Nemo ist nicht Bundesrätin Keller-Sutter

Publiziert am 05. August 2024

Seit Monaten hat sich ein Mob auf Nemo eingeschossen. Aus dem Nichts kommt das nicht. Dennoch sollten Medien und PR-Leute verantwortungsvoller mit dem Star aus Biel umgehen. Der Abbruch eines Interviews mit ihm schadet letztlich allen.

Direkt nach dem Auftritt am Lakelive Festival sprach Nemo mit dem «Bieler Tagblatt». Als die Journalistin eine Frage zum «politisch aufgeladenen ESC» in Malmö stellte, intervenierte die Presseverantwortliche des Stars. Schliesslich brach Nemo das Gespräch ab, weil «sich jede Frage wie eine Provokation anfühlt». Am Samstag wurde das Rumpf-Interview publiziert und schlägt seither Wellen.  (Es ist hier als PDF verlinkt.)

Natürlich, es gehört zum Job der Journalistinnen und Journalisten, Fragen zu stellen. Natürlich, Interviews sollen kritisch sein. Tatsache ist, dass sie es in den Bereichen Sport, Kultur und Showbusiness oftmals nicht sind, weil den Medienschaffenden die Distanz fehlt oder sie sogar Fans sind. Selbst Roger Schawinski, der härteste Talker der Nation, stellte keine harten Fragen mehr, als er Emil zu Gast in seiner Sendung hatte.

Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Sängerinnen wollen alle dasselbe: in den Medien gut herüberkommen. Vor, während und nach Interviews tun sie und ihre Entouragen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollen die Bedingungen diktieren, Redaktionen lassen sich nicht selten darauf ein, weil sie Prominenz und Exklusivität hoch gewichten. Das Resultat sind glattgebügelte Interviews, die uns beim Lesen langweilen.

Ich habe früher oft über Musik geschrieben und viele Interviews geführt, etwa mit Marla Glen, Kuno Lauener, 4 Non Blondes oder Gianna Nannini. Das war manchmal beglückend und manchmal zäh. Und manchmal sagten die Stars Dinge, die sie in die Bredouille gebracht hätten. Ich liess allzu Provokatives oder Unreflektiertes stets weg – zuweilen müssen Künstlerinnen und Künstler vor sich selbst geschützt werden.

Der Fall von Nemo ist anders gelagert: Das Talent aus Biel wird seit Monaten im grossen Stil mit Bösartigkeiten und Hass eingedeckt: Zum einen, weil es nicht-binär ist und ein drittes Geschlecht propagiert, zum anderen, weil es beim ESC den Boykottaufruf gegen Israel mitgetragen haben soll.

Nemo zu den Vorgängen in Malmö keine kritischen Fragen zu stellen, wäre unjournalistisch, natürlich, aber die Medien haben auch eine Verantwortung, nicht unnötig Öl ins Feuer zu giessen. Was im «Bieler Tagblatt» seinen Anfang nahm, hat den Mob sofort mobilisiert.

Keine überzeugende Rolle spielte Nemos Management: Zunächst legte es schriftlich fest, dass die Journalistin auf politische Fragen verzichten solle, rückte aber später wieder davon ab. Zudem verzichtete es darauf, das Interview zurückzuziehen.

Was wir nicht vergessen sollten: Nemo ist gerade einmal 25 Jahre alt und erst seit dem letzten Mai auf der Weltbühne. Im eigenen Lager ist Nemo eine Ikone, für andere eine Hassfigur, allein der Name triggert enorm. Das legt nahe, einen anderen Massstab anzuwenden, als beispielsweise bei Karin Keller-Sutter, die seit 24 Jahren Berufspolitikerin ist.


Nachtrag vom 6. August 2024: 

Heute reagiert der Co-Chefredaktor der «Bieler Tagblatt» (BT) mit einem Leitartikel. Er schreibt, dass Nemo der Sache mit dem Interview-Abbruch schade. Sein Ansatz ist durchdacht, klar formuliert, was dieser schwierigen Debatte hilft. Der Leitartikel ist hier verlinkt (vor der Bezahlschranke).

 

Foto: Benjamin Ramsauer, SRF

Dieser Beitrag ist zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche, erschienen. 

One Reply to “Nemo ist nicht Bundesrätin Keller-Sutter”

  1. In der «Sonntags-Zeitung» gab das Management von Nemo ein Interview. «Persönlich» bringt ein paar zentrale Punkte:

    Seit Mai 2023 ist Lazzarotto mit seiner Agentur Capitano Music für das Management von Nemo zuständig. In dieser Funktion koordiniert und organisiert der erfahrene Musikmanager auch die Medienauftritte. Aus den zahlreichen Kontakten mit Journalistinnen und Journalisten vor und nach Nemos ESC-Gewinn stach vor allem ein Vorkommnis heraus, über das bis heute kontrovers diskutiert wird. Am 31. Juli brachen Nemo und eine Mitarbeitern des Managements ein Interview mit dem Bieler Tagblatt ab, in dem Moment, als die Journalistin Fragen zum «politisch aufgeladenen ESC» stellen wollte.

    Gegenüber der Sonntagszeitung verteidigt Reto Lazzarotto nun dieses Vorgehen. «So wie das Gespräch geführt wurde, stehe ich voll dahinter. Die Fragen waren durchs Band provokativ gestellt. Die Journalistin war einzig auf Schlagzeilen aus, das ist meine Einschätzung», lautet die Antwort des Musikmanagers auf die Frage, ob er Nemos Reaktion für angebracht halte. Mit den «provokativ» gestellten Fragen meint Lazzarotto die Erkundigungen danach, warum es einen Monat gedauert habe zwischen ESC-Sieg und dem ersten öffentlichen Auftritt Nemos in seiner Heimatstadt Biel oder wie gross der Druck sei, neue Musik herauszubringen, um die Hallen zu füllen. «Nemo muss sich nicht alles gefallen lassen», sagt Manager Lazzarotto dazu im Sonntagszeitung-Interview.

    Auf die Frage, warum Nemo nach dem ESC keine grösseren Interviews mehr in Schweizer Medien gegeben hat, erwidert Lazzarotto, dass man sich entschieden habe, den Fokus erst mal auf das Ausland zu legen und in der Schweiz keine weiteren Pressetermine zu machen beziehungsweise sie auf später zu verschieben. So sagte das Management kurzfristig einen Interviewtermin mit drei Schweizer Zeitungen ab, wie der SonntagsBlick vor einer Woche publik machte.

    Dafür sprach Nemo unter anderem mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel. Dabei habe Nemo auch politische Fragen beantwortet. «Der Abbruch in Biel ist die absolute Ausnahme», sagt Reto Lazzarotto der Sonntagszeitung. Die Zurückhaltung mit Medienterminen rühre auch daher, dass es nach dem ESC sehr viel zu tun gegeben habe mit kreativer Arbeit für all die anstehenden Auftritte. (nil)

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