Der demütige Diener

Ronald Reagan ist als «The Great Communicator» in die Geschichte eingegangen. Von Politik hatte der Gouverneur Kaliforniens und spätere Präsident der USA (1980 – 1988) zunächst wenig Ahnung. Dafür wusste er um die Wirkung eines souveränen Auftritts; wichtige Medienkonferenzen übte er tagelang. Als Schauspieler, der in unterschiedliche Rollen geschlüpft war, konnte er aus dem Vollen schöpfen.

Daniel Koch (Bild) hat keine Bühnenerfahrung, steht aber seit Wochen im Scheinwerferlicht. Der Arzt beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist das Gesicht geworden im Kampf gegen die Corona-Krise. Auf allen Kanälen beantwortet er zahllose Fragen professionell und selbst die bedepperten mit stoischer Gelassenheit. Seine sonore Stimme wirkt wie ein Beruhigungsmittel. Koch strahlt Glaubwürdigkeit aus, was eine zentrale Bedeutung hat in der Krisenkommunikation. Zu keinem Moment kommt der Verdacht auf, dass er die enorme Aufmerksamkeit der Medien geniessen würde. Vielmehr versteht er sich als Diener der Gesellschaft. Wir mögen solche Figuren, denken Sie nur an Franz Steinegger, oft «Katastrophen-Franz» genannt, oder Eveline Widmer-Schlumpf.

Woher nimmt der zweifache Familienvater, der zusammen mit seinem kleinen Team seit Langem 18-Stunden-Tage bewältigt, diese Kraft? Die Antwort finden wir womöglich in seiner langjährigen Tätigkeit für das Internationale Rote Kreuz (IKRK). In Lateinamerika, Sierra Leone oder Ruanda war Koch stets mit Armut und den verheerenden Folgen von Bürgerkriegen konfrontiert. Andere werden während solchen Einsätzen stumpf und zynisch. Ihn lehrten sie Demut und Bescheidenheit. Ob er Schweizer des Jahres wird, wie das immer mehr Beobachter vorschlagen, ist offen. Wir stehen erst am Anfang der Krise. Sicher ist, dass ihm dieser Titel unangenehm wäre.

 

*** Disclaimer: Der Autor hat kein Mandat beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Diese Kolumne wurde auf Anfrage der Wochenzeitung «Berner Bär» verfasst. 

CS-Chef Tidjane Thiam macht Krisenkommunikation auf Instagram

 

Es gilt als Standard in der Krisenkommunikation: Wird ein CEO oder eine Verwaltungspräsidentin angegriffen, reagiert nicht diese Person, sondern deren Unternehmung. Der Chef der Credit Suisse, Tidjane Thiam, machte es gestern anders. Auf einen kritischen Bericht in der «NZZ am Sonntag» (hinter der Bezahlschranke) reagierte er persönlich und weist die Vorwürfe zurück, indem er seinen neuen Instagram-Account als Kommunikationskanal nutzt.

Vier Fragen und Antworten zu dieser verunglückten Kommunikation, die ich auf Anfrage der «Blick»-Redaktion verfasste. Zunächst aber das Posting Thiams auf Instagram:

Der CEO reagiert via Social Media zu einem kritischen Medienbericht, während die CS schweigt – was ist davon zu halten?

Die Vorwürfe der «NZZ am Sonntag» sind happig. Gerade weil sie sich an Tidjane Thiam direkt richten, hätte er nicht selber reagieren dürfen. Das wäre die Aufgabe der Medienstelle gewesen, am besten mit einer Medienmitteilung und via Twitter – bei 340’000 Follower ein Must. Dass Thiam ausgerechnet Instagram als Kommunikationskanal wählte, ist eine Fehlentscheidung. Thiam hat dort erst seit sieben Tagen einen Account; in der Bio hält er fest: «Views are my own». Doch diese Trennung funktioniert nicht, Schlüsselpersonen werden immer mit ihrem Arbeitgeber verknüpft wahrgenommen.

Am Sonntagabend zählte Thiams Instagram-Account erst 600 Abonnenten, das ist eine sehr bescheidene Reichweite. Instagram ist grundsätzlich ein Kanal für Brands, Stars, Sternchen und zahllose Fotos – es geht um Selbstinszenierung. (Diese betreibt Thiam mit seinen Fotos vom WEF 2020 auch.) Für Krisenkommunikation eignet er sich nicht. Auf Twitter hätte Thiams Replik sofort Wirkung erzielt, weil dort die Leute sind, die sich für ihn und Wirtschaftsthemen interessieren.


Welche Gefahren birgt eine Kommunikation, die offenbar nicht abgesprochen ist?

Tidjane Thiam hat sich am Sonntag offensichtlich für einen Sololauf entschieden. Das lässt anklingen, was er von der Zusammenarbeit mit der Medienstelle der CS hält. Er reagierte, die CS kommunizierte nur auf hartnäckiges Nachhaken und auch dann nur ganz knapp – das ist pitoyabel. Erst wegen Thiams Reaktion springen jetzt viele anderen Medien auf, und weil die CS faktisch schweigt, kriegt die jüngste Enthüllung noch mehr Gewicht.

Die CS mauert bereits seit geraumer Zeit. Welches Zeugnis stellen sie der Bank und dem CEO hinsichtlich der aktuellen Kommunikationsstrategie aus?

Es ist auch eine Strategie, Probleme auszusitzen und nicht zu kommunizieren. Allerdings kann die Krise so noch grösser werden. Das kann sich eine Bank, die auf das Vertrauen der Kunden angewiesen ist, aber nicht leisten.


Was könnte die CS besser machen?

