanten Chaoten, die in den letzten Tagen aufmarschierten, stammen nicht aus der Hausbesetzerszene. Aber sie haben sich das Thema sofort gekrallt, nachdem die Polizei ein illegal besetztes Haus an der Effingerstrasse (Effy29) räumen musste. Beteiligt ist die Revolutionäre Jugend Bern; es handelt sich um Anarchisten, die sich den Kampf gegen den Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben haben.

Diese Gruppe demonstriert seit vielen Jahren gegen Faschismus – bekannt sind ihre Antifa-Spaziergänge –, die SVP oder die Globalisierung. Bei vielen ihrer Demonstrationen sind nur ein paar Dutzend Mitwirkende dabei. Vor vier Jahren erkämpften sie sich die Deutungsmacht über „Tanz dich frei 3“. 10’000 Junge machten damals auf den Strassen friedlich Party, 100 Chaoten nutzten die Masse für ihre Übergriffe auf Polizei, Sanität und Gebäude.

– Wenn es knallt, ist die Gang „031“ (sprich „Null, drei, eins“) oft auch dabei, meistens agiert sie aus dem Schutz der Reitschule. Sie kämpft gegen das System, ihre Graffitis – meistens sind es Tags mit der Zahl „031“ – fallen im Grossraum Bern seit mehr als zehn Jahren auf.

– Am letzten Samstag waren auch Krawalltouristen dabei, die zum Teil von weit her anreisten. Sie kommen regelmässig. Ad hoc beteiligten sich erneut sehr junge Trittbrettfahrer, die auch einmal Polizisten vorführen und Scheiben einschlagen wollten. Es geht um den Adrenalinkick – kein Vergleich mit Snowboarden oder Ballern auf der Playstation.

Ich konnte mich einmal länger mit ein paar jungen Berner Anarchos unterhalten. Nicht bei allen waren die ideologischen Überzeugungen gefestigt und die Argumente stringent. Klar wurde aber bald, dass sie am Staat „alles Scheisse“ finden, und ja, die Bullen, die Bullen nannten sie sogar „verdammte Scheissbullen“. Die Polizisten stehen stellvertretend für den verhassten Staat im Fadenkreuz.

Die jungen Anarchisten haben noch nie selber Geld verdient, ihre Wäsche macht Mutti, und bei Minustemperaturen bleiben sie lieber zuhause, statt für ihre Revolution auf die Strasse zu gehen. Ich weiss nicht, ob sie noch aktiv sind oder schon von der nächsten Generation abgelöst wurden, aber ich erinnere mich, dass das Gespräch mit ihnen schwierig war.

Die Statistik zeigt: In den letzten 15 Jahren haben sich die Gewaltdelikte gegen Polizisten und Beamte mehr als verdreifacht. 2015 wurden rund 2800 Fälle gezählt (siehe Grafik). Das ist eine alarmierende Entwicklung! Die Polizistinnen und Polizisten werden zermürbt, sie, die das Gewaltmonopol haben und insgesamt einen guten Job machen. Klar, in jedem Korps gibt es ein paar Übermotivierte, womöglich sogar Möchtegern-Rambos.

Was ist zu tun? Strafen wirken nur, wenn sie schmerzen. Der Ständerat lehnte es heute Abend ab, das Strafgesetzbuch mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis zu ergänzen. Das hat eine eigene Logik. Es läge aber seit Langem im Spielraum der Gerichte, harte Urteile zu fällen. Würden Gewaltexzesse mit drakonischen Strafen geahndet, hätte das eine abschreckende Wirkung. 350 Franken Busse und zwei Tage gemeinnützige Arbeit sind eine Lachnummer.

Über die Bücher müssten – endlich – auch die Reitschüler. Sich stets nur halbwegs von der Gewalt vor ihren selbstverwalteten Toren zu distanzieren, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Sie hätten es in der Hand, einen hauseigenen Sicherheitsdienst aufzuziehen, der die Chaoten daran hindert, in der Reitschule abzutauchen. Doch genau das wollen die Reitschüler partout nicht. Diese Haltung kann sich irgendeinmal rächen.

Alec von Graffenried, der neue Stadtpräsident Berns, hat mit der Reitschule das heikelste Dossier von seinem Vorgänger geerbt. Dass der Stapi viel Zeit und noch mehr Energie in das rechtsfreie Kulturzentrum investieren muss, darf man als Anachronismus bezeichnen. Die Institution scheint in der Phase der Pubertät stecken geblieben zu sein.

