Only in Switzerland

Die politisch interessierte Welt blickt in die USA. Trump oder Harris – too close to call. Viele US-Amerikanerinnen und -Amerikaner werden heute stundenlang in einer Schlange stehen müssen, um ihr Wahlrecht wahrzunehmen.

Vor wenigen Tagen sagte Bundesrat Albert Rösti an einer Veranstaltung in einer Basler Schule, dass er «eher zu Trump tendiere». Prompt sorgt diese Aussage für Wirbel. Auf der Bundesgasse stellt mir Urs Leuthard für die Sendung 10vor10 ein paar Fragen.

Nach dem Interview will ich so schnell als möglich zurück ins warme Büro. Vor dem Bundeshaus kommt mir ein Gestalt entgegen, in etwa gleich gross wie ich, aber besser gekleidet. Ich erkenne ihn. Mein Atem stockt.

«Grüessech, Herr Bundesrat!», sage ich.

Albert Rösti stoppt und schüttelt mir die Hand. Ein Wort gibt das andere. Ich warne ihn vor, dass er im «Staatssender» flach herauskommen werde und zwinkere mit den Augen. Er lächelt. Wir verabschieden uns, ich verzichte auf das Beweis-Selfie,  und er marschiert davon. Es ist weit und breit kein Bodyguard in Sicht.

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PS:
Die aktuelle Sendung von 10vor10 ist hier abrufbar, der Beitrag über Bundesrat Rösti kommt an zweiter Stelle.

PPS:
Ich tendiere übrigens zu Harris. Die Welt kann sich vier weitere Chaos-Jahre wie von 2017 bis 2020 schlicht nicht erlauben.

Berner Spesenaffäre: Bei simplen Fällen gelingt das Aussitzen nicht

Die Berner Spesenaffäre wäre nie zu einer solchen geworden, wenn der Regierungsrat den «Kassensturz»-Auftritt genutzt und erklärt hätte, worum es wirklich geht. Stattdessen schwieg er. Als die Medienwelle rollte, war das Eindämmen über die Plattform X (früher Twitter) chancenlos. Eine Dekonstruktion.

Dank der Berner Kantonsregierung weiss inzwischen die halbe Nation, dass eine Banane unter Umständen bloss 20 Rappen kostet. Die Spesenaffäre sorgt für Kopfschütteln oder Erheiterung, und sie liefert ein dankbares Sujet für die Schnitzelbänkler. Ausserdem zeigt sie exemplarisch, was passiert, wenn ein Akteur einen simplen Fall aussitzen will.

Rückblende: Der «Kassensturz» des Schweizer Fernsehens SRF recherchierte 2023 über die Spesenkultur der sieben Berner Regierungsrätinnen und Regierungsräte. Die Redaktion hatte Einsicht in die Spesenabrechnungen verlangt, was die Staatskanzlei des Kantons Bern zunächst ablehnte, später aber doch Hand bot und alle Dokumente von 2018 bis 2021 herausgab.

Spätestens zu jenem Zeitpunkt hätten der Regierung und ihren Kommunikationsfachleuten klar sein müssen, dass irgendeinmal über dieses Thema berichtet wird. Sie hätten mehrere Monate Zeit gehabt, die Medienlogik zu antizipieren und die Reaktion in Ruhe vorzubereiten.

Die Einladung des «Kassensturz», an der Theke Auskunft zu geben, wollte kein Regierungsmitglied wahrnehmen. Das war ein folgenschwerer Fehler. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Sache zu erklären: Zunächst – natürlich! – eine Entschuldigung für die wenigen Fehlbuchungen aus den Jahren 2018 und 2019 mit geringen Beträgen (wie der Banane für 20 Rappen). Dann der Hinweis, dass die Spesenverordnung 2021 überarbeitet worden war. Anhand dieses Dokuments kann man aufzeigen, welche Spesen zur Pauschale gehören und welche einzeln abgerechnet werden. Mit anderen Worten: Die Abrechnungspraxis ist transparent und rechtens, moralinsaures Nachhaken wäre abgeprallt. Schliesslich hätte ein rhetorisch fitter Regierungsrat während des Live-Interviews erwähnen können, dass man in der Spesenverordnung neu einen Minimalbetrag festlegen will. (Just das hat der Regierungsrat am Mittwoch nun entschieden.)

Stattdessen schwieg die Gesamtregierung, während Regierungspräsident Philippe Müller die Plattform X und eine Parteiversammlung nutzte, um sich zu erklären, was prompt in die Medien schwappte. Als die Medienwelle schon am Rollen war, versuchte der Kommunikationsdienst des Kantons, sie mit Tweets zu dämmen. Nur ein Beispiel: «Es gibt kein Regierungsmitglied, das Kleinstbeträge als Spesen abrechnet – erst recht nicht systematisch.»

Passiert ist das vor Jahren in ein paar Einzelfällen eben doch – dumm gelaufen, ungeschickt und kakophonisch kommuniziert.

Die Story war viel zu süffig, um nicht sofort einzuschlagen. Im Zeitalter des Clickbait-Journalismus ist sie ein Geschenk. Praktisch alle anderen Medien sprangen auf, viele Beiträge haben einen spöttischen Unterton.

Machen wir zwei Schritte zurück: Dieser Fall ist Pipifax und die Story ist bei Lichte betrachtet dünn. Ein «Mea Culpa» im «Kassensturz», gefolgt von einer Einbettung an der Theke (das hat nicht mit einer Rechtfertigung zu tun) – so hätte sich kein Krisenherd entzündet. Nur das defensive Vorgehen der Regierung und die lamentable Kommunikation haben diesen Fall zur Spesenaffäre gemacht. Der Imageschaden ist angerichtet, und weil die Story so simpel ist, bleibt sie uns weit über die Fasnacht hinaus in Erinnerung.