Der Beschattungsskandal ist seit September publik. Dabei geht es ja nicht nur um grosse Egos, hohe Testosteronspiegel und Machtkämpfe. Die Ergebnisse der Untersuchung von externer Stelle, einer grossen Wirtschaftskanzlei, sollten so bald als möglich vorliegen, sonst schwelt die Krise weiter. Zudem dürften die Aufseher der Finanzmarktaufsicht (Finma) die CS durchleuchten wollen. Derweil scheint sich Verwaltungsratspräsident Urs Rohner entschieden zu haben, diese Sache auszusitzen. Womöglich liegt das daran, dass er Thiam vor fünf Jahren zur CS geholt hatte.


Ergänzender Medienbericht: 

Neue Enthüllungen bringen CS-Chef Thiam in Rage
(CH-Media, Daniel Zulauf, 28. Januar 2020)

Die SVP-Spitze hat sich mit Franziska Roth verzockt, den Schaden tragen alle

Bis am Ostermontag hatte die SVP schweizweit fünf amtierende Regierungsrätinnen. Seit heute sind es noch vier. Die Aargauer Gesundheitsdirektorin Franziska Roth ist per sofort auf der Partei ausgetreten, wie sie an einer Medienkonferenz in Aarau erläuterte. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, nachdem die Spitze der Aargauer SVP von Roth ultimativ gefordert hatte, die Regierungsarbeit bis im Sommer verbessern zu müssen. Im Gang ist zudem eine Untersuchung, was im Departement für Gesundheit und Soziales (DGS) wieso nicht rund läuft.

Mit ihrem Parteiaustritt düpiert Roth die SVP, aber die Probleme bleiben auch als parteilose Regierungsrätin dieselben. In den letzten zwei Jahren wurden mir aus ihrem Departement und dem Kantonsparlament immer wieder Informationen zugetragen, die man auf einen Nenner bringen kann: Das Amt überfordert Franziska Roth. Sie ist in der Politik nie richtig angekommen, die Feinmechanik des Regierens blieb ihr fremd. Dasselbe wurde Johann Schneider-Ammann als Bundesrat immer mal wieder vorgeworfen. Aber der Berner konnte dieses Manko kompensieren, indem er clever-vifes Personal um sich scharte. Roth hingegen überwarf sich mit mehreren Schlüsselfiguren ihres Departements, die in der Folge gingen oder gegangen wurden, und isolierte sich zusehends.  

«Franziska Roth mangelt es an Willen, Interesse und Talent, das Regierungsamt auszufüllen.»

Medienmitteilung der SVP des Kantons Aargau

Kaum war Roths Medienkonferenz zu Ende, wurde auch schon die gepfefferte Reaktion der SVP-Kantonalpartei publik. Die Medienmitteilung mit dem Titel «Hoffnungslos» trägt die Handschrift des Fraktionschefs Jean-Pierre Gallati, laut Kollegen ein «harter Hund».

«Franziska Roth mangelt es an Willen, Interesse und Talent, das Regierungsamt auszufüllen. (…) Die SVP Aargau muss anerkennen, dass sie das Leistungsvermögen von Franziska Roth falsch eingeschätzt hat und bittet die Aargauerinnen und Aargauern in aller Form um Entschuldigung für diese im Jahr 2016 beschlossene Nomination.»

Wann haben wir jemals eine solche Abrechnung zur Kenntnis nehmen müssen?

Blenden wir zurück: Fast auf den Tag genau vor drei Jahren wurde Roth als Regierungsratskandidatin nominiert. Es musste eine Frau sein, die gegen die amtierende Gesundheitsdirektorin Susanne Hochuli (Grüne) antritt. Von der SVP-Rennleitung glaubte niemand an Roths Chance, nachdem schon 2012 Parteipräsident und Nationalrat Thomas Burgherr als Sprengkandidat gescheitert war. Mit anderen Worten: Roth war eine Pro-forma-Kandidatin. Die Ausgangslage veränderte sich schlagartig, als Hochuli im Sommer 2016 überraschend bekanntgab, nicht mehr zu kandidieren.

Schon im Wahlkampf überzeugte Roth nicht

Als Wahlkämpferin überzeugte Roth nicht, sie blieb die schwer greifbare Unbekannte, und viele Beobachter bezweifelten, dass sie das Zeug zur Regierungsrätin hat. Im zweiten Wahlgang konnte sie sich gegen ihre Kontrahentinnen, Nationalrätin Yvonne Feri (SP), und Grossrätin Maya Bally (BDP) durchsetzen. Ihr Lager war schlicht stärker, die SVP Aargau ist eine 38-Prozent-Partei. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte konnte sie zwei Sitze in der Regierung übernehmen. Nichts ist für eine Partei wichtiger, als eigene Leute in Exekutivpositionen zu haben.

Fazit: Von 2009 bis 2016 konnte die SVP-Fraktion mit der grünen Gesundheitsdirektorin Hochuli ein Feindbild pflegen. Das war bequem, zumal zeitweise die Anzahl Asylbewerber in die Höhe schnellte.

Im Wahlkampf 2016 pries Parteipräsident Burgherr Franziska Roth als die neue starke Frau im Departement für Gesundheit und Soziales an. Sie werde dort aufräumen. Heute müssen wir feststellen: Die SVP-Spitze hat sich verzockt. Den Schaden tragen aber alle, nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im DGS. Das Malaise dauert noch bis Ende 2020. Wir können ausschliessen, dass Roth als Parteilose Chancen auf eine Wiederwahl hätte.

Pierre Maudet hat sich selbst abgeschossen

In den Bergen ist die Jagdsaison im Gang. Gejagt wird auch in den Niederungen der Politik. Im Gegensatz zu anderen Politikern ist der Genfer Staatsrat Pierre Maudet aber nicht Opfer einer Kampagne. Nein, er hat sich selber abgeschossen.