 

Als Ergänzung:

– Die Einschätzung von Sachverständigen, ich bin nur seit vielen Jahren Beobachter:
(Bund, 28. Februar, Markus Dütschler, Martin Erdmann)

– Was die Autorin des “Tages-Anzeigers” diagnostiziert:
Die Chaoten trötzeln, und Bern bleibt das nette Mami (Tagi, 28. Februar, Michèle Binswanger)

Was Ursula Wyss und die SP vergessen haben

Vor einem Jahr zweifelten Chefredaktoren, Parteistrateginnen und Beobachter keinen Moment daran, dass Ursula Wyss die Nachfolge von Parteikollege Alexander Tschäppät (SP) antreten wird. Die Resultate des zweiten Wahlgangs sprechen aber eine andere Sprache: Berns neuer Stadtpräsident heisst Alec von Graffenried. Er erreichte knapp 58 Prozent aller gültigen Stimmen, Ursula Wyss verlor das Duell gegen den Kandidaten der Grünen Freien Liste (GFL) also sehr deutlich.

Als Campaigner interessiert mich, wieso Wyss ihre Favoritenrolle nicht mit einem Wahlsieg krönen konnte.

Lange bevor die Wahlkampagne einsetzt, muss eine SWOT-Analyse gemacht werden. Das ist harte Arbeit, und in der Regel sind Leute, die einer Kandidatin oder einem Kandidaten nahestehen, nicht befähigt dazu, weil sie den Tunnelblick haben. Im konkreten Fall von Wyss hätte eine ungeschminkte Analyse zum Vorschein gebracht, dass es bei Stapi-Wahlen um Persönlichkeit und Image geht, nicht aber um Inhalte. Des Weiteren hätte man erkennen müssen, dass sich die Vorbehalte gegenüber Wyss dynamisch verstärken könnten.

Genau das ist in den letzten 15 Monaten passiert. Es gibt etliche Leute in der Stadt Bern, die von Nachbars Schwester gehört haben, dass Wyss unnahbar ist. Das Wort unnahbar kann mit berechnend, arrogant usw. ersetzt werden. Die negativen Äusserungen haben sich multipliziert, Social Media verstärkten diesen Effekt massiv. Das Resultat: Abertausende von Menschen in der Bundesstadt haben sich vom Hörensagen eine Meinung über Wyss gebildet. Die negativen Adjektive kleben an ihr wie eine zweite Haut. Sie stammen womöglich aus einer Zeit, als die SP-Politikerin noch sehr jung, scharfzüngig und unsicher war.

Wyss ist in Bezug auf politische Erfahrung, Know-how und Konstanz ihrem Kontrahenten weit überlegen. Beim Stapi-Duell zwischen ihr und von Graffenried ging es aber nicht um Positionen, die ohnehin fast deckungsgleich sind, sondern, wie erwähnt, um Image und Persönlichkeit. Bei Ausmarchungen für Exekutivämter ist das wahrlich nichts Neues unter der Sonne, der Wahlkampf hat sich schon lange entpolitisiert. Der erste Spitzenpolitiker, der das schmerzhaft erfahren musste, war US-Vizepräsident Richard Nixon. Als er 1960 den Kampf um die Präsidentschaft gegen den jungen und unerfahrenen John F. Kennedy verlor, dampfte er hernach den entscheidenden Faktor in einen Satz ein: Image ist wichtiger als Substanz.

Wyss und ihr engster Parteiklüngel erkannten dieses Risiko nicht oder aber zu spät. Als amtierende Gemeinderätin hätte sie viele Gelegenheiten gehabt, um die Widerstände gegen ihre Person abzubauen. Ein Beispiel:

Im Sommer 2015 feierte das städtische Tiefbauamt sein 150-Jahr-Jubiläum. An einem Nachmittag wurden Gewerbler, Generalunternehmer, Geologen, Ingenieure und Angestellte von Bund und Kanton ins Grüne eingeladen. Das Fest: locker gestreute edukative Elemente, mit Gitarre und Mundharmonika umrahmte Kurzgeschichten von Walter Däpp, feinste Kulinarik. Die Sonne schien, die Stimmung war ausgezeichnet, ein durch und durch gelungener Anlass, der nicht nur mir, sondern zweifellos auch den vielen anderen Gästen in guter Erinnerung geblieben ist.