Dieser Beitrag ist zuerst beim Online-Magazin «Persönlich» erschienen.

NACHTRAG: In der Kommentarspalte wird ergänzend ein Gast-Kommentar von Adrian Ritz, Professor für Public Management, sowie der FDP des Kantons Bern aufgeschaltet.

Wie Sascha Ruefer ins Offside tappte

Sascha Ruefer liebt das Spektakel im Fussballstadion. Über Ostern geriet er selbst in den Strudel eines üblen Spiels, bei dem es um Rassismusvorwürfe und journalistische Ethik geht. Bislang wenig beleuchtet wurde die Rolle des Regisseurs, der den Dokfilm realisierte. Hätte der TV-Kommentator allerdings drei Punkte beachtet, wäre er nicht ins Offside getappt.

Während der Fussball-WM in Katar gibt Ruefer dem Regisseur eines Dokfilms über die Schweizer Fussballnationalmannschaft ein Interview. Simon Helbling dreht dort im Auftrag von SRF für den Sechsteiler «The Pressure Game – im Herzen der Schweizer Nati». Der offizielle Teil dauert 45 Minuten. Für die Schnittbilder führen die beiden das Gespräch auf der Couch weiter, was weitere 20 Minuten Rohmaterial abwirft. In diesem «Off the record»-Teil machte Ruefer eine Aussage, die ihm jetzt um die Ohren fliegt.

Die ominöse Aussage wurde geleakt und landete schliesslich bei der Wochenzeitung WOZ, die am Gründonnerstag ihren Artikel mit dem Titel «Der Schweizermacher» lanciert. Bei ihr lautet das Zitat so: «Granit Xhaka ist vieles, aber er ist kein Schweizer.» Die WOZ reisst es aus dem Kontext und gibt ihrer Story einen eigenen Spin. Die Aussage sei «klar rassistisch», schreibt sie. Inzwischen ist der Kontext geklärt: Ruefer sprach nicht über die Person Xhaka, sondern über dessen Führungsverständnis als Kapitän der Nationalmannschaft.

Der Rassismus-Vorwurf zusammen mit den Reizfiguren Ruefer und Xhaka – dieser Mix ist explosiv. Auf Twitter zoffen sich alsbald Rassismus-Expertinnen und Fussballfans, die genau wissen, was richtig und was falsch ist. Über journalistische Standards wissen sie weniger Bescheid. Andere Medien ziehen nach, Clickbait winkt von der Seitenlinie und ein Sportjournalist gibt den TV-Star bereits zum Abschuss frei («Ohne Gegenbeweis ist SRF-Reporter Sascha Ruefer kaum zu retten»). SRF, Ruefer und die private Produktionsfirma gehen zunächst auf Tauchstation, der Brand greift um sich.

Schlaglicht auf die Krisenkommunikation: Am Gründonnerstag sortieren sich SRF und Ruefer. Am Karfreitag laden sie ein paar routinierte Sportjournalisten von «Blick», «Tages-Anzeiger», NZZ, CH-Media sowie «20 Minuten» ein und zeigen ihnen die Rohversion des Gesprächs, also die vollen 65 Minuten. Das stellt endlich den richtigen Kontext her – und wirkt: die Berichterstattung ist seit Samstag differenzierter, Ruefer wird entlastet.

Was ein paar Medien in der ersten Phase lieferten, war kein Ruhmesblatt. Ruefer ist allerdings selbst schuld, dass er ins Offside tappte. Drei Punkte, die bei Interview-Settings immer gelten:

– Schlüsselfiguren sollten stets einen «Watchdog» dabeihaben, das heisst eine Fachperson, die zusieht und genau zuhört. Ist eine Aussage problematisch oder falsch, interveniert sie sofort, also unschweizerisch direkt. Das ist in Doha genauso möglich wie in Diessenhofen oder Dublin.

– Auch in einem Dokfilm ist Kürze gefragt. Bei Interviews braucht es einen klaren Fokus und wenige Fragen dazu. Der Fokus wird im Vorfeld gemeinsam geklärt. Wer sich in ein langes Gespräch verwickeln lässt, kann ins Plaudern kommen. Routine und Selbstgefälligkeit sind in solchen Fällen gefährlich.

– Jedes Interview besteht aus einem Vorgespräch (hinter der Kamera, ohne Aufzeichnung!), dem eigentlichen Interview und einem dritten Teil, der sogenannte Einführungs- und Schnittbilder liefert. Sie zeigen den Gast beispielsweise lesend oder diskutierend. Wenn ich als «Watchdog» engagiert bin, lege ich stets im Vorfeld fest, dass im Nachgespräch ein unverfängliches Thema besprochen wird, etwa der letzte Urlaub. Keinesfalls darf es sich um das Hauptthema drehen.

Viele Regisseure zeichnen «off the record» auf – absichtlich

In Ruefers Fall wurden die Kameras nach dem Interview nicht gestoppt, das Gespräch ging aber «off the record» weiter. Viele Filmregisseure gehen absichtlich so vor, weil sie wissen, dass ihre Interviewpartner nach dem offiziellen «Schluss – das war’s!» entspannter antworten. Fakt ist, dass es journalistische Standards verletzt, wenn Aussagen aus einem «Off the record»-Gespräch verwendet werden. In der ersten Version von «The Pressure Game» war das ominöse Zitat drin.

