Nun ist Alec von Graffenried der Gejagte
Publiziert am 28. November 2016Was für eine Genugtuung für die Grüne Freie Liste (GFL), diese realo-grüne Partei, die Wurzeln im progressiven Freisinn (um Leni Robert) und beim Jungen Bern von Klaus Schädelin und Mani Matter hat. Ihr Kandidat Alec von Graffenried sorgte gestern Nacht gleich doppelt für eine faustdicke Überraschung: Sowohl bei den Gemeinderats- wie bei den Stapi-Wahlen setzte er sich an die Spitze. Bei der Ausmarchung für die Exekutive distanzierte er Franziska Teuscher (Grünes Bündnis GB) um rund 3200 Stimmen, Ursula Wyss (SP) sogar um fast 5000 Stimmen. Der Zieleinlauf ist ein erster Fingerzeig.
Bei den Wahlen um die Nachfolge von Stadtpräsident Alexander Tschäppät sticht etwas ins Auge: von Graffenried ist der einzige Kandidat, der weit über sein eigens Lager hinaus Stimmen holte. Und wie: Die GFL ist eine 10-Prozent-Partei, der 54-Jährige erreichte aber einen Wähleranteil von 32.5 Prozent. Dieses Resultat ist ein zweiter und ziemlich deutlicher Fingerzeig.
Viele der rund 40’000 Stadtbernerinnen und -berner, die partizipierten, haben taktisch gewählt. Die Resultate sind für die SP ein Betriebsunfall, Kronfavoritin Ursula Wyss, die viele schon als “Die Stapi in spe” bezeichnet haben, müssen sie zu denken geben. Weshalb konnte sie ihre Favoritenrolle nicht bestätigen? Ich nenne drei Gründe:
1. Image:
Für etliche Leute ist Wyss immer noch die scharfzüngige Juso-Frau. Dass sie seit ihrer Wahl in den Nationalrat 1999, damals gerade einmal 26-jährig, Schritt für Schritt zu einer pragmatischen Politikerin im Realoflügel der SP wurde, haben sie nicht mitgekriegt. Andersrum erklärt: Wyss schaffte es nicht, ihren Wandel überzeugend zu vermitteln. Nicht zu vergessen: Es gibt einen Anti-Wyss-Reflex – auch bei einzelnen Genossinnen. Sie polarisiert, für viele Bürgerliche ist Wyss ein rotes Tuch.
2. 2Perfect4Berne:
Wyss ist klug, dossiersicher und ehrgeizig. Mit 43 Jahren auf dem Buckel hat sie bereits eine Bilderbuchkarriere hinter sich, während andere Politiker dann immer noch auf den Sprung in das kantonale oder nationale Parlament spekulieren – und mehrheitlich scheitern. Das schürt Neid. Wyss ist durch und durch Profi – so lautete auch der Titel im gelungenen Porträt der „Berner Zeitung“ –, sie ist Musterschülerin, Streberin, Karrieristin. Drei dieser vier Etiketten, die ihr umgehängt wurden, sind negativ konnotiert. In einer dynamischen Stadt wie Zürich hätte man mit einer Kandidatin Wyss kaum Probleme gehabt. Nicht so in Bern, sie ist zu perfekt für Bern. Es lässt sich auch eine Parallele zu Hillary Clinton ziehen: Beide Frauen schaffen es nicht, die Herzen der Massen zu erobern. Beide gelten als unnahbar und berechnend. Nur: Bei einem Mann würde all das eine Randnotiz bleiben.
3. Hochtourige Wahlkampfmaschinerie:
Die vergangenen vier Jahre in der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün (TVS) hat Wyss strategisch so geplant, dass sie regelmässig sichtbare Veränderungen (Verbesserungen) kommunizieren konnte. In den letzten Monaten wuchs sich dies zum Spin und „Overspin“ aus, was nicht alle Bernerinnen und Berner goutierten. Ihr Wahlkampf war von langer Hand vorbereitet, hoch professionell, er wäre fürs Lehrbuch geeignet. Ihr ihrem Team sitzen Leute, die ihr Handwerk verstehen, während die Konkurrenz teilweise nicht einmal die Basics verinnerlicht hat. Aber: Wyss’ hochtourige Wahlkampagne passt nicht zu Bern, zumal sie top down angelegt war.
Für Alec von Graffenried wiederum werkelten viele Leute bottom up, was gelegentlich „handglismet“ wirkte, aber sympathisch war. Der GFL-Kandidat kommt an bei den Leuten, echte Feinde hat er kaum, ganz im Gegensatz zu Wyss.
Nun hat von Graffenried das Momentum auf seiner Seite, von Rechtsaussen bis Mitte-Links geniesst er mehr Unterstützung als die beiden rot-grünen Frauen. Beim zweiten Wahlgang vom 15. Januar 2017 ist er der Gejagte, die Favoritenrolle ist für ihn neu. Wyss und Teuscher bzw. ihre Parteien wollen am Mittwoch bekanntgeben, wie es weitergeht. Die Situation ist vertrackt – auch weil es die drei RGM-Parteien verpasst haben, vor dem Wahlkampf schriftlich Spielregeln zu vereinbaren.