Nur jemand fehlte: die Direktorin für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Ursula Wyss müsse die Stadtratssitzung vom Abend vorbereiten und könne deshalb nicht dabei sein, erklärte Stadtingenieur Hans-Peter Wyss in seiner Grussadresse. Ein Raunen ging durch die Reihen, beim Essen war das Thema gesetzt.

Eine kurze und gelungene Ansprache, ein Small-Talk hier, ein Scherz dort und immer wieder Händeschütteln – das wäre die Aufgabe der politischen Chefin gewesen. Doch Ursula Wyss setzte die Prioritäten anders und verpasste so die Chance, sich vor Hunderten von Gästen nahbar und persönlich zu zeigen. Über 90 Prozent der Gäste waren übrigens Männer, und wir wissen es: Männer sind einfach gestrickte Geschöpfe. Sie wollen gut essen, sich entspannt unterhalten, ein Bierchen trinken, Fussball gucken und ernst genommen werden. Dann sind sie zufrieden.

Wäre Wyss an diesem Jubiläumsanlass präsent gewesen, hätte sie die vorzügliche Gelegenheit gehabt, ihr Image zu korrigieren. Und wer weiss, vielleicht hätten sich hernach die guten Feedbacks quer durch die Stadt multipliziert.

Weitere relevante Minuspunkte in Wyss’ Kampagne

Im Wahlkampf haben Symbolik, Stimmungen und Atmosphärisches eine zentrale Bedeutung. Zwei Tage nach dem ersten Wahlgang lud Wyss zu einer Medienkonferenz ein, um ihr Festhalten an einer Stapi-Kandidatur zu bekräftigen. Der Raum hatte ungefähr so viel Charme wie eine Zivilschutzanlage, gravierend war aber das „Line up“: Nebst dem SP-Co-Präsidium sprachen eine Vertreterin des Gewerkschaftsbundes und die Präsidentin der Juso – die üblich Verdächtigen also. Genau zu diesem Zeitpunkt hätte ein Auftritt von Leuten ausserhalb der SP-„Bubble“ Wirkung erzielt, etwa von einem Unternehmer oder Wyss’ Doktorvater der Universität Bern.

An jener Medienkonferenz war Mitbewerberin Franziska Teuscher (Grünes Bündnis) nicht dabei. Sie erklärte zwar am selben Morgen gegenüber den Medien ihren Verzicht auf den zweiten Wahlgang, tat dies aber alleine. Ihre Präsenz hätte Wyss’ Auftritt Schub verliehen, zumal die beiden schon im Sommer gemeinsam die Separat-Kampagne „Es ist höchste Zeit für eine Stadtpräsidentin in Bern“ lanciert hatten.

Teuscher hatte in diesem Wahlkrimi eine Schlüsselrolle: Vor Jahresfrist entschied sie, ebenfalls für das Stadtpräsidium zu kandidieren und vergiftete das ohnehin schon belastete Verhältnis innerhalb von Rot-Grün-Mitte (RGM). Niemand in der Stadt gab ihr auch nur eine Wahlchance von 0,01 Prozent, sie aber musste ihren Willen durchsetzen. Erst aufgrund dieser Konstellation getraute sich der harmoniebedürftige Alec von Graffenried aus der Deckung. Wenn RGM zwei Stapi-Kandidaturen toleriert, müssen auch drei drin liegen, folgerte er, GFL konnte sich damit durchsetzen. Fazit: Teuscher erwies dem Anliegen, endlich eine Frau ins Stadtpräsidium zu bringen, einen Bärendienst.

Was Parteistrategen irgendeinmal zur Kenntnis nehmen sollten: Bei Wahlen gibt es keine Frauensolidarität. Der Frauenbonus spielte seit 1971 genau einmal, nachdem Christiane Brunner (SP) 1993 nicht zur Bundesrätin gewählt worden war. Der Brunner-Effekt war aber nach den Nationalratswahlen 1995 bereits wieder verpufft, die Forderung „Jetzt endlich eine Frau!“ hat eine kontraproduktive Wirkung. Auch diese Erkenntnis ist alt, man ignorierte sie bei den Berner Stapi-Wahlen trotzdem.

Tony Blair erlebte den Rausch des Wahlerfolgs 1997 und 2001 genauso wie einen brutalen Absturz. Er sagte einmal: „You can get a hundred little things right, but if you fail on the big points you will lose.“ Ursula Wyss und die Stadtberner SP haben zwar einen professionellen Wahlkampf geliefert, aber den entscheidenden Faktor – die Imagekorrektur – schlicht vergessen. Weil ihr Team die eigenen „Bubble“ mit der Stadt Bern gleichsetzte, bleibt ihr der Einzug in den Erlacherhof verwehrt. Für die SP, dreimal stärker als jede andere Partei auf dem Platz Bern, ist das mehr als “e Chlapf a Gring”.


Andere Artikel:

Zu wenig gemütlich für Kuschelmutzen: Ist Ursula Wyss eine Hillary Clinton von Bern?
(Aargauer Zeitung, Max Dohner, 13. Januar 2017)

Hohe Erwartungen an den Stapi für alle
(Berner Zeitung, Mirjam Messerli, 15. Januar)

Grüne Berner Wahl mit Potenzial
(Der Bund, Patrick Feuz, 15. Januar)

“RGM-Parteien könnten von Graffenried als Kuckucksei sehen”
(Der Bund, Interview mit Politologe Daniel Bochsler, 16. Januar)

Berns grünes Wunder – und was dahinter steckt
(Der Bund, Patrick Feuz, 21. Januar)
Sechs Tage nach der Wahl hat die Legendenbildung begonnen (Anmerkung des Blogbetreibers)

Nun ist Alec von Graffenried der Gejagte

vongraffenried-vor-nomination-612-topelementWas für eine Genugtuung für die Grüne Freie Liste (GFL), diese realo-grüne Partei, die Wurzeln im progressiven Freisinn (um Leni Robert) und beim Jungen Bern von Klaus Schädelin und Mani Matter hat. Ihr Kandidat Alec von Graffenried sorgte gestern Nacht gleich doppelt für eine faustdicke Überraschung: Sowohl bei den Gemeinderats- wie bei den Stapi-Wahlen setzte er sich an die Spitze. Bei der Ausmarchung für die Exekutive distanzierte er Franziska Teuscher (Grünes Bündnis GB) um rund 3200 Stimmen, Ursula Wyss (SP) sogar um fast 5000 Stimmen. Der Zieleinlauf ist ein erster Fingerzeig.

Bei den Wahlen um die Nachfolge von Stadtpräsident Alexander Tschäppät sticht etwas ins Auge: von Graffenried ist der einzige Kandidat, der weit über sein eigens Lager hinaus Stimmen holte. Und wie: Die GFL ist eine 10-Prozent-Partei, der 54-Jährige erreichte aber einen Wähleranteil von 32.5 Prozent. Dieses Resultat ist ein zweiter und ziemlich deutlicher Fingerzeig.

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Viele der rund 40’000 Stadtbernerinnen und -berner, die partizipierten, haben taktisch gewählt. Die Resultate sind für die SP ein Betriebsunfall, Kronfavoritin Ursula Wyss, die viele schon als “Die Stapi in spe” bezeichnet haben, müssen sie zu denken geben. Weshalb konnte sie ihre Favoritenrolle nicht bestätigen? Ich nenne drei Gründe:

1.  Image:
Für etliche Leute ist Wyss immer noch die scharfzüngige Juso-Frau. Dass sie seit ihrer Wahl in den Nationalrat 1999, damals gerade einmal 26-jährig, Schritt für Schritt zu einer pragmatischen Politikerin im Realoflügel der SP wurde, haben sie nicht mitgekriegt. Andersrum erklärt: Wyss schaffte es nicht, ihren Wandel überzeugend zu vermitteln. Nicht zu vergessen: Es gibt einen Anti-Wyss-Reflex – auch bei einzelnen Genossinnen. Sie polarisiert, für viele Bürgerliche ist Wyss ein rotes Tuch.

2.  2Perfect4Berne:
Wyss ist klug, dossiersicher und ehrgeizig. Mit 43 Jahren auf dem Buckel hat sie bereits eine Bilderbuchkarriere hinter sich, während andere Politiker dann immer noch auf den Sprung in das kantonale oder nationale Parlament spekulieren – und mehrheitlich scheitern. Das schürt Neid. Wyss ist durch und durch Profi – so lautete auch der Titel im gelungenen Porträt der „Berner Zeitung“ –, sie ist Musterschülerin, Streberin, Karrieristin. Drei dieser vier Etiketten, die ihr umgehängt wurden, sind negativ konnotiert. In einer dynamischen Stadt wie Zürich hätte man mit einer Kandidatin Wyss kaum Probleme gehabt. Nicht so in Bern, sie ist zu perfekt für Bern. Es lässt sich auch eine Parallele zu Hillary Clinton ziehen: Beide Frauen schaffen es nicht, die Herzen der Massen zu erobern. Beide gelten als unnahbar und berechnend. Nur: Bei einem Mann würde all das eine Randnotiz bleiben.

3. Hochtourige Wahlkampfmaschinerie:
Die vergangenen vier Jahre in der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün (TVS) hat Wyss strategisch so geplant, dass sie regelmässig sichtbare Veränderungen (Verbesserungen) kommunizieren konnte. In den letzten Monaten wuchs sich dies zum Spin und „Overspin“ aus, was nicht alle Bernerinnen und Berner goutierten. Ihr Wahlkampf war von langer Hand vorbereitet, hoch professionell, er wäre fürs Lehrbuch geeignet. Ihr ihrem Team sitzen Leute, die ihr Handwerk verstehen, während die Konkurrenz teilweise nicht einmal die Basics verinnerlicht hat. Aber: Wyss’ hochtourige Wahlkampagne passt nicht zu Bern, zumal sie top down angelegt war.

wyss_612-topelementFür Alec von Graffenried wiederum werkelten viele Leute bottom up, was gelegentlich „handglismet“ wirkte, aber sympathisch war. Der GFL-Kandidat kommt an bei den Leuten, echte Feinde hat er kaum, ganz im Gegensatz zu Wyss.

Nun hat von Graffenried das Momentum auf seiner Seite, von Rechtsaussen bis Mitte-Links geniesst er mehr Unterstützung als die beiden rot-grünen Frauen. Beim zweiten Wahlgang vom 15. Januar 2017 ist er der Gejagte, die Favoritenrolle ist für ihn neu. Wyss und Teuscher bzw. ihre Parteien wollen am Mittwoch bekanntgeben, wie es weitergeht. Die Situation ist vertrackt – auch weil es die drei RGM-Parteien verpasst haben, vor dem Wahlkampf schriftlich Spielregeln zu vereinbaren.

Die GFL, 2008 (mit Daniel Klauser) und 2012 (mit Tanja Espinzsa) noch Steigbügelhalterin für die Bündnispartner, ist jetzt in einer Position der Stärke. Bei SP und GB geht es darum, sich hinter den Kulissen zu finden und nach aussen das Gesicht nicht zu verlieren. Der Wahlsieg vom letzten Sonntag verursacht in der RGM-Führungsriege Bauchgrimmen, das 4:1 – 4 RGM-Sitze, 1 Bürgerlicher (Reto Nause, CVP) – widerspiegelt die Kräfteverhältnisse nicht mehr. Dass seit 1996 bei jeder Gesamterneuerungswahl mindestens ein Bisheriger abgewählt wurde (Ausnahme war 2012), liegt am unsäglichen Wahlsystem (Proporz). Die Stadt Bern sollte es sich nicht erlauben, verdiente Gemeinderäte in die Wüste zu schicken, weil deren Listen schwächeln.


Die Konstellationen:

A) von Graffenried vs. Wyss – Teuscher verzichtet.
Addieren wir “Milchbüechli-artig” die Wähleranteile von SVP bis GFL, käme von Graffenried auf deutlich über 50 Prozent. Die Dynamik, die in den kommenden sechs Wochen aufkommen kann, wäre bei diesem Szenario ausgeblendet (dito B). Wyss fürchtet eine Niederlage.

B) von Graffenried vs. Teuscher – Wyss zieht sich zurück. SP und GB kommen, erneut gemäss Milchbüechli, zusammen auf etwa 40 Prozent.

C) Beide Frauen verzichten, von Graffenried wäre „still“ gewählt.

D) Dreikampf, wobei von Graffenried in einer solchen Konstellation so gut wie gewählt wäre. Wenn sich die beiden “Schwesterparteien” SP und GB gegenseitig Stimmen abjagen, gibt es automatisch einen lachenden Dritten.


Fotos & Grafik: Der Bund