Aus dem 65-minütigen Gespräch mit Ruefer schafften es nur ein paar wenige Quotes in den Film. Dass in der ersten Version just das problematische Zitat dabei war – aus dem Kontext gerissen –, mag Zufall sein. Vielleicht wollte Regisseur Helbling aber bewusst Öl ins Feuer giessen, zumal sich Ruefer schon seit Jahren an Xhaka reibt. Wäre die erste Version ausgestrahlt worden, hätte das zu einer kompletten Eskalation geführt.

Beim Autorisieren machte Ruefer die Produktionsfirma darauf aufmerksam, dass der ominöse Satz missverstanden werden könne und «off the record» gefallen sei. Daraufhin wird die Aussage aus der Rohschnittversion entfernt.

Regisseur Helbling veröffentlichte am Montagabend eine Stellungnahme. Darin hält er fest, die Kontrollmechanismen hätten «wie vorgesehen gegriffen». Das würde zutreffen, wenn er die missverständliche Aussage gar nie für eine Veröffentlichung vorgesehen hätte. Die belastende Situation, «vor allem für Sascha Ruefer, der diese mediale Vorverurteilung über sich ergehen lassen musste», bedauert er. Angemessen wäre es gewesen, nicht nur zu bedauern, sondern um Entschuldigung zu bitten. Ein ehrliches Exgüsé würde allerdings auch Ruefer gut anstehen, seine Aussage bleibt problematisch.

 


Dieser Text ist zeitgleich bei «Persönlich», dem Onlineportal der Kommunikationsbranche, erschienen. 

Foto: keystone

 

Nachtrag vom 13. April 2023:
Die «Wochenzeitung» nimmt sich diesem Thema erneut an. Sie erklärt, wie ihr Redaktor beim Artikel vor Wochenfrist vorgegangen war, wie sie die Sache sieht und weshalb sie die journalistische Sorgfaltspflicht nicht verletzt.

Die Gier nach Geld machte ihr den Garaus

Das letzte Wochenende habe ich mit ein paar feinen Leuten in Engelberg verbracht. Irgendwo im Schnee entdeckten wir tatsächlich jemanden, der die legendäre SKA-Mütze aus den Siebzigerjahren trug. Sie ist Kult, die Credit Suisse hingegen ist: Geschichte. Alfred Escher, der die Schweizerische Kreditanstalt (SKA) 1856 gegründet hatte, um das Eisenbahnnetz zu finanzieren, würde sich im Grab umdrehen.

Die Schweiz gilt als Hort der Stabilität. Doch im Moment wankt sie: Eben hat die UBS, die grösste Bank des Landes, die zweitgrösste «gerettet». Sonst wären die Credit Suisse und mit ihr viele kleine Banken, zahllose KMU usw. in den Abgrund gerissen worden, was unter Umständen weltweit eine Finanzkrise ausgelöst hätte. Der Bundesrat hat die Übernahme mit einer Notverordnung orchestriert und vielleicht stimmt es, dass dies die beste aller schlechten Optionen ist.

Mächtige Player aus den USA, Grossbritannien und Saudi-Arabien wollten mit der Credit Suisse einen Konkurrenten aus dem Weg räumen. Sie bot sich an, weil sie schwächlich geworden war. Im Jahr 2007 notierte die CS-Aktie bei 80 Franken, am Freitagabend bei Börsenschluss noch bei 1 Franken 86. Diese Talfahrt ist beispiellos, und sie hat einen Grund: Die Boni-Kultur höhlte das Unternehmen von innen immer mehr aus. Selbst wenn die Credit Suisse tiefrote Abschlüsse machte, durften sich ihre Manager bedienen. Nach vielen Fehlern und Skandalen war das Vertrauen schliesslich im Eimer. Der gigantische Kapitalabfluss der letzten Phase (bis zu 10 Milliarden Franken pro Woche) zeigt dies eindrücklich.

In den letzten 20 Jahren hat die Credit Suisse 42 Milliarden Franken Boni ausbezahlt – 42’000’000’000 Franken! Wie kaputt ist diese Bank? Das krasseste Beispiel: Brady Dougan kriegte 2009 nebst seinem fixen Gehalt von 18 Millionen einen Bonus von 71 Millionen Franken. Die Gier der Manager nach dem schnellen Geld hat ihr schliesslich den Garaus gemacht.

Gestern Abend traten einzelne Figuren von Bundesrat, Nationalbank, Finma, UBS und CS vor die Medien. Schuld am Aus der Credit Suisse seien «Gerüchte auf Social Media», wurde erläutert. Und die «Too-big-to-fail»-Regulierung funktioniere in der Schweiz gut.

Fakt ist: Die Finanzmarktaufsicht (Finma) hat die «To-big-to-fail»-Regulierung, die nach der Finanzkrise 2008 eingeführt wurde, noch gar nie angewendet. Die Trennung der Banken nach Sparten – hier klassische Dienstleistungen wie die Kreditvergabe, dort das hochriskante Investmentbanking – war vor ein paar Jahren im Parlament nicht mehrheitsfähig.

Für gerade einmal 3 Milliarden Franken reisst sich die UBS die Credit Suisse unter den Nagel. Das ist ein Spottpreis. Seitens des Staats gibt es eine Defizitgarantie von 9 Milliarden Franken, die Nationalbank hilft bei Bedarf mit einem Darlehen von bis zu 200 Milliarden Franken. Mir wird schwindlig. Doch zurück zur Medienkonferenz:

 Hörten wir gestern Abend einen kritischen Nebensatz von Finanzministerin Karin Keller-Sutter oder Bundespräsident Alain Berset an die Adresse der CS-Spitze? Nada.
 Hörten wir eine leise Selbstkritik seitens der CS-Spitze? Nada. Man müsse sich jetzt auf die Zukunft konzentrieren, sagte Verwaltungsratspräsident Axel Lehmann.

 «Ach, ihr geldgetriebenen Säcke!», stöhnt Bürokollege Suppino leise!

Wenn alles gut läuft beim Entstehen der neuen Riesen-Bank, braucht es unsere Steuergelder nicht. Die wichtigste Währung in diesem Game: Vertrauen. Das wird eine anspruchsvolle Übung. Nicht zu vergessen: Das eidgenössische Wahljahr hat seit gestern ein Mega-Thema. Die Parteien werden sich von heute an überbieten mit Forderungen und Anschuldigungen.

PS:
Buchtipp zum Thema: «Frühling der Barbaren» von Jonas Lüscher. Die Novelle kam zwar schon vor zehn Jahren heraus, ist aber wieder brandaktuell und ein famoses Stück Literatur.

Foto: Der Spiegel

Berset versucht, auch diese Affäre auszusitzen

Während der Pandemie soll es eine Standleitung zwischen Alain Bersets Kommunikationschef und dem CEO des Ringier-Konzerns gegeben haben. Regelmässig informierte Peter Lauener Marc Walder per E-Mail, welche Anträge Berset an der nächsten Bundesratssitzung stellen wird. Er leakte also vertrauliche Informationen, der «Blick» konnte so immer wieder mit Primeurs aufwarten.

Das ist die Essenz dessen, was die «Schweiz am Wochenende» publik machte.

Die Corona-Leaks bringen nun die Drähte zum Glühen, zumal es den Überflieger in der Landesregierung betrifft und im eidgenössischen Wahljahr viele Akteure ihre Süppchen kochen.

Ich versuche, fünf wichtige Punkte dieses Falles aufzudröseln.


1. Wer steht in der Kritik?

Es handelt sich zunächst um einen Fall Lauener und einen Fall Walder. Im Fokus stehen der frühere Kommunikationschef von Alain Berset, Peter Lauener, und der CEO des Ringier-Konzerns, Marc Walder.

Medien müssen kritisch beobachten und berichten, dürfen sich aber nicht mit einer Sache gemein machen. Das vergassen Walder und der «Blick» offensichtlich.

Ob daraus ein Fall Berset wird, ist zurzeit offen. Er sagt, er wisse nichts von den Kontakten zwischen Lauener und Walder. Kraft seines Amtes konzentriert sich das Interesse natürlich auf Berset.

Er überlebte in den letzten Jahren mehrere Affären, die er jeweils als privat deklarierte und schnell entschärfen konnte. Die Corona-Leaks haben allerdings eine andere Dimension.

Wegen der Summe aller Affären hat Berset viel an Glaubwürdigkeit verloren. Das zeigte sich bereits bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 7. Dezember, als er nur 140 Stimmen erzielte.

Jeder Fall oder Fehltritt von öffentlichen Personen hat eine moralische Beurteilung zur Folge. Sie kommt schnell, die juristische Aufarbeitung hingegen braucht meistens einige Monate.


2. Berset sagt zum regen Austausch zwischen Lauener und Walder: «Ich weiss es nicht. Ich kann es nicht wissen.» Ist das glaubwürdig?

Peter Lauener war seit dem Amtsantritt Bersets im Januar 2012 bis zu seinem leisen Abgang im Frühsommer 2022 eine zentrale Figur im Innendepartement (EDI). Er gilt als brillanter Stratege und Redenschreiber und hat grossen Anteil an der Figur Berset, wie sie die Öffentlichkeit wahrnimmt. Das Duo harmonierte gut, Lauener war Bersets Schatten.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass Berset nicht um Laueners Austausch mit dem Ringier-Manager wusste. Falls dem so war, muss Berset sich den Vorwurf gefallen lassen, seinem wichtigsten Sparringpartner eine sehr lange Leine gelassen zu haben.


3. Berset schweigt. Ist das eine gute Strategie?

Bundesrat Berset äusserte sich am Samstagabend gegenüber Radio RTS und sprach dabei von «illegalen Indiskretionen». Dass jemand in seinem Departement über eine längere Zeitspanne vertrauliche Informationen weitergab, blendete er natürlich aus.

Es gibt aktuell keine Strafuntersuchung gegen Berset. Er markierte beim RTS-«Forum» Präsenz und drehte den Spiess um. Jetzt wird er schweigen und versuchen, auch diese Affäre auszusitzen.

Die beiden Geschäftsprüfungskommissionen sind wegen anderen Indiskretionen aus dem Bundeshaus längst an der Arbeit. Sie werden nun auch diesen Fall anschauen. Allerdings sind ihre Möglichkeiten beschränkt.


4. Wie grosse ist der Schaden für Bersets Partei, die SP?

In Wahljahren sind alle Parteien nervös, jede möchte, dass ihre Mitglieder im Bundesrat beim breiten Publikum gut ankommen. Dass es in Bersets Departement wieder rumpelt, setzt die SP und den Gesundheitsminister unter Druck. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass verschiedene Akteure diese Affäre parteipolitisch ausschlachten wollen. Die SP bleibt auch bei einem allfälligen Rücktritt in einer vertrackten Lage.


5. Lauener informierte Walder einmal darüber, dass ein 100-Millionen-Franken-Deal mit Biontech/Pfizer vor der Unterzeichnung stehe.

Das ist so, und der Kurs dieser Aktie stieg in den darauf folgenden Wochen massiv. Wer in jener Phase einstieg, verdiente viel Geld. Die Informationen waren börsenrelevant. Ob das Weitergeben dieser Insider-Informationen strafrechtlich verfolgt werden kann, weiss ich nicht.

 

Foto Alain Berset & Marc Walder: Watson

Cassis’ Fehltritt auf der Weltbühne

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses Sprichwort drängt sich auf, um den jüngsten Fall von Bundespräsident Ignazio Cassis zu gewichten.

Es ist wertvoll, dass Cassis während der UNO-Generalversammlung den russischen Aussenminister Sergej Lawrow zu einem Gespräch traf. Auch wenn die Erfolgschancen im Promillebereich liegen, soll sich die offizielle Schweiz immer darum bemühen, ihre Guten Dienste anzubieten. So wie sie seit Langem erfolgreich den Austausch zwischen den USA und Iran sowie den USA und Kuba ermöglicht.

Das Foto, das seit gestern Mittwoch in den (sozialen) Medien kursiert, zeigt Lawrow und Cassis beim Händeschütteln. Beide blicken in die Kamera. Die Suggestivkraft von Bildern ist enorm. Es erstaunt deshalb nicht, dass das russische Aussenministerium dieses Foto via Twitter verbreitete (siehe Printscreen oben). Die Botschaft ist zu gut, um sie nicht für Propagandazwecke zu nutzen. Der Aussenminister der Schweiz rehabilitiert eine der Schlüsselfiguren Russlands, und das just am Tag an dem Wladimir Putin eine Teilmobilmachung befohlen hat.

Dumm gelaufen.

Es ist weit mehr als das, und deshalb treffen kritische Worte wie «unsensibel» und «ungeschickt» daneben.

Cassis ist Lawrow in die Falle getappt, wie ich im Interview mit dem Online-Portal «Blue News» ausführe (nachträglich eingefügt).

Ich arbeitete 1996/97 in Bosnien, also direkt nach dem Krieg dort, und zwar im Hauptgebäude der OSZE-Mission in Sarajevo. Es kam regelmässig zu Treffen zwischen Diplomaten, Spitzenpolitikerinnen und mutmasslichen Kriegsverbrechern. Es galt, sich jeweils im Vorfeld gut zu überlegen, welche Bilder man ermöglichen wollte. Mit den Handys konnte man damals keine Fotos machen, Social Media existierten noch gar nicht. Es war einfacher als heute, aber immer noch knifflig.

Doch zurück zur UNO. An ihren Anlässen sind stets Fotografen zugegen, die in der Regel zu Beginn auf den Auslöser drücken dürfen. Das ist Standard.

Selbstverständlich darf Cassis Lawrow die Hand geben. Es macht aber einen himmelweiten Unterschied, ob er dabei für einen Fotografen händeschüttelnd posiert oder dem Russen für ein paar Sekunden die Hand gibt, ihm entschlossen ins Gesicht blickt und sich von der Seite ablichten lässt.

Es ist die Aufgabe von Cassis’ Beraterstab, im Vorfeld jede Eventualität und jedes Risiko zu antizipieren und den Chef darauf vorzubereiten. Womöglich hat er das nicht getan. Oder er hat es getan, aber der Aussenminister reagierte im entscheidenden Moment falsch.

Cassis bemüht sich seit Jahren, als Macher wahrgenommen zu werden und an Statur zu gewinnen. Dabei unterlaufen ihm immer mal wieder kommunikative Fehler. Im vorliegenden Fall wollte er gestärkt von der Weltbühne New York in die Schweiz zurückkehren. Er, der sich mit entschlossenem Blick an einen Tisch mit Lawrow zeigt (siehe unten). Wegen seines Fehltritts bleibt uns freilich das «Handshake»-Foto in Erinnerung.


Nachtrag:

Was ich der Nachrichtensendung «Telegiornale» von RSI zum Thema sagte.

– Komplett anderer Meinung ist Alt-Bundesrat Pascal Couchepin: Er findet die Kritik an Cassis «lächerlich», wie er gegenüber der «Tagesschau» von SRF sagte.

So höhlt Marc Walder den Journalismus aus

Kaum hat das neue Jahr angefangen, erhöht sich die Temperatur in der Medienszene: In einem Video, das die Gegner des neuen Mediengesetzes in Umlauf gebracht haben, machte Ringier-CEO Marc Walder eine brisante Aussage: Wegen der Coronakrise plädierte er dafür, «die Regierung zu unterstützen».

Das Video ist echt, die Sequenz stammt von einer Online-Veranstaltung der Schweizerischen Management Gesellschaft, die Walder am 3. Februar 2021 zu ihrem «Inspirational Talk» eingeladen hatte.

Transkribieren wir, was jetzt Walder und Ringier um die Ohren fliegt:

«Wir hatten in allen Ländern, wo wir tätig sind – und da wäre ich froh, wenn das in diesem Kreis bleibt –, auf meine Initiative hin gesagt: Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere Berichterstattung, damit wir alle gut durch die Krise kommen.»

Professioneller Journalismus ist unbefangen, er bleibt gegenüber allen Akteuren kritisch und auf Distanz. Er macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten Sache.

So steht es sinngemäss in den Lehrbüchern, so wird es gelehrt und vom Nachwuchs diskutiert. Walder, in den Neunzigerjahren Absolvent der Ringier-Journalistenschule, hat das offensichtlich ausgeblendet, weil wir in der grössten Krise seit Jahrzehnten steckten.

In grossen Interviews, etwa bei Radio SRF (nachträglich ergänzt, 4.1.2022, Red.) oder in der NZZ (hier auch als PDF greifbar) erklärt sich Walder heute. Er macht das nicht schlecht, unterlässt es aber, sich für diesen Schlüsselsatz, der einem Aushöhlen des Journalismus gleichkommt, zu entschuldigen. Hätte er angekündigt, dass von externer Seite eine Untersuchung vorgenommen werde, wäre das ein Befreiungsschlag geworden.

Schwenkten die Redaktionen aber tatsächlich auf einen regierungstreuen Kurs ein?

Anhaltspunkte liefern die Erhebungen, die das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Uni Zürich macht. In der Studie über den Pandemie-Frühling 2020 steht: «Es lässt sich nicht behaupten, dass die Medien generell unkritisch über Behörden und die Regierung berichtet haben.» Untersucht wurden u.a. die beiden Ringier-Titel «Blick» und «SonntagsBlick».

Interessant ist auch der «Abstimmungsmonitor» des fög zur Covid-Abstimmung im November letzten Jahres. Er zeigt, dass die Tonalität beim «Blick» einen Wert von +16 aufweist, beim «SonntagsBlick» +35. Bei einer massiven Pro-Berichterstattung wären die Werte deutlich höher ausgefallen. Auf der Gegenseite zeigt das die «Weltwoche»: Sie notiert bei –100, dem Maximum.

Andere Ringier-Titel wie die «Schweizer Illustrierte», die «Glückspost» oder «Tele» erhebt das fög nicht. Ich habe diese Blätter in den letzten Jahren nicht mehr in den Händen gehalten und kenne ihre Ausrichtung nicht. Die Vermutung ist aber naheliegend, dass auch sie sich schwergewichtig mit der Corona-Thematik befassten. Während des ersten Lockdowns im Frühling 2020 erschienen in der Schweiz jeden Tag mehr als 1500 Berichte über die Coronakrise.

Dass das Video ausgerechnet jetzt ausgespielt wurde, war kein Zufall, sondern strategisch geplant: Die Abstimmung zum Mediengesetz findet in knapp sechs Wochen statt. Für Campaigner ist es ein Glücksfall, wenn sie solches Material verwenden können.

Mastermind der Nein-Kampagne ist übrigens der ehemalige «Weltwoche»-Journalist Philipp Gut. Lanciert wurde das Video im «Nebenspalter» von Markus Somm, der früher für «Weltwoche» und «Basler Zeitung» tätig war.

– Nachtrag vom 5. Januar 2022:
Heute meldet sich Verleger Michael Ringier im «Blick» zu Wort. Es gehöre «zum Alltag in unserem Geschäft, dass journalistische Heckenschützen» zum Teil handfeste politische Absichten hätten. Es sei eine Unterstellung, dass Journalismus nach Weisung betrieben werde.

– Nachtrag vom 6. Januar: 
Heute äussert sich die siebenköpfige Chefredaktion der «Blick»-Gruppe zur Causa Walder. Es habe nie einen «Befehl» des CEO gegeben, und «Blick» hätte ihn auch nicht ausgeführt. «Es ist nicht die Kultur, die wir bei Ringier kennen.» Die Corona-Berichterstattung der vergangenen fast zwei Jahre zeige es: “«Blick» war nicht regierungstreu, sondern nach bestem Wissen und Gewissen faktentreu.” Unzählige Male habe man den Bundesrat und Kantonsregierungen kritisiert und ihre Entscheide hinterfragt.

So wird der Bundesrat zum Bittsteller

Das nationale Parlament stimmt laufend über Kleinkram ab, das Schweizer Volk tut dasselbe regelmässig. Aber ausgerechnet beim seit Jahren wichtigsten Thema, dem Rahmenabkommen, können weder das Parlament noch das Volk mitreden, und auch die Kantone bleiben aussen vor. Das ist ein Affront.

Der Bundesrat hat gestern entschieden, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Eine Volksabstimmung über das Rahmenabkommen sei nicht zu gewinnen, behauptet ein vielstimmiger Chor seit Jahren. Viele Sänger behaupteten das bereits, als die Verhandlungen noch im Gange waren. Andere wiederum machen seit Langem Stimmung gegen das Rahmenabkommen, ohne sich darum zu kümmern, was in diesem 30 Seiten umfassenden Vertrag steht. Wer es als tauglich bezeichnet, wird als «EU-Turbo» etikettiert. Das Niveau der Debatte: jämmerlich.

Tatsache ist, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Inzwischen existieren rund 140 verschiedene bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Das Rahmenabkommen hätte fünf Verträge und alle künftigen tangiert. Angesichts solcher Zahlen ist es unverfroren, von einem «Unterwerfungsvertrag» zu reden. Die EU und die Schweiz pflegen unterschiedliche Traditionen, wie sie Streitpunkte klären. «Brüssel» tut es juristisch, die Schweiz politisch.

Der Bundesrat hat also den roten Knopf gedrückt. Seit 2008, als die einheitliche Rechtsauslegung erstmals auf Tapet kam, hat er es nicht geschafft, in der Europapolitik eine Strategie zu entwickeln. Stets waren drei oder sogar vier verschiedene Positionen am Bundesratstisch vertreten. Die Landesregierung besteht aus sieben Einzelkämpfern, die Angst vor Abstimmungsniederlagen und der eigenen Abwahl haben. Was klar ist:

1.)  Es gibt keine neuen bilateralen Verträge mehr, die alten setzen Rost an. So bleibt beispielsweise das seit Langem geplante Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

2.)  Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird ungleich schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.

3.)  Das Narrativ «souverän seit 1291» ist in unserem Land weiterhin ungemein stark. Nicht die drei Eidgenossen haben die Neutralität der Schweiz erfunden, sondern der Wiener Kongress 1815. (Ein Schweizer sass damals übrigens nicht am Verhandlungstisch.)

Wichtig wäre jetzt, dass man die europäische Idee wieder in den Vordergrund rückt. (Mit «EU-Turbo» hat das nichts zu tun.) Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich zusammen mit der Wirtschaft und der Forschung zu einer soliden Allianz formieren, könnten eine ernsthafte Debatte anstossen und so eine Deblockierung der Europapolitik erreichen.


Ergänzende Leseempfehlung:

– Das Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier – hier als PDF verlinkt.
Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

– Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)

Die Zeitungsente, die alle aufgeschreckt hat

Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: Seit dem 1. Januar 2020 wurden rund 352’000 Artikel zum Thema «Coronavirus» referenziert. Im Durchschnitt sind das 800 Artikel pro Tag, die in Wellen über uns hinwegrollen. Einige sind von Bedeutung, andere schon Stunden nach ihrer Publikation wieder überholt und vergessen.

Die Story, welche die Tamedia-Zeitungen am Abend des 10. März online und tags darauf in ihren Printausgaben von Winterthur bis Interlaken bringt, ist ein ganz anderes Kaliber. Sie suggeriert, dass es einen schnellen Weg zurück in die Normalität gegeben hätte.

Titel und Lead lassen keine Zweifel aufkommen: Der Bund hat es versemmelt. Gesundheitsminister Alain Berset erkannte im letzten Frühling die Riesenchance nicht, Lonza ein Vakzin aus der Schweiz für die Schweiz produzieren zu lassen. Der eitle, omnipräsente und laut Umfragen beliebteste Bundesrat machte also einen groben Fehler. Skandalös! Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die gut bezahlten Bürokraten, wie sie oft genannt werden, schon lange angeschossen. Von ihnen Agilität und Tempo zu erwarten, liegt ausserhalb des Vorstellbaren. Ein explosiver Plott, der in diesem Artikel angerichtet wird.

Die Story geht durch die Decke, Dutzende von anderen Medien greifen sie auf (hier: der «Blick»), das Thema ist gesetzt.

Im Bundeshaus läuft die zweite Sessionswoche, und die Wogen gehen hoch. Die Politik ist aufgeschreckt und macht Lärm, die Fraktionen wollen sich profilieren. So spricht die FDP Schweiz von einem Donnerschlag und verlangt Klärung, «bei Bedarf durch eine PUK», also einer Parlamentarischen Untersuchungskommission, wie sie im Fall Kopp oder bei der Fichenaffäre zum Zuge kam.

Ein paar Tage später wird klar, dass die Tamedia-Story eine Zeitungsente ist. (Die entscheidenden Artikel befinden sich am Ende dieses Postings.)

Vermutlich hilft ein Vergleich: Nehmen wir an, dass Sie an einem schönen Südhang ein neues Haus bauen wollen. In einem solchen Fall verhandeln Sie nicht mit dem Gipser, der auf der Parzelle nebenan arbeitet. Nein, sie verhandeln mit der Architektin, die das Projekt im Auftrag der Bauherrschaft entwickelt.

Lonza ist in der Rolle des Gipsers. In ihrem Werk in Visp produziert sie den Wirkstoff, also bloss einen Teil des Impfstoffs, und das im Auftrag von Moderna. Die Rechte liegen bei der Biotech-Unternehmung aus den USA, sie entscheidet, an wen der Impfstoff verkauft wird.

Berset und die BAG-Spitze hatten im Frühling 2020 keinen Spielraum, um auf eine eigene Produktionsanlage in Visp hinzuwirken. Das wäre auch sehr riskant gewesen, zumal man damals noch nicht wusste, welche Impfstoffe eingesetzt werden können.

Doch der Schaden in der Öffentlichkeit ist längst angerichtet: Das BAG mit Anne Lévy und Nora Kronig im Brennpunkt wird in Kommentarspalten, Leserbriefen und sozialen Medien an den Pranger gestellt. Im Volk sind die Zweifel am Impfplan noch einmal etwas grösser geworden. Und die FDP forderte tatsächlich auf Basis einer Zeitungsente eine Untersuchung, bei Bedarf eine PUK.

Am 16. bzw. 17. März berichten die Tamedia-Zeitungen erneut prominent über den Fall. Konkret korrigieren sie die Story der Vorwoche, nennen das allerdings «neue Recherchen». Sowohl auf ihren Online-Portalen wie im Print platzieren sie eine «Korrektur» (siehe nebenan). Ein aufmerksamer Twitterer weist darauf hin und bringt so den Stein ins Rollen.

Eine Entschuldigung für die schlampige (oder bewusst perfide) Arbeit sucht man vergebens, auch am Tag danach.

Gestern Morgen mailte ich Chefredaktor Arthur Rutishauser und der Medienstelle von Tamedia fünf Fragen zu diesem Fall.

Ich bitte Sie höflich, folgende Fragen schriftlich zu beantworten.

1.  Nehmen bei aufwändigen Recherchen zu heiklen Themen andere Redaktionsmitglieder einen zweiten Faktencheck vor, bevor der Artikel jeweils publiziert wird? Es geht hier explizit um tagesaktuelle Titel, nicht um die «SonntagsZeitung», und es geht um das grundsätzliche Meccano.

2.  Aus welchen Gründen blieb die Zeitungsente vom 10./11. März zunächst unerkannt?

3.  Ist die Reaktion, die Tamedia am 16./17. März mit der Notiz «Korrektur» platzierte, adäquat?

4.  Wie behandelt die Chefredaktion diesen Fall?

5.  Wie reduzieren Sie in Zukunft das Risiko solch gravierender Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Journalismus und von Tamedia beeinträchtigen?

Gestern Abend ging Arthur Rutishausers Antwort via Medienstelle ein. Er beantwortet meine Fragen summarisch.

«Wir haben den ursprünglichen Artikel transparent korrigiert und aufgezeigt, was wir darüber wissen wie der Sachverhalt war. Alle involvierten Stellen wurden immer mit allen Sachverhalten konfrontiert und haben teilweise auch Stellung genommen. Offen bleibt, warum in der Schweiz scheiterte, was in den USA funktionierte – und dem gehen wir weiter nach.»

Rutishauser erkennt also keine Fehler seitens der Tamedia-Redaktion, ein schlichtes Pardon bleibt aus.

Die Tamedia-Zeitungsente hat bislang erst «Persönlich», das Portal der Kommunikationsbranche, aufgegriffen. Medienkritik hat es schwer in diesem Land – weil es keine Fehlerkultur gibt. Aber auch heute werden die Wellen wieder 800 neue Artikel zum Thema Coronavirus heranspülen.

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Nachfolgend die beiden Artikel der Tamedia-Zeitungen als PDF. Die Namen der beteiligten Medienschaffenden sind eingeschwärzt:

Bund wollte keine eigene Impfstoffproduktion
(11. März 2021)

Warum die Gespräche zwischen Berset und Lonza im Sand verliefen
(17. März 2021)

Von Anfang an einen soliden Job machte die NZZ mit ihrer Einordung:
Der Bund taugt nicht zum Impfstoff-Hersteller
(13. März 2021)

Ein Anschlag auf die Demokratie

Als ich gestern nach 22 Uhr das MacBook aufklappte und erste Tweets über den Krawall in Washington las, wähnte ich mich im falschen Film. Doch nachdem ich mir mehrmals kräftig in die Seite gezwickt hatte, musste ich erkennen: Die verstörenden Bilder sind echt. (Hier ein erhellendes 7-Minuten-Video von ITV.)

Tausende von Trump-Anhängern rissen die Abschrankungen vor dem Capitol nieder und stürmten es. Einzelne waren bewaffnet und verwüsteten die Büros. Die Mitglieder des Parlaments mussten vorübergehend in die Keller evakuiert werden. Inzwischen kursieren Videosequenzen, auf denen man sieht, dass die Sicherheitskräfte zum Teile keine Gegenwehr leisteten.

Was da passierte, ist ein Anschlag auf die Demokratie.

Die letzten vier Jahre Trump als «Freak-Show» und Auslöser zu bezeichnen, greift viel zu kurz. Er ist das Resultat einer Entwicklung, die zu Beginn der Achtzigerjahre begann: Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan (1980 – 1988) wurde das Militärbudget massiv erhöht, für den Bereich Soziales hingegen gab es deutlich weniger (bekannt unter dem Begriff «Reagonomics»). Die Spaltung der Gesellschaft setzte ein.

Vielen Amerikanerinnen und Amerikaner geht es heute ökonomisch schlechter als vor 20 Jahren. Millionen von ihnen haben wegen der Finanzkrise, der eine Immobilienkrise voranging, ihr Wohneigentum verloren. Der Schock sitzt tief, viele von ihnen sind verbittert. Das ist der Nährboden für Hass.

Zu Beginn der Neunzigerjahre bereiste ich acht Monate lang die USA. Ich war in den Metropolen, die zugleich faszinierend und kaputt waren. Und ich stoppte in den Käffern im Mittleren Westen, wo es zuweilen nur eine Imbissbude, gackernde Hühner und endlos lange Getreidefelder gab. Praktisch immer war ich bei Gastfamilien einquartiert, in Boston genauso wie in Wilcox/Arizona. Nichts hat mich mehr über die amerikanische Kultur gelehrt, als der direkte Austausch mit den Menschen dort.

Was bei diesen Gesprächen immer spürbar wurde: Die Amerikanerinnen und Amerikaner sind nicht nur stolz auf ihr Land. Vielmehr glaubten sie daran, dass es für sie weiter aufwärts geht, «I’m gonna make it», hörte ich oft. Das ist der Traum von der Tellerwäscherkarriere, der uns, die von Calvin und Zwingli geprägt wurden, irritiert. Die meisten Leute, die zwischen Kalifornien und der Ostküste leben, hätten diesen Optimismus inzwischen verloren, schrieb der niederländische Schriftsteller und USA-Kenner Geert Mak in einem seiner letzten Bücher.

Die Chaos-Stunden in Washington sind ein Symbol dafür, wie die älteste Demokratie am Wanken ist. Joe Biden sagte in einer ersten Stellungnahme: «We must restore democracy.» Das wird ein verdammt langer Weg.

Wir in der Schweiz tun gut daran, uns für das Gemeinsame und eine stabile Demokratie zu engagieren.

PS:  Die Zivilgesellschaft ist der Kitt unserer Gesellschaft. Wer Anschluss sucht: die Bewegung Courage Civil ist offen für neue Mitglieder.