Zwischen kreativ und einschläfernd: Die Videoclips zu den Zürcher Wahlen

Schweizer Parteien und Politisierende versuchen sich seit Jahren mit Videos. Was 2006 mit verwackelten 1.-August-Reden, die im Netz von niemandem angeklickt wurden, anfing, kommt inzwischen deutlich professioneller daher. Doch auch heute tun sich Parteien und Protagonisten schwer mit der Kürze – und mit gelungenen Umsetzungen. Womit die Parteien und Kandidierenden für die Zürcher Wahlen überzeugen wollen, haben wir uns genauer angeschaut.



Die Grünen wagen sich aufs Glatteis, denn es birgt Absturzgefahr, in einem Video eine Story in Versform zu erzählen. Doch bei dieser „Saga“ passt der Text; sie ist kreativ umgesetzt und frech. Die wunden Punkte aus der Sicht der Grünen werden hervorgehoben und es blitzt sogar Selbstironie auf. Kein Wunder, dass dieser Clip bislang zehn- bis dreissig Mal öfter angeschaut wurde als die Produktionen der anderen Parteien.


Die SP nimmt es sich zu Herzen: Gelungene Parteivideos sind kurz, pointiert und witzig. Mit ihrer Dreierserie gelingt das nicht schlecht. Pro Clip wird ein Thema angerissen, die Comix sind animiert und bringen das Anliegen der Partei auf den Punkt. Der Plot überzeugt allerdings nur bei „Gerechte Steuern“.


AL-Kandidat Markus Bischoff besinnt sich auf die Anfänge der Wahlwerbungen fürs Fernsehen in den USA. In den 1950er-Jahre – damals noch in Schwarz-Weiss – waren es “Talking Heads”, Politkerköpfe, die zum Publikum sprachen. Genau das tut Bischoff auch – einfach in Farbe. Im Gegensatz zu US-Präsidentschaftskandidat Dwight Eisenhower und Co. ist Bischoff allerdings apolitisch. Wer ihm auf der Plattform „wemakeit“ Geld spendet, wird eingeladen – zum Sonntagsbraten, zu einer Bratwurstparty oder zu einer feinen Zigarre. Letzteres ist ein Fauxpax: Luxus-Zigarren haben etwas Dekadentes und passen deshalb nicht zur Alternativen Liste (AL).


Die FDP weiss, wie man einen Wahlzettel richtig ausfüllt. (Die anderen Parteien hoffentlich auch). Sie produzierte ein Lernvideo für „Dummies“: Die Sprache ist locker, die Musik passt und der Clip ist handwerklich überzeugend gemacht.


Die SVP ist mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht Fan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ob er gut küsst, ist nicht relevant. Wir können bloss hoffen, dass seine Küsse nicht so laut tönen wie das SVP-Produkt suggeriert. Dieser „Clip“ fokussiert stufenweise auf das bestbekannte Plakat – und sonst nichts. Das sei „ein bisschen billig“, lautet den auch prompt der bislang einzige Kommentar auf „Youtube“.


Bleibt noch das Video der “Top5 für Zürich”: Harter Schnitt, die Protagonisten von SVP, FDP und CVP werden stets nur mit einem Auge eingeblendet, der Beat treibt voran – das Intro ist gelungen. Doch die nachfolgenden sechseinhalb Minuten sind zum einschlafen: Die Protagonisten wirken steif, ihre Aussagen tönen abgelesen und sind zum Teil holprig aus dem Hochdeutschen übersetzt; mit Ausnahme von Carmen Walker Späh (FDP) kommt niemand authentisch rüber. Dieser Clip ist klinisch und die Kameraführung irritiert. Deshalb: leider nein.

Aline Clauss & Mark Balsiger


Nachtrag vom 27. März 2015:
In einer adaptierten Vesion wurde dieses Posting von “20Minuten” übernommen.

Frühere Postings zum selben Thema: 

Der “All-Time-Favorite” unter den Partei-Clips mit rund 130’000 Clicks: Die Baselbieter FDP-Sektion Reinach mit “Gäll du wählsch mi?” aus dem Jahr 2012. Unsere kurze Einschätzung über dieses Video, die wir gegenüber “20Minuten” gemacht hatten.

Überflieger werden vom Himmel geholt

Sandro Brotz, 44, ist der Mann mit den harten Fragen. Seit mehr als 20 Jahren wirkt er im Boulevardjournalismus. Mit hartnäckigen Recherchen und knalligen Storys, die zuweilen überdrehten, machte er sich einen Namen. Wo andere resignierten, grub er weiter in die Tiefe und liess sich dabei nicht ins Bockshorn jagen. Genauso unerschrocken können wir ihn Mittwoch für Mittwoch als Moderator des Politmagazins „Rundschau“ beobachten. Stets ist er gut vorbereitet, seine Fragen haben einen roten Faden, und er hört genau zu, während seine Gäste antworten. Das erlaubt es ihm, nachzuhaken und Schwachstellen zu thematisieren. Brotz will sein Vis-à-vis aus der Reserve locken, er liebt Emotionen und den Schlagabtausch.

sandro_brotz_280_srf_chFür Schweizer Verhältnisse ist sein Interviewstil direkt und provozierend. Vielen Zuschauerinnen und Zuschauer geht das zu weit, das Aushängeschild der „Rundschau“ polarisiert. Das zeigte sich exemplarisch nach dem Interview mit Ueli Maurer von Mitte April. Vor laufender Kamera tickte der Verteidigungsminister aus, nannte das Schweizer Fernsehen „tendenziös“ und den Beitrag über den Gripen „journalistisch eine schwache Leistung“. Die Mixtur SVP-Maurer, Kampfjets und vermeintlich linkes Staatsfernsehen beherrschte sofort die Schlagzeilen. Anstelle eines Wettstreits der Argumente über die Gripen-Vorlage vom 18. Mai, setzte eine Mediendebatte ein. Wobei der Begriff „Debatte“ ziemlich nobel ist. Er kontrastiert mit dem, was effektiv zu lesen ist: Maurer kriegt sein Fett ab, Brotz wird diffamiert. Doch davon später.

Claude Longchamp, 57, ist der Mann mit dem Fiebermesser. In regelmässigen Abständen nimmt er die Temperatur der Nation. Sein Forschungsinstitut gfsbern liefert Momentaufnahmen, keine Prognosen – ein erheblicher Unterschied. Was Longchamp zum bekanntesten Politologen des Landes machte, sind seine TV-Auftritte an Abstimmungs- und Wahltagen. Seit dem 6. Dezember 1992, als das EWR-Nein die Schweiz in Agonie stürzte, erklärt er eloquent, temporeich und mit Schalk in den Augen, was Sache ist. Keine Frage: er geniesst diese Auftritte. Den Faden verliert er nie, seine Sätze sind wie gedrechselt, die Einschätzungen stringent, die Fliege sitzt perfekt. Was er bietet, ist bestes Infotainment.

claude_longchamp_280_blick_chSeit vielen Jahren ist Longchamp zudem mitverantwortlich für die Vox-Analysen. Sie liefern vertiefte Erkenntnisse, wie Herr und Frau Schweizer abgestimmt haben. So brachte die Studie über die Masseneinwanderungsinitiative zutage, dass nur 17 Prozent der unter 29-Jährigen teilgenommen hatten. Dieser Befund schlug medial ein wie eine Bombe, Longchamp wusste, weshalb. Tage später meldeten Politologen aus Genf und Zürich ihre Zweifel an. Dieser Wert sei „wohl zu tief“, schrieben sie, die Zahlen widerlegen können sie allerdings nicht. Seither entlädt sich ein heftiger Gewitterregen über Longchamp, während die Vox-Mitautoren von den drei Universitäten sich unter ihren Pulten in Deckung gebracht haben. Schnell wird klar: Hier geht es nicht nur um Demoskopie, mit der die Politikwissenschaft seit jeher Mühe bekundet, es geht um Deutungsmacht, verletzte Eitelkeiten und Abrechnungen. Die Feinde, die sich Longchamp in vielen Jahren erarbeitete, arbeiten sich jetzt an ihm ab. Endlich hat man die Gelegenheit, den eitlen Maestro, den einzelne Kritiker als „cholerisch“ oder „Diva“ etikettieren, zu deckeln. Die Journalisten, denen der Mann mit der Fliege schon mal auf den Schlips gestanden ist, freuts. Sie machen auf hau den Longchamp.

Es gibt Parallelen zwischen beiden Fällen: Longchamp und Brotz befassen sich seit Jahrzehnten leidenschaftlich mit Politik, beiden stehen im Schaufenster der Nation, beide sind bekannter als viele Spitzensportler, Nationalräte oder Wirtschaftsführer. Sie sind Reizfiguren und ragen markant über das helvetische Mittelmass hinaus. Das weckt Missgunst und Neid. Man spekuliert darauf, die Überflieger vom Himmel zu holen.

Longchamp und Brotz werden in Leserbriefspalten, Internetforen und Social-Media-Kanälen geprügelt. Ich ackerte mich zwei Stunden lang durch diese Kommentare und empfehle Ihnen, nicht dasselbe zu tun. Der Befund ist nämlich erschreckend: Roh und dumpf wird ausgeteilt, verurteilt und ausgegrenzt. Doch das ist nur der sichtbare Teil einer solchen Hetze. Aus beruflicher Erfahrung – meine Firma wird regelmässig in Krisensituationen beigezogen – weiss ich, dass der unsichtbare Teil noch weit grösser und verletzender sein kann. Ich spreche von E-Mails, Briefen und SMS, die den Protagonisten geschickt werden. Manchmal zu Hunderten. In diesen Verlautbarungen entlädt sich blanker Hass.

Chaoten hinterlassen auf ihren Saubannerzügen zu den Fussballstadien eine Spur der Verwüstung, Online-Hooligans machen Andersdenkende fertig. Die vielgelobte Dialogkultur im Netz scheint vor die Hunde zu gehen. Eine Studie in Deutschland zeigt auf: 2011 musste jeder siebte Leserkommentar gelöscht werden, inzwischen ist es bereits jeder fünfte. Sind wir besser – anständiger! – als die Deutschen? Mich übermannen Zweifel.

Mark Balsiger

Dieser Text ist diese Woche in einer kürzeren Version in der “Handelszeitung” erschienen.


Fotos:

– Sandro Brotz: srf.ch
– Claude Longchamp: blick.ch

Ein P.S. zu Wahlkämpfer Beat Zoss

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Die mobilen Plakatständer wurden längst abtransportiert, die “Analysen” gemacht, das Wundenlecken geht jetzt in einen langsamen Prozess des Vergessens über. Der Berner Wahlkampf 2014 ist Geschichte. Darum schiebe ich ein P.S. nach.

Woran werden wir uns erinnern – in drei Monaten, im nächsten Herbst, in vier Jahren? Der Verdacht liegt nahe: an nichts, nada, die Festplatte auf dem Hals ist zu diesem Schlagwort leer. Dafür waren die letzten Monate schlicht zu langweilig, der Wahlausgang absehbar.

Vielleicht konnte sich aber Beat Zoss, der virtuelle Regierungsratskandidat der BZ-Redaktoren Stefan von Bergen und Christoph Aebischer ins Langzeitgedächtnis schmuggeln. Der überdrehte Bünzli, gespielt vom Berner Künstler Matto Kämpf, war ein Farbtupfer im Einheitsgrau der Berner Wahlen. Er sorgte mit seinen zuweilen klamaukigen Aktionen für Erheiterung, aber auch Kopfschütteln. Dass dieses Experiment mit heftiger Kritik eingedeckt werden dürfte, sagte ich schon am Tag der Lancierung voraus. Nichts weniger als die Demokratie sah man gefährdet.

Wer Zoss eine Chance gab und die Satire ausblendete, konnte mitverfolgen und lernen, was Wahlkampf bedeutet: Unterschriftensammeln, Social-Media-Kanäle füttern, ein Unterstützungskomitee zusammenstellen, Familie und Golden Retriever vor die Linse locken, bei einer Stilberaterin Tipps für das richtige Outfit einholen (Bild unten), und Veranstaltungen über sich ergehen lassen, bei denen mehr Leute auf dem Podium sitzen als im Saal. Kurz: ein Marathon.

Genau deshalb finde ich das Experiment wertvoll. Kandidatinnen und Kandidaten könnten sich in Zukunft an einzelnen Elementen der Zoss-Kampagne orientieren. Er hatte eine überzeugende Website, bei den Fotos waren Profis am Werk, auf Facebook und Twitter meldete er sich stetig zu Wort. Bleibt zu hoffen, dass seine Profile möglichst lange online bleiben.

Mark Balsiger


Die Profile von Beat Zoss im Netz:

Website
Facebook-Page
Twitter

Weitere Hintergründe:

Wie Beat Zoss den realen Berner Wahlkampf wachgeküsst hat
(Berner Zeitung BZ, 5. April 2014)
Wie Kämpf den Zoss machte (Interview; BZ, 5. April 2014)

Foto Beat Zoss: Beat Mathys/BZ

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P.S.  Für mich hat dieses Zoss-Video schon jetzt Kultstatus. Es kommt in dieselbe Liga wie Emils Nummer “Der Wahlverlierer” (im Netz leider nicht auffindbar).

Watson oder die Herausforderung, packende Geschichten multimedial zu erzählen

Vor 25 Jahren machte Hansi Voigt ein grossartiges, aber damals noch völlig unbekanntes Pop-Duo aus England zu Szenen-Stars. Gestern schob er mit seiner Crew das Newsportal “Watson” ins Netz. Es wurde schon seit mehr als einem Jahr mit Spannung und gehörigem Respekt erwartet. Schlaglicht auf fünf grosse Herausforderungen, die “Watson” meistern muss, um zu reüssieren.

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Die Spannung stieg mehr als ein Jahr lang stetig, zumal Chefredaktor Hansi Voigt einige bekannte Namen aus der Medienszene verpflichtet konnte. Kaum war “Watson” vor genau 24 Stunden online gegangen, schwollen zahllose “Good-Luck”- und “Endlich!”-Tweets zu einem tosenden Applaus an. Die Kurznachrichten lassen erkennen, wie die Medien- und Werbe-„Bubble“ auf den Start des neuen Newsportals gewartet hatte. Die mehrheitlich positiven Reaktionen sind ein wichtiges Signal für die Werbewirtschaft – und sie motivieren die Macherinnen und Macher.

Der erste Eindruck: Das Layout ist grosszügig, die Schrift serifenfrei, das neue Newsportal setzt auf Farben und grossformatige Bilder. Dass man scrollen und scrollen und scrollen muss, ist für mich gewöhnungsbedürftig. Noch hat es Bugs und Kinderkrankheiten, aber das ist bei einer Beta-Version normal. Die Kooperation mit “Spiegel Online” (SPON) darf als Trumpf bezeichnet werden; kein anderes Online-Medium im deutschsprachigen Raum ist ähnlich gut.

Das Projekt “Watson”, dem Englischen “what’s on?” – was ist los? – angelehnt, hatte schon lange vor seinem Start eine enorme Beachtung. Das wird auch in Zukunft so bleiben, weil der Verdrängungskampf in der Branche mörderisch ist. “Watson” ist nebst der „Tageswoche“ das erste Portal, das sich nicht auf einen etablierten Medienverlag mit solid eingeführten Zeitungsmarken abstützen kann. Das ist die “grüne Wiese”, die Voigt und sein 60-köpfiges Team (bei 43 Vollzeitstellen) nun beackern können.

“The Next Big Thing”, wie “Watson” im Vorfeld angekündigt worden war, muss grosse Herausforderungen meistern. Ich benenne fünf:

1.) Kapital:
Auch wenn „Watson“ auf die kostenintensive Produktion und Distribution, die Printmedien belasten, verzichten kann, braucht das Portal Geld – viel Geld. Peter Wanner von den AZ Medien in Baden schoss vorerst 20 Millionen Franken für das Start-up ein. Wie lange reicht das? Der Aargauer Verleger gilt als sprunghaft: Kriegt er kalte Füsse, dürfte es für „Watson“ schnell ungemütlich werden. Vier Jahre bis zum erwarteten Break-even sind eine lange Zeit.

2.) Werbung:
Kaufzeitungen finanzieren sich grosso modo über Werbung (zwei Drittel) und Abonnemente (ein Drittel). Der Zugriff auf die Website von „Watson“ ist ohne Barriere möglich, d.h. die Surferinnen und Surfer können die Inhalte gratis konsumieren. “Watson” setzt voll auf die Generation Touchscreen, also Leute, die 16 Stunden am Tag ihre Handys und Tablets mit dem Zeigefinger oder Daumen streicheln. Gerade auf Smartphones ist Bannerwerbung aber unbeliebt. Die Macher müssen folglich Wege finden, um auf andere Art Geld zu verdienen; Stichwort Data-Mining, das massgeschneiderte Werbung ermöglicht. Ob das funktioniert, ist offen.

3.) Konkurrenz:
Bereits die Ankündigung von „Watson“ machte die etablierten Medienhäuser nervös. Sie werden alles daran setzen, das neue Portal auszuhungern. Wie das geht, zeigte Tamedia exemplarisch auf dem damals noch boomenden Markt der Pendlerzeitungen: Kaum hatte Sacha Widgorowits im Herbst 2007 das Gratisblatt „.ch“ (Punkt CH) lanciert, schob der Zürcher Konzern „News“ nach. Auf diese Weise konnte Tamedia dem neuen Konkurrenten viele Werbekunden abspenstig machen und „.ch“ schliesslich die wirtschaftliche Grundlage entziehen. Der Verdrängungskampf war nach 24 Monaten gewonnen und “News” wurde wieder eingestellt.

hansi_voigt_medienwoche_3004.) Inhalt:
Medienkonsumenten sind je länger, je mehr online unterwegs. Längst haben sie ihre Favoriten im Netz: “20min”, SRF News online, “blick”, “Newsnet” (das gemeinsame Newsportal von “Tages-Anzeiger”, “Berner Zeitung”, “Bund” und “Basler Zeitung”) oder NZZ (mit poröser Bezahlschranke), um nur die grössten zu nennen. Realistischerweise hat es keinen Platz mehr für zusätzliche Anbieter, zumal die Platzhirsche alles daran setzen werden, ihre Positionen zu verteidigen. Hat die “Watson”-Redaktion die Fähigkeit, News auf eine andere Art und so attraktiv zu vermitteln, dass das neue Portal journalistisch reüssiert?

5.) Medienschaffende:
Online funktioniert Journalismus komplett anders als Print. Bis das Know-how solid verankert ist, wird noch einige Zeit verstreichen. Die Realität ist, dass es in der Schweiz zu wenig vife Online-Journalisten gibt. Das ist keine Behauptung von mir, sondern von den Sachverständigen aus verschiedenen Medienhäusern; sie sagen es hinter vorgehaltener Hand. Online-Journalismus wird zwar schon seit Jahren an verschiedenen Ausbildungsstätten vermittelt und einige Medienverlage bieten trimediale Praktika an. Das Interesse der Studierenden am Online-“Ding” ist allerdings nicht sehr gross. Und mit Bildstrecken, Hyperlinks und eingebetteten Videos ist es noch lange nicht getan. Online-Journalismus heisst Geschichten multimedial zu erzählen.

Trotz allem glaube ich an die Chance von “Watson”, und das ist eng mit der Person von Hansi Voigt (Foto oben) verknüpft. Niemand in der Schweiz hat so viel Erfahrung im Online-Journalismus wie der Aarauer. Ihm steht nicht das Ego im Wege, er will etwas bewegen, er ist ein kollegialer Chrampfer, der seine Leute motivieren und unermüdlich antreiben kann. Rund 40 davon sind ihm von “20Minuten online” gefolgt – das will etwas heissen.

Voigt hatte als junger Erwachsener einen guten Riecher: Ende der Achtzigerjahre holte er das famose Duo “And All Because The Lady Loves” aus Newcastle in die Schweiz. Als Manager baute er die beiden noch völlig unbekannten Künstlerinnen auf und machte sie zu Szenen-Stars. Das brauchte Idealismus, Chuzpe, Biss und Überzeugungsarbeit. Von all dem braucht Voigt die nächsten Jahre wieder viel – und dazu noch viel, viel Geld. Wenn seine “Watson”-Leute Geschichten so packend und so intensiv erzählen wie “And All Because The Lady Loves” damals, könnte es klappen.

Mark Balsiger


Refresher:
Weil es so umwerfend gut ist, sei das Interview, welches “Schweiz-am-Sonntag”-Redaktor Christof Moser vor Jahresfrist mit Hansi Voigt führte, hier nochmals verlinkt:

Ex-Chef von “20Minuten” kritisiert Tamedia (5. Januar 2013)


Medienspiegel (Nachtrag):
Was andere über den Start von “Watson” sagen:

Was am neuen Nachrichtenportal Watson auffällt
(Tageswoche, David Bauer)
Whatson, what’s next? (NZZ, Rainer Stadler)
Was Watson anders macht als die Konkurrenz
(Medienwoche, Nick Lüthi & Ronnie Grob)
Hello, my name is Watson (Mediaschneider, Sean Pfister)
Watson – ein neues Produkt in der Schweize Medienlandschaft
(SRF/”Echo der Zeit”, Klaus Bonanomi)
Watson – ein Bild-HuffPost-Buzzfeed-Mix (ausgeheckt, Julian Heck)
Wer ist Holmes? Der Star heisst Watson
(Die Trendblogger, Christian Simon)
Der Publizist als Dampfkochtopf (Tagi/Bund, Jean-Martin Büttner)
Wieso mich Watson (zunächst) alt aussehen liess
(eigenwach, Carmen Epp)


Fotos:

– “Watson”-Logo: svenruoss.ch  
– Hansi Voigt: medienwoche.ch

 

Der Siegeszug von WhatsApp

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Alle im Schulzimmer
lachen auf. Nein, nicht weil jemand etwas Lustiges gerufen hat. Auch nicht, weil dem Dozent ein Missgeschick passiert ist. Vielmehr hat der Kommilitone vorne links gerade etwas Witziges auf WhatsApp geschrieben. Im Gruppenchat der Klasse.

Sich austauschen in der Pause ist passé. Heute gilt: Live-Chatten per WhatsApp, die Augen sind fast immer auf das Display des Smartphones gerichtet. Alle sind jederzeit bereit, selber etwas zur virtuellen Diskussion beizutragen.

WhatsApp, die Applikation für den Austausch von Nachrichten auf Smartphones, hat das Kommunikationsverhalten einer ganzen Generation verändert. Wurden früher weltweit einige Hundert Millionen SMS verschickt, zählt WhatsApp dieser Tage bis zu 27 Milliarden Nachrichten, und das täglich (siehe https://twitter.com/WhatsApp). Diese stammen von den insgesamt 250 Millionen Nutzern weltweit.

Für die Schweiz sind keine eigenen Daten verfügbar. Aber auch hier ist klar: WhatsApp hat SMS den Rang abgelaufen. Deshalb reagierte die Swisscom. Der Branchenleader stellte seine eigene webbasierte App “für Kommunikation”: iO ins Netz. Ende Juli zählte sie 320’000 Nutzerinnen und Nutzer. Bis Ende September wurde die App 390’000 Mal heruntergeladen, schrieb das Swisscom-Medienteam auf Anfrage.

Die Anzahl User, die in der Schweiz über Smartphones surfen, hat sich innerhalb von drei Jahren verdoppelt. Heute nutzen über drei Millionen Leute in der Schweiz das Internet auch über ihr Smartphone, zwei von drei tun dies täglich oder fast täglich. Die Tendenz ist weiterhin stark steigend.

Was bedeuten WhatsApp und Co. für die Gesellschaft? Die Kommunikation unter den Usern wird immer intensiver. Die Freundin macht ein Austauschsemester in Shanghai? Kein Problem, mit ihr ständig in Kontakt zu bleiben. Am Freitagabend allein zuhause sitzen? Nie mehr. Mit WhatsApp sind schnell Freunde dabei. Unentschlossen im H&M stehen und sich fragen, ob die blaue oder rote Hose besser passt? Schnell ein Foto machen und die Schwester fragen.

Die Kernfrage ist eine andere: Bedeutet das alles ein Fortschritt?

 

Thomas Hodel

 

Foto: wdr_de

 

Greenpeace Schweiz ist zurück im harten Geschäft mit der Aufmerksamkeit

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Seit 40 Jahren schafft es Greenpeace immer wieder, mit spektakulären Aktionen für Aufmerksamkeit zu sorgen. So auch gestern Abend im “St. Jakob-Park” in Basel. Kurz nach Anpfiff des Champions-League-Matchs Basel gegen Schalke 04 seilten sich ein paar Aktivisten mit routinierten Griffen und ohne Hast vom Stadiondach ab, um ein 28 Meter breites Transparent (siehe Foto) auszurollen. Der Unterbruch dauerte knapp fünf Minuten. Nach weiteren fünf Minuten hatte das erste Onlinemedium die ersten Fotos hochgeladen.

Ein Aktivist auf dem Stadiondach hatte die Nerven, während der Aktion Fotos zu machen. Hernach wurden sie via Twitter verbreitet:

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Die Aktion gegen den russischen Gaskonzern Gazprom wurde zu einem Selbstläufer. Inzwischen, 24 Stunden später, haben gemäss Schweizer Mediendatenbank (SMD) nicht weniger als 70 verschiedene Medien darüber berichtet. Die News und Bilder schwappten um die halbe Welt. (Die Uefa erwirkte zwar, dass Videos auf Youtube gesperrt wurden, anderswo verbreiteten sie sich aber ungehindert.) Das ist ein grosser Erfolg, und ein Ende der Publizität ist nicht abzusehen, wenn die Berichterstattung sich auch in verschiedene Richtungen entwickelt. Es geht um Fragen der Sicherheit, um Klagen und Bussen, die Uefa, usw. usf.

Greenpeace Schweiz hat sich damit eindrücklich zurückgemeldet. Seit Bundesrat und Parlament im Frühsommer 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen hatten, war es auffällig ruhig geworden um die Umweltorganisation. Ihr Ur-Thema konnte sie nicht mehr weiter beackern. Im harten Geschäft um Spendengelder kann es problematisch werden, wenn man in Vergessenheit gerät. Sprecher Yves Zenger relativiert in einem Interview, dass solche Aktionen für das Image nicht nur förderlich seien.

Die Logik der Medien macht es Organisationen wie Greenpeace heute einfacher, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Es zählen Tempo, Bilder und Videos. Das Rudelverhalten der Medien spielt mit hinein. Auf Facebook und Twitter begleitete Greenpeace die Aktion in Echtzeit. Die Reichweiten, die die NGO auf diesen Kanälen erreicht, sind nicht zu unterschätzen, wichtiger bleibt aber ihr Multiplikatoreneffekt.

Ein paar zentrale Fragen bleiben im Moment unbeantwortet:

– Wie konnten sich 17 Aktivisten in voller Kletterer-Montur und mit einem 28 Meter breiten Transparent Zugang zum Stadion verschaffen?- Hat der FCB bzw. die Stadionbetreiberin ein Sicherheitsproblem?
– Wissen die newsüberfluteten Leute überhaupt, worum es ging? (Krasser formuliert: Wollen sie es überhaupt wissen?)
– Bringt diese Aktion neue Mitglieder, mehr Spendengelder?
– Vermag sie den Druck auf Gazprom zu erhöhen?

Mark Balsiger

 

Ergänzend:

– Kommentar “OnlineReports” von Peter Knechtli:
Greenpeace-Demo: Zwei Welten, zwei Massstäbe (2. Oktober 2013)

– Der Kampagnenleiter von Greenpeace Schweiz, Christian Engeli,
im Gespräch – TeleBasel (30 Min.)


Fotos: adi / Greenpeace-Twitter-Account

 

Das Duell erstickte im Korsett

merkel_steinbrueck_tvduell_580_stern_de_2808_TV-Duell_1260-(3)Allein das Wort weckte Erwartungen: Duell. Man denkt dabei unweigerlich an einen Widerstreit der besten Argumente, Leidenschaft, Emotionen und rhetorische Glanzlichter, wie sie deutsche Spitzenpolitikerinnen und -politiker zünden können. All das wurde gestern Abend im einzigen TV-Duell zwischen Angela Merkel (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) nicht gegeben. Ich erkenne drei Gründe.

Das liegt, erstens, an den Primärakteuren: Bundeskanzlerin Merkel hat einen sicheren Vorsprung auf ihren Herausforderer, im Gegensatz zu ihm geniesst sie im Volk grosses Vertrauen. Sie schaffte es meisterhaft, das Tempo der Debatte zu drosseln, sie redete viel und sagte wenig – sie merkelte. Steinbrück war zwar sympathischer als gewohnt, hatte aber kein Momentum, das er für die Schlussphase des Wahlkampfs so dringend bräuchte. Immer mal wieder verhedderte er sich in technokratisch-aufgeblähten Sätzen, die das Publikum ratlos zurückliessen.

Das liegt, zweitens, am strengen Regelwerk, das seit der ersten TV-Debatte im Jahr 2002 (zwischen Schröder und Stoiber) von wenigen Nuancen abgesehen immer noch gilt. So wurde die Redezeit beider Kandidierenden in Minuten und Sekunden gestoppt, die Fragen waren vorsichtig formