Volkes Seele kocht, man zeigt mit dem Finger auf Bern, vor allem: auf den “Schandfleck”. Nach drei Ausschreitungen binnen weniger Tage haben die Kommunalpolitiker reflexartig abgesondert, was sie schon früher x-fach von sich gaben:
– Die Nationalkonservativen fordern: „Reitschule schliessen!“
– Aus der grünen Ecke findet jemand: „Die Polizei war repressiv!“
– Ein Rechtsfreisinniger: „Die rot-grüne Regierung hat total versagt!“
Die parteipolitisch motivierten Statements sind Rituale, inhaltlich so absehbar wie das Lächeln der Wetterfee. Wer von „Krieg“ und „einer Hundertschaft Terroristen“ spricht, überspannt den Bogen.
Doch wenden wir uns den zentralen Akteuren zu: Wer liefert den Polizisten wüste Strassenschlachten, setzt Laserpointer ein, zündet Lieferwagen an und zerlegt ein Bushäuschen von Bernmobil komplett? Was sind das für Leute? Der Haufen ist heterogen, aber es gibt ein Muster:
– Die meisten militanten Chaoten, die in den letzten Tagen aufmarschierten, stammen nicht aus der Hausbesetzerszene. Aber sie haben sich das Thema sofort gekrallt, nachdem die Polizei ein illegal besetztes Haus an der Effingerstrasse (Effy29) räumen musste. Beteiligt ist die Revolutionäre Jugend Bern; es handelt sich um Anarchisten, die sich den Kampf gegen den Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben haben.
Diese Gruppe demonstriert seit vielen Jahren gegen Faschismus – bekannt sind ihre Antifa-Spaziergänge –, die SVP oder die Globalisierung. Bei vielen ihrer Demonstrationen sind nur ein paar Dutzend Mitwirkende dabei. Vor vier Jahren erkämpften sie sich die Deutungsmacht über „Tanz dich frei 3“. 10’000 Junge machten damals auf den Strassen friedlich Party, 100 Chaoten nutzten die Masse für ihre Übergriffe auf Polizei, Sanität und Gebäude.
– Wenn es knallt, ist die Gang „031“ (sprich „Null, drei, eins“) oft auch dabei, meistens agiert sie aus dem Schutz der Reitschule. Sie kämpft gegen das System, ihre Graffitis – meistens sind es Tags mit der Zahl „031“ – fallen im Grossraum Bern seit mehr als zehn Jahren auf.
– Am letzten Samstag waren auch Krawalltouristen dabei, die zum Teil von weit her anreisten. Sie kommen regelmässig. Ad hoc beteiligten sich erneut sehr junge Trittbrettfahrer, die auch einmal Polizisten vorführen und Scheiben einschlagen wollten. Es geht um den Adrenalinkick – kein Vergleich mit Snowboarden oder Ballern auf der Playstation.
Ich konnte mich einmal länger mit ein paar jungen Berner Anarchos unterhalten. Nicht bei allen waren die ideologischen Überzeugungen gefestigt und die Argumente stringent. Klar wurde aber bald, dass sie am Staat „alles Scheisse“ finden, und ja, die Bullen, die Bullen nannten sie sogar „verdammte Scheissbullen“. Die Polizisten stehen stellvertretend für den verhassten Staat im Fadenkreuz.
Die jungen Anarchisten haben noch nie selber Geld verdient, ihre Wäsche macht Mutti, und bei Minustemperaturen bleiben sie lieber zuhause, statt für ihre Revolution auf die Strasse zu gehen. Ich weiss nicht, ob sie noch aktiv sind oder schon von der nächsten Generation abgelöst wurden, aber ich erinnere mich, dass das Gespräch mit ihnen schwierig war.
Die Statistik zeigt: In den letzten 15 Jahren haben sich die Gewaltdelikte gegen Polizisten und Beamte mehr als verdreifacht. 2015 wurden rund 2800 Fälle gezählt (siehe Grafik). Das ist eine alarmierende Entwicklung! Die Polizistinnen und Polizisten werden zermürbt, sie, die das Gewaltmonopol haben und insgesamt einen guten Job machen. Klar, in jedem Korps gibt es ein paar Übermotivierte, womöglich sogar Möchtegern-Rambos.
Was ist zu tun? Strafen wirken nur, wenn sie schmerzen. Der Ständerat lehnte es heute Abend ab, das Strafgesetzbuch mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis zu ergänzen. Das hat eine eigene Logik. Es läge aber seit Langem im Spielraum der Gerichte, harte Urteile zu fällen. Würden Gewaltexzesse mit drakonischen Strafen geahndet, hätte das eine abschreckende Wirkung. 350 Franken Busse und zwei Tage gemeinnützige Arbeit sind eine Lachnummer.
Über die Bücher müssten – endlich – auch die Reitschüler. Sich stets nur halbwegs von der Gewalt vor ihren selbstverwalteten Toren zu distanzieren, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Sie hätten es in der Hand, einen hauseigenen Sicherheitsdienst aufzuziehen, der die Chaoten daran hindert, in der Reitschule abzutauchen. Doch genau das wollen die Reitschüler partout nicht. Diese Haltung kann sich irgendeinmal rächen.
Alec von Graffenried, der neue Stadtpräsident Berns, hat mit der Reitschule das heikelste Dossier von seinem Vorgänger geerbt. Dass der Stapi viel Zeit und noch mehr Energie in das rechtsfreie Kulturzentrum investieren muss, darf man als Anachronismus bezeichnen. Die Institution scheint in der Phase der Pubertät stecken geblieben zu sein.
Als Ergänzung:
– Die Einschätzung von Sachverständigen, ich bin nur seit vielen Jahren Beobachter:
(Bund, 28. Februar, Markus Dütschler, Martin Erdmann)
– Was die Autorin des “Tages-Anzeigers” diagnostiziert:
Die Chaoten trötzeln, und Bern bleibt das nette Mami (Tagi, 28. Februar, Michèle Binswanger)