Die GFL, 2008 (mit Daniel Klauser) und 2012 (mit Tanja Espinzsa) noch Steigbügelhalterin für die Bündnispartner, ist jetzt in einer Position der Stärke. Bei SP und GB geht es darum, sich hinter den Kulissen zu finden und nach aussen das Gesicht nicht zu verlieren. Der Wahlsieg vom letzten Sonntag verursacht in der RGM-Führungsriege Bauchgrimmen, das 4:1 – 4 RGM-Sitze, 1 Bürgerlicher (Reto Nause, CVP) – widerspiegelt die Kräfteverhältnisse nicht mehr. Dass seit 1996 bei jeder Gesamterneuerungswahl mindestens ein Bisheriger abgewählt wurde (Ausnahme war 2012), liegt am unsäglichen Wahlsystem (Proporz). Die Stadt Bern sollte es sich nicht erlauben, verdiente Gemeinderäte in die Wüste zu schicken, weil deren Listen schwächeln.
Die Konstellationen:
A) von Graffenried vs. Wyss – Teuscher verzichtet.
Addieren wir “Milchbüechli-artig” die Wähleranteile von SVP bis GFL, käme von Graffenried auf deutlich über 50 Prozent. Die Dynamik, die in den kommenden sechs Wochen aufkommen kann, wäre bei diesem Szenario ausgeblendet (dito B). Wyss fürchtet eine Niederlage.
B) von Graffenried vs. Teuscher – Wyss zieht sich zurück. SP und GB kommen, erneut gemäss Milchbüechli, zusammen auf etwa 40 Prozent.
C) Beide Frauen verzichten, von Graffenried wäre „still“ gewählt.
D) Dreikampf, wobei von Graffenried in einer solchen Konstellation so gut wie gewählt wäre. Wenn sich die beiden “Schwesterparteien” SP und GB gegenseitig Stimmen abjagen, gibt es automatisch einen lachenden Dritten.
Fotos & Grafik: Der Bund
Nicht ins Lehrbuch gehört allerdings der SoMe Auftritt dieser hochprofessionellen Wahlkampagne. Nähe, Dialog, übergreifender #Hashtag usw…. Fehlanzeige. Diesbezüglich hatten die beiden besser platzierten GR die Nase (no gif) vorn.
‘@Nicole
Mich überzeugte der Social-Media-Auftritt von Alec von Graffenried nicht. Und auch die diversen Slogans sorgten für Verwirrung: Dy Stapi (oder hiess es My Stapi?), Zäme geits, Wär zäme schafft, da schaffts… Womöglich waren es noch mehr.
Wichtig war das alles nicht, aber darüber diskutieren möchte ich trotzdem mit dir, liebe Namensvetterin. Am übernächsten Freitag, gäu.
Sorry Alec von Graffenried ist kein Anfänger, er war schon mit 38 Jahren Statthalter von Bern, jetzt ist es 54, er bleibt maximal 12 Jahre Stapi. Wenn man Wyss wählt, dann bleibt die 16 Jahre und ist dann immer noch nicht 60-ig. Ausser sie wird Bundesrätin, aber dies ist doch höchst unsicher. Und Wyss verkörpert auch den Oberlehrer-Alternativlos-Merkeltyp, dass will doch heute kein Mensch! Während Coolman von Graffenried auch mal in der Aare baden geht. Ausserdem ist er bei Losinger-Marazzi d.h. er kann das Projekt Gaswerk evtl. als Stapi eher durchziehen, als Wyss die dort an dieser Stelle doch eher versagt hat.
AvG wird Stapi mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 99% in den Konstellationen A) und B) bzw. 100% für C) und D).
‘@Mark
Ich auch, freue mich.
Bis am 9ten, lieber Gruss
Nicole
‘@ Bärni Moser
Soso, “Oberlehrer-Alternativlos-Merkeltyp”, der kein Mensch will?! Ganz sachlich: Ursula Wyss hat am letzten Sonntag 12’368 Stimmen bei den Stapi-Wahlen erhalten. Das wären dann 12’368 Menschen. Aber vielleicht sind in Ihrer Wahrnehmung Bernerinnen und Berner keine richtigen Menschen. Ironie off.
@ Marc
“Mindestens 99 Prozent.” Wir bleiben dran. Ich selber sehe ja Alec von Graffenried auch in der Poleposition. Aber soooo weit wie Sie würde ich mich nicht aus dem Fenster lehnen.
[…] zentrale Bedeutung. Zwei Tage nach dem ersten Wahlgang lud Wyss zu einer Medienkonferenz ein, um ihr Festhalten an einer Stapi-Kandidatur zu bekräftigen. Der Raum hatte ungefähr so viel Charme wie eine Zivilschutzanlage, gravierend war aber das […]