Wenn Personen des öffentlichen Lebens ins Visier geraten, gibt es stets zwei zentrale Kriterien:

Erstens, die rechtliche Beurteilung: Es gilt die Unschuldsvermutung. Im Falle von Maudet hat die Genfer Staatsanwaltschaft ihre Arbeit aufgenommen. Bis ihre Untersuchung abgeschlossen ist und Resultate vorliegen, dürfte es Monate dauern.

Zweitens, eine moralische Beurteilung: Das Volk fällt sein Urteil schnell, oft auch gelenkt durch die Medien. Fakt ist: Der 40-Jährige hat mehrfach gelogen. Das wiegt schwer, der Vertrauensverlust ist gross. Maudet mag noch so kämpfen, für seine Ehre, für den Kanton Genf – das Lügenkonstrukt bleibt in Erinnerung.

Die Gesetze des Kantons Genf führen kein Amtsenthebungsverfahren auf. Maudet könnte also versucht sein, die Affäre auszusitzen. Das würden zermürbende Monate. Für ihn. Für die FDP. Für die Genfer Regierung. Es würde für Maudet ein einsamer Kampf.

Die Genfer Regierung hat ihm gestern nicht nur das Präsidium, sondern auch zentrale Aufgaben wie die Justiz und das Flughafen-Dossier entzogen – bis auf weiteres. Maudet ist nicht nur angezählt, er hat auch keinen Handlungsspielraum mehr. Wie soll er sich als flügellahmer Staatsrat (Regierungsrat in der Deutschschweiz) profilieren können?

Die Absatzbewegungen haben bereits eingesetzt. Petra Gössi, die Präsidentin der FDP Schweiz, distanzierte sich gestern Abend nicht nur von Maudet. Sie fordert ihn indirekt zum Rücktritt auf. Anders ist ihr Statement nicht zu interpretieren.

Gössis Aussage erhöht den Druck auf die Genfer FDP-Sektion. Im Oktober 2019 finden eidgenössische Wahlen statt. Die FDP hat in den letzten drei Jahren bei kantonalen Wahlen mit Abstand am meisten Sitze gewonnen, auf nationaler Ebene ist nach dem Turnaround von 2015 das Selbstbewusstsein wieder zurück; die Staatsgründer-Partei will weiter zulegen. Eine Affäre Maudet, die monatelang vor sich hin mottet, wäre für die FDP höchst problematisch, ein Imageverlust die logische Folge. Deshalb lässt sie ihn fallen.

Maudet, dieses politische Ausnahmetalent, hätte die Chance gehabt, rechtzeitig und in Würde zurückzutreten: Im Mai 2016 wurde er erstmals von einem welschen Journalisten mit der für ihn unangenehmen Wahrheit konfrontiert. Der Fall blieb aber vorerst unter dem Deckel.

Maudet hätte antizipieren müssen, dass ihm diese Recherche einmal um die Ohren fliegt. Ein glaubwürdiges «Mea Culpa» – wir mögen Politiker, die öffentlich Fehler einräumen können –, ein sofortiger Rücktritt – und der Fall wäre nach wenigen Tagen abgehakt und Maudet bald rehabilitiert gewesen. Mehr noch: Er hätte zwei Jahre später bei den Gesamterneuerungswahlen im Frühling 2018 ein Comeback wagen können. Mit guten Chancen auf Erfolg.

Was jetzt noch kommt, ist ein Sturz ins Bodenlose. Wie ein weidwundes Tier schleppt sich Maudet durch das Dickicht. Schade – für ihn. Für die FDP. Und für die Schweiz. Er wäre in acht oder neun Jahren ein sehr guter Bundesrat geworden.

Hauptsache provozieren

Nackte Haut provoziert. Das war in den prüden Achtzigerjahren so, als Regisseure an den Schauspielhäusern immer mal wieder eine Frau nackt über die Bühne huschen liessen. Die regionalen Medien fanden nach der Première: “Skandal!, Skandal!” In den Städten wurde getuschelt und diskutiert, die weiteren Vorführungen waren gut besucht, manchmal fielen die Stücke beim Publikum auch durch.

Das ist immer noch so. Seit gestern kursiert in den sozialen Medien das Foto von Juso-Präsidentin Tamara Funiciello (links) und ein paar ihrer Kolleginnen. Die jungen Frauen verbrennen ihre BHs. Das haben womöglich schon ihre Mütter getan, die den BH als Symbol der Unterdrückung empfanden.

Weshalb posieren Funiciello & Co. mit viel nackter Haut? Ist es Selbstironie? Kritik gegenüber den weiblichen Influencern auf Instagram, die dort viel Haut zeigen? Ein Versuch, Femen nachzuahmen? Nein, sie wollen mit diesem Foto für den “Women’s March”, der heute Nachmittag in Zürich stattfindet, werben.

Mit Verlaub, aber das Sujet ist nur etwas: eine Provokation um der Provokation willen. Den Frauenmarsch mit nackter Haut befeuern – diese Verknüpfung klappt nicht, die Aktion erweist den Anliegen der Frauen einen Bärendienst.

Mit der Kundgebung wollen die Organisatorinnen auf Themen wie Lohnungleichheit, Diskriminierung, die Erhöhung des Rentenalters für Frauen oder sexuelle Gewalt aufmerksam machen. Das ist wichtig und hoffentlich gelingt es, viele Frauen und Männer für einen eindrücklich-grossen und zugleich friedlichen Marsch zu mobilisieren.

Tamara Funiciello verliert mit dieser Aktion viel Glaubwürdigkeit. Sie dürfte in den nächsten Jahren immer wieder mit diesem Sujet in Verbindung gebracht werden. Claudine Esseiva, der Generalsekretärin der FDP-Frauen, geht es seit Jahren so. Im Sommer 2011 lancierte sie ihr “Oben-ohne”-Plakat, um auf die tiefe Frauenquote in Kaderstellen aufmerksam zu machen. Doch die Diskussion drehte sich nur um sexistische Werbung. Seither klebt das an ihr wie eine zweite Haut.

Provokation gehört zur der Politik. Es gibt Akteure, die mit Souplesse provozieren, andere plump.

Nachtrag vom 23. März 2017:

Das Foto der Juso-Frauen hat in Social-Media-Kanälen zu viel Häme und hässlichen Kommentaren geführt. Ein Verein will laut der WOZ gegen die “Hate-Speecher” rechtlich vorgehen.

Reflexe und Rituale rund um die Reitschule

Volkes Seele kocht, man zeigt mit dem Finger auf Bern, vor allem: auf den “Schandfleck”. Nach drei Ausschreitungen binnen weniger Tage haben die Kommunalpolitiker reflexartig abgesondert, was sie schon früher x-fach von sich gaben:

– Die Nationalkonservativen fordern: „Reitschule schliessen!“
– Aus der grünen Ecke findet jemand: „Die Polizei war repressiv!“
– Ein Rechtsfreisinniger: „Die rot-grüne Regierung hat total versagt!“

Die parteipolitisch motivierten Statements sind Rituale, inhaltlich so absehbar wie das Lächeln der Wetterfee. Wer von „Krieg“ und „einer Hundertschaft Terroristen“ spricht, überspannt den Bogen.

Doch wenden wir uns den zentralen Akteuren zu: Wer liefert den Polizisten wüste Strassenschlachten, setzt Laserpointer ein, zündet Lieferwagen an und zerlegt ein Bushäuschen von Bernmobil komplett? Was sind das für Leute? Der Haufen ist heterogen, aber es gibt ein Muster:

– Die meisten militanten Chaoten, die in den letzten Tagen aufmarschierten, stammen nicht aus der Hausbesetzerszene. Aber sie haben sich das Thema sofort gekrallt, nachdem die Polizei ein illegal besetztes Haus an der Effingerstrasse (Effy29) räumen musste. Beteiligt ist die Revolutionäre Jugend Bern; es handelt sich um Anarchisten, die sich den Kampf gegen den Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben haben.

Diese Gruppe demonstriert seit vielen Jahren gegen Faschismus – bekannt sind ihre Antifa-Spaziergänge –, die SVP oder die Globalisierung. Bei vielen ihrer Demonstrationen sind nur ein paar Dutzend Mitwirkende dabei. Vor vier Jahren erkämpften sie sich die Deutungsmacht über „Tanz dich frei 3“. 10’000 Junge machten damals auf den Strassen friedlich Party, 100 Chaoten nutzten die Masse für ihre Übergriffe auf Polizei, Sanität und Gebäude.

– Wenn es knallt, ist die Gang „031“ (sprich „Null, drei, eins“) oft auch dabei, meistens agiert sie aus dem Schutz der Reitschule. Sie kämpft gegen das System, ihre Graffitis – meistens sind es Tags mit der Zahl „031“ – fallen im Grossraum Bern seit mehr als zehn Jahren auf.

– Am letzten Samstag waren auch Krawalltouristen dabei, die zum Teil von weit her anreisten. Sie kommen regelmässig. Ad hoc beteiligten sich erneut sehr junge Trittbrettfahrer, die auch einmal Polizisten vorführen und Scheiben einschlagen wollten. Es geht um den Adrenalinkick – kein Vergleich mit Snowboarden oder Ballern auf der Playstation.

Ich konnte mich einmal länger mit ein paar jungen Berner Anarchos unterhalten. Nicht bei allen waren die ideologischen Überzeugungen gefestigt und die Argumente stringent. Klar wurde aber bald, dass sie am Staat „alles Scheisse“ finden, und ja, die Bullen, die Bullen nannten sie sogar „verdammte Scheissbullen“. Die Polizisten stehen stellvertretend für den verhassten Staat im Fadenkreuz.

Die jungen Anarchisten haben noch nie selber Geld verdient, ihre Wäsche macht Mutti, und bei Minustemperaturen bleiben sie lieber zuhause, statt für ihre Revolution auf die Strasse zu gehen. Ich weiss nicht, ob sie noch aktiv sind oder schon von der nächsten Generation abgelöst wurden, aber ich erinnere mich, dass das Gespräch mit ihnen schwierig war.

Die Statistik zeigt: In den letzten 15 Jahren haben sich die Gewaltdelikte gegen Polizisten und Beamte mehr als verdreifacht. 2015 wurden rund 2800 Fälle gezählt (siehe Grafik). Das ist eine alarmierende Entwicklung! Die Polizistinnen und Polizisten werden zermürbt, sie, die das Gewaltmonopol haben und insgesamt einen guten Job machen. Klar, in jedem Korps gibt es ein paar Übermotivierte, womöglich sogar Möchtegern-Rambos.

Was ist zu tun? Strafen wirken nur, wenn sie schmerzen. Der Ständerat lehnte es heute Abend ab, das Strafgesetzbuch mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis zu ergänzen. Das hat eine eigene Logik. Es läge aber seit Langem im Spielraum der Gerichte, harte Urteile zu fällen. Würden Gewaltexzesse mit drakonischen Strafen geahndet, hätte das eine abschreckende Wirkung. 350 Franken Busse und zwei Tage gemeinnützige Arbeit sind eine Lachnummer.

Über die Bücher müssten – endlich – auch die Reitschüler. Sich stets nur halbwegs von der Gewalt vor ihren selbstverwalteten Toren zu distanzieren, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Sie hätten es in der Hand, einen hauseigenen Sicherheitsdienst aufzuziehen, der die Chaoten daran hindert, in der Reitschule abzutauchen. Doch genau das wollen die Reitschüler partout nicht. Diese Haltung kann sich irgendeinmal rächen.

Alec von Graffenried, der neue Stadtpräsident Berns, hat mit der Reitschule das heikelste Dossier von seinem Vorgänger geerbt. Dass der Stapi viel Zeit und noch mehr Energie in das rechtsfreie Kulturzentrum investieren muss, darf man als Anachronismus bezeichnen. Die Institution scheint in der Phase der Pubertät stecken geblieben zu sein.

 

Als Ergänzung:

– Die Einschätzung von Sachverständigen, ich bin nur seit vielen Jahren Beobachter:
(Bund, 28. Februar, Markus Dütschler, Martin Erdmann)

– Was die Autorin des “Tages-Anzeigers” diagnostiziert:
Die Chaoten trötzeln, und Bern bleibt das nette Mami (Tagi, 28. Februar, Michèle Binswanger)

Roger Köppels Attacke wird Schule machen

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Beide sind belesen und klug, aber sie mögen sich nicht. „Weltwoche“-Verleger und -Chefredaktor Roger Köppel nimmt jede Gelegenheit wahr, in seinen Editorials gegen Bundesrätin Simonetta Sommaruga zu schiessen. Mehrfach wurde sie und das Asyldossier, das sie verantwortet, zur Titelgeschichte. Mit Kritik hat das nichts mehr zu tun, es ist eine gehässige Kampagne, die das Heft schon seit Monaten gegen die Justizministerin reitet.

Gestern trug Köppel diese Kampagne unter die Bundeshauskuppel. Als es um das Kroatien-Protokoll ging, machte er aus seinem allerersten Auftritt als Nationalrat gleich einen Frontalangriff. In seinem fünfminütigen Votum sprach er nicht zum eigentlichen Geschäft, sondern über Flüchtlinge und Asyl. Und immer wieder nannte er Sommaruga beim Namen, spitzte zu, als ob sie irgendetwas alleine entscheiden könnte. Sie habe “Männer aus Gambia, Somalia und Eritrea ins Land geholt”, wetterte Köppel. Eine Unterstellung, die typisch ist für seine Rhetorik, die er schon seit Jahren pflegt.

Diese Aussage war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Sommaruga stand auf und verliess wortlos den Saal. Ihre Reaktion ist menschlich – auch Bundesräte sind nur Menschen! –, aber nicht souverän. Gerade weil sie davonlief und die SP-Fraktion ihr folgte, stärkt sie Köppel, und diese Episode wird nun vermutlich zum grössten Thema der Woche.

Im Nationalratssaal gibt es seit jeher immer mal wieder Entgleisungen und hässliche Voten. In den ersten Jahrzehnten des modernen Bundesstaates zogen Politiker schon mal ihre Hosen runter und zeigten ihrem politischen Gegner den Hintern (der in der Regel von einem langen Hemd bedeckt war) und damit ihre Verachtung.

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Die Attacke Köppels als polemische Posse eines Flegels oder als Zynismus abzutun, greift zu kurz. Sie hat eine andere Tragweite: Was Köppel sagte, triefte vor Häme und Verachtung. Er kritisierte nicht die Sache, sondern die Person – sein Feindbild. Damit beschädigt er die politische Kultur unseres Landes. Im Zeitalter von Clickbait-Journalismus und Social Media dreht eine solche Story sofort auf hohen Touren. Bis am Sonntag werden noch Dutzende von Texten zum Thema erscheinen. Der linke Mob springt auf und hasst Köppel noch mehr als früher, der rechte Mob fühlt sich bestärkt und prügelt auf Sommaruga ein.

Köppels Attacke wird Schule machen, in TV-Debatten und Schulzimmern, an Versammlungen und Podien. Der schnelle Denker, Spieler und gerissene Provokateur wird zum Vorbild. Wenn ein Chefredaktor und Nationalrat sich so verhält, geht ein Ventil auf: Andere wollen auch. Dabei geht es nur noch um etwas: Den Gegner auf einer persönlichen Ebene angreifen, ihn respektlos zu Boden knütteln und mit Häme überschütten. Die Prämie: das Geheul der Meute. Nur: So zu politisieren ist unschweizerisch.

Mit solchen Auftritten riskiert Köppel im Weiteren, ein zweiter Mörgeli zu werden. Dieser war zu Beginn seiner politischen Karriere ein gefürchteter Debattierer. Weil er über Jahre hinweg und dauergrinsend die ewig gleichen Giftpfeile in alle Richtungen schoss, wurde er aber irgendeinmal von niemandem mehr Ernst genommen. Bei den Nationalratswahlen im Herbst 2015 war das Parteivolch seiner überdrüssig und strich ihn von der eigenen Liste. Die Zürcherinnen und Zürcher waren mörgelimüde geworden. Er wurde abgewählt – ein Sturz ins Bodenlose.

Mark Balsiger

 

Nachtrag vom 30. April 2016:

Roger Köppel legt nach: Gegenüber “TeleZüri” verglich er Bundesrätin Sommaruga mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Anderen Medien gegenüber gab er zu Protokoll, Sommarugas Verhalten ihm gegenüber sei “respektlos”.

Der “Blick” liefert heute einen Faktencheck zu Roger Köppels Rede.

Andere Kommentare:

Sommarugas Abgang hilft einzig Köppel (Berner Zeitung, Bernhard Kislig)
Politik ist keine Aromatherapie (Tages-Anzeiger, Jean-Martin Büttner)
Einmal kräftig spülen, bitte (NZZ, Heidi Gmür)
Eklat im Parlament: Hört auf mit dem Klamauk! (Aargauer Zeitung, Christian Dorer)
Die Wiedergeburt der Politik (Basler Zeitung, Markus Somm)

Mit quälender Hartnäckigkeit (Die Zeit; Mathias Daum, 16.05.2016)
Weshalb Bundesrätin Sommaruga die Erzfeindin der SVP ist.

 

Was man von Bundespräsident Johann Schneider-Ammanns TV-Auftritt lernen könnte

Seit fünfeinhalb Jahren ist Johann Schneider-Ammann inzwischen im Bundesrat. So viel Aufmerksamkeit wie dieser Tage wurde ihm noch nie zuteil. Seine vierminütige TV-Ansprache zum Tag der Kranken ist, mit Verlaub, Realsatire. Was man daraus lernen könnte.

schneider_ammann_rts_601Ronald Reagan hatte Charisma, ausgezeichnete Berater und langjährige Erfahrung als Schauspieler. Aus diesen Gründen ging der US-Präsident (1980 – 1988) als „The Great Communicator“ in die Geschichte ein. Wie wir inzwischen wissen, übte er seine wichtigen Medienkonferenzen tagelang und bis ins letzte Detail.

Bundesrat Johann Schneider-Ammann markiert den Gegenpol zu Reagan. Der überzeugende öffentliche Auftritt ist nicht seine Domäne: Er wirkt steif, zimmert im Zeitlupentempo Schachtelsätze zusammen, die inhaltlich nichts hergeben, und er leidet dabei. Kein Wunder werden die skurrilsten Sequenzen schon seit Jahren bei „Giacobbo/Müller“ gezeigt.

Mit seiner emotionslosen Ansprache zum Tag der Kranken – rire c’est bon pour la santé” – hat Schneider-Ammann sein Image zementiert. Sie ging um die halbe Welt. Dieser Tage in Frankreich, sah ich einen Ausschnitt im Satire-Programm „Le petit journal“ den TV-Kanals Canal Plus (Foto unten). Ich traute meinen Ohren und Augen nicht, der Spott meiner französischen Bekannten war gross – berechtigt. Dieser Auftritt ist keine Staatskrise, aber peinlich – für den Bundespräsidenten und für unser Land. Und er wirft ein schlechtes Licht auf Schneider-Ammanns departementsinterne Kommunikationsberater, sechs an der Zahl.

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Seit nunmehr 13 Jahren arbeite ich als Berater und Kommunikationstrainer regelmässig mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Militär und Politik zusammen. Überzeugend aufzutreten, wird niemandem in die Wiege gelegt. Es braucht eine solide Vorbereitung und ehrliche Feedbacks.

Wie es zu Schneider-Ammanns blamablen Auftritt kommen konnte, wissen wir (noch) nicht. Wie wäre ich als verantwortlicher Kommunikationschef im Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) vorgegangen? Ein paar Punkte:

1.  Die Tage der Bundesräte sind lang und deshalb erwartet niemand von ihnen, dass sie ihre Reden selber schreiben. Aber: sie müssen mit dem Text, den sie vortragen, vertraut sein. Das funktioniert am besten, wenn das Manuskript ausgedruckt wird. Nachdem der Bundesrat die Rede ein erstes Mal mit lauter Stimme vorgetragen hat, nimmt man Korrekturen vor, unterstreicht Schlüsselstellen und markiert Übergange, die sich für kurze Pausen eignen. Bei diesem dynamischen Prozess fliesst auch das ehrliche Feedback der Berater ein. Wenn sie sich nicht getrauen, diese Phase aktiv mitzugestalten, stimmt etwas mit der Kultur im „eigenen Laden“ nicht.

2.  Zentral ist eine simple Erkenntnis, die in der Deutschschweiz aber immer wieder vergessen wird: Eine Rede ist keine Schreibe. Man schreibt sie zum Hören, nicht zum Lesen. Die Rede zum Tag der Kranken war einfach und für ein heterogenes Publikum gedacht. Sie ist hier in deutscher Sprache aufgeschaltet. Wer sie gelesen hat, kommt zum Schluss, dass sie inhaltlich ansprechend ist. Entsprechend liegt das Versagen beim Auftritt.

3.  Aus Schneider-Ammann würde auch nach jahrelangem Üben kein kleiner Reagan. Das Antrainieren von Gesten finde ich grundsätzlich falsch, weil dadurch die Authentizität verloren geht. Aber: Lockerheit vor der Kamera und dem Teleprompter kann man erlangen. Dafür gibt es einfache Übungen, die sich bewährt haben. Als Sparringpartner hätte ich den Bundespräsident dazu gebracht, ein paar Übungen zu machen. Wer den Mut hat, beim Aufwärmen herumzuhampeln und die Gesichtsmuskulatur zu lockern, steht bei der Aufnahme schliesslich nicht wie ein Hampel da.

4.  Ist die erste Aufnahme im Kasten, wird sie zusammen mit dem Protagonisten visioniert. Jetzt geht es darum, para- und non-verbale Unzulänglichkeiten zu korrigieren, jede Aufnahme ist wie ein Trainingslauf. Perfektion steht nicht im Zentrum, der Auftritt muss aber glaubwürdig sein. Wenn das Feuer für den Inhalt herüberkommt, ist das toll. Zumindest muss aber die Identifikation spürbar werden. Auch wegen diesem Aspekt fiel Adolf Ogis legendäre Neujahrsansprache im Jahr 2000 mit dem Tannenbäumchen nicht durch. (Ogi brüllte wie ein halbtauber Artillerieoffizier, obwohl das Mikrofon ganz in der Nähe war…)

5.  Die Version, die der Protagonist und sein Trainer als gut bzw. brauchbar einschätzt, wird von einem bislang nicht involvierten Berater angeschaut. Er empfiehlt “Go” oder “Do it again” – bei Zweiterem mit Verbesserungsvorschlägen.

Der Zeitaufwand für den ganzen Prozess mit Aufnahmen in drei Landessprachen beträgt nicht mehr als zwei Stunden.

6.  Der Hintergrund ist bei TV-Ansprachen kein Detail. Er darf nicht unruhig sein.

7.  Man wusste um die bescheidenen rhetorischen Fähigkeiten Schneider-Ammanns. Seine Berater machten im Vorfeld und während den Aufnahmen offensichtlich einige Fehler. Leider aber auch im Nachhinein. Das grosse mediale Interesse der letzten Tage müsste man nutzen: Ich hätte ihm einen TV-Auftritt organisiert, idealerweise am nächsten Sonntag bei „Giacobbo/Müller“ oder im „TalkTäglich“, das die drei Privatsender TeleZüri, TeleM1 und TeleBärn allabendlich ausstrahlen. Dort hätte sich Schneider-Ammann in Ruhe erklären und Sympathiepunkte zurückerobern können.

Ein agiler Beraterstab hätte optional eine selbstironische Videosequenz mit ihm aufgenommen und diese via Twitter lanciert. Aber wie dieses Twitterding funktioniert, hat man im WBF eben auch noch nicht verinnerlicht.

Mark Balsiger

 

Nachtrag vom 11. März 2016:

Inzwischen haben auch die “Washington Post” und die “Süddeutsche Zeitung” über den Auftritt Schneider-Ammanns berichtet. Und sein Beraterstab erklärte sich in den Medien.

 

 

Die „NZZ am Sonntag“, ein SVP-Twitterer und die Kristallnacht

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Seit vielen Jahren führt die „NZZ am Sonntag“ (NZZaS) eine Rubrik namens „Classe politique“. In diesen kurzen Texten kriegen normalerweise Einzelpersonen ihr Fett weg, mal witzig, mal süffisant, gelegentlich auch gesucht. Für Recherchen reicht es in der Regel nicht.

In den letzten beiden Ausgaben der NZZaS wurde ich in dieser Rubrik erwähnt. Richtig ist, dass ich in einen Rechtshändel verwickelt wurde. Unschön ist der Spin dieser Zeilen. So hat das Blatt ein entscheidendes Faktum geflissentlich ausgeblendet: Bei der Person, die gegen mich klagte, handelt es sich um den (ehemaligen) SVP-Schulpfleger aus der Stadt Zürich, der vor drei Jahren den längst berühmten Kristallnacht-Tweet veröffentlicht hatte. Die Glaubwürdigkeit des Kristallnacht-Twitterers ist derart angeschlagen, dass seine Nennung dem Text die Würze genommen hätte.

Wie der Stein ins Rollen kam: Ende Juni 2012 analysierte ich den Fall des Kristallnacht-Twitterers auf meinem Blog. Auf seine Forderung, seinen Namen zu anonymisieren oder diesen Text gar vom Netz zu nehmen, trat ich zunächst nicht ein – aus zwei Gründen:

  1.  Als gewählter Schulpfleger ist er eine öffentliche Person;
  2.  Die Dimension dieses Falles und der grosse Bekanntheitsgrad des damaligen SVP-Mannes im Netz machen ihn zu einer relativen Person der Zeitgeschichte.

Das Bezirksgericht Uster sah das anders. Ich muss Schadenersatz in der Höhe von 1735 Franken sowie 60 Prozent der Gerichtskosten (3000 Franken) bezahlen. Dieses Urteil focht ich nicht an, weil ich beruflich komplett ausgelastet war und keinen Sinn darin sah, mich weiter mit dieser Person, die nach eigenen Angaben gegen rund 20 Medienhäuser und Einzelpersonen prozessiert, auseinanderzusetzen. Der Kristallnacht-Twitterer wiederum zog das Urteil weiter, weil er eine grössere Summe wollte. Das Zürcher Obergericht lehnte dies im Frühling ab, das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.

Der Kristallnacht-Twitterer darf wieder namentlich genannt werden

Unschön ist die Rolle, welche die NZZaS in meinem Fall spielt: Sie verstösst meiner Meinung nach gegen die Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten. So dechiffrierte sie das anonymisierte Gerichtsurteil und fütterte die Rubrik „Classe politique“ mit meinem Namen und Foto – ein spannender Fall für Medienrechtler. Wenn sich solche profilieren möchten, feel free. (E-Mail an mich.)

Inzwischen hat das Zürcher Obergericht in einem anderen Fall entschieden, dass der Kristallnacht-Twitterer namentlich wieder genannt werden darf. Er sei eine relative Person der Zeitgeschichte – Bingo! Die doppelte Ironie der Geschichte: Bei den Gegnern des Kristallnacht-Twitterers, die vor Gericht diesen Erfolg errungen haben, handelt es sich um den „Tages-Anzeiger“ und… die NZZ.

Nebenbei: Dieser Gerichtsfall ist für mich eine Première, ich wurde zuvor noch nie mit einer Klage eingedeckt.

Zur Abrundung veröffentliche ich hier erneut mein Blogposting über den Kristallnacht-Twitterer vom 26. Juni 2012 – anonymisiert. Sonst flattert womöglich wieder eine Klage ins Haus.

Der Fall des Kristallnacht-Twitterers – Blogposting 2012 (PDF)


Mark Balsiger

Der Preis für die Schönwetter-Rhetorik

Die Prognose vorweg: Die Schweiz wird wegen der Masseneinwanderungs-Initiative nicht untergehen, auch wenn das im Vorfeld ein paar Wirrköpfe aus beiden Lagern behauptet hatten. Aber ein Teil der Brücke nach Brüssel wurde heute abgerissen, der Zugang zum EU-Binnenmarkt steht auf dem Spiel. Für Politik und Wirtschaft ist das Abstimmungsresultat eine Demütigung. Ihre Exponenten haben es verpasst, frühzeitig und ehrlich die negativen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit zu thematisieren. Eine Abstimmungskommentar, der nicht ohne Polemik auskommt.

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Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Die Schweiz ist in meiner Wahrnehmung kein xenophobes Land, aber: seine Bürgerinnen und Bürger sind zutiefst verunsichert. Das Abstimmungsergebnis mit 50.3 Prozent Ja-Stimmen und 14,5 Ständen zeigt das deutlich auf.

Unser Land wird immer wieder von diffusen Ängsten ergriffen, einzelne Akteure von links und rechts schüren diese gezielt. Seit wenigen Jahren gesellen sich zu den diffusen Ängsten allerdings auch reale Sorgen, die auf eigenen Erfahrungen basieren: Viele Menschen aus fast allen Branchen und Altersgruppen fürchten sich vor Jobverlust, steigenden Mieten, sozialem Abstieg und der ungewissen Zukunft; viele unter ihnen haben Leute in ihrem persönlichen Umfeld, die von diesem Strudel schon erfasst wurden.

Laut dem Seco gibt es derzeit 205’000 Erwerbslose. Diese Zahl hat sich seit der vollen Personenfreizügigkeit für die EU-17-Staaten im Frühling 2007 verdoppelt. 205’000 Menschen suchen in unserem Land Arbeit – es sind IT-Fachleute, Bauarbeiter, Kellnerinnen, usw. –, finden aber keinen Job. An ihrer Stelle rekrutiert man laufend neue Arbeitskräfte im Ausland, zum Teil weil sie besser ausgebildet, vor allem aber weil sie jünger und günstiger sind. Gleichzeitig foutiert sich die Wirtschaft um die Probleme, die so entstehen. Der Bundesrat wiederum zaudert – und zaubert alle paar Monate ein neues Kaninchen aus dem Zylinder. Einmal heisst es “EWR light”, ein anderes Mal “Bilaterale plus”. Das einzige Ziel dieser Übungen: Die Landesregierung will Zeit gewinnen; sie hat keine Strategie, wie die Zusammenarbeit mit der EU weitergehen soll.

Seit nunmehr 15 Jahren werden von Politik und Wirtschaft die Slogans „Erfolgsmodell Schweiz“ und „der bilaterale Weg ist der Königsweg“ gebetsmühlenartig wiederholt, 2007 ist das Schlagwort „Fachkräftemangel“ dazugekommen. Tatsache ist, dass in den letzten Jahren durchschnittlich 80’000 Personen netto zugewandert sind. Längst nicht alle zählen zu den gesuchten Fachkräften, wie das die Schönfärber behaupten. Ein Drittel der Zugezogenen sind Familienmitglieder (Familiennachzug), Tausende versuchen ohne einen Arbeitsvertrag erfolglos ihr Glück (Scheinselbständige), reisen aber nach drei Monaten nicht wieder aus. Tatsache ist, dass die Personenfreizügigkeit in unserem Land eben nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Verlierer.

Heute bezahlen Bundesrat und Wirtschaftsverbände den Preis für ihre Schönwetter-Rhetorik. Der Schaden ist angerichtet, und er ist gross. Die Masseneinwanderungs-Initiative ist ein Kuckucksei, das die Zusammenarbeit mit der EU massiv erschwert. Wirtschaftlich sind wir auf einen ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Menschen angewiesen. Die Personenfreizügigkeit aufkünden wäre eine Zäsur, die Arbeitslosigkeit würde in die Höhe schnellen.

Das Establishment muss sich nun das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder erarbeiten. Am Anfang steht eine schonungslos-ehrliche Debatte. Die Frage lautet:

Welche Schweiz wollen wir? Eine Ballenberg-Schweiz? Ein zweites London im Mittelland? Nebst solch radikalen Ideen gäbe es zweifellos auch Optionen, die sich am pragmatischen eidgenössischen Weg orientieren.

Für diesen Weg in die Zukunft bräuchte es einen Pakt der Ehrlichkeit und Verantwortung. Und es bräuchte Haltung. Die Elite aus Politik und Wirtschaft ist herausgefordert, glaubwürdige Szenarien zu entwickeln, stetig zu kommunizieren und schliesslich Schritt für Schritt umzusetzen. Es muss in Zukunft wieder möglich sein, untauglichen Anliegen à la Masseneinwanderungs-Initiative frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mark Balsiger


Nachtrag von 18.20 & 19 Uhr – andere Kommentare:

– (TA, Res Strehle)
Eine Zäsur für die Schweiz (NZZ, Markus Spillmann)
Insel der Einsamen (Südostschweiz, David Sieber)
Jetzt muss Blocher Aussenminister werden (Watson, Philipp Löpfe)

Schweizer Stimmung mit fatalen Folgen (FAZ, Jürgen Dunsch)
Freizügigkeit, nein danke (Süddeutsche, Wolfgang Koydl)
Land des Geldes, Land der Angst (Spiegel online, David Nauer)
Die Schweiz sagt “Fuck the EU” (Die Zeit, Matthias Daum)

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Foto Brücke: srf.ch
Grafik: swissinfo, via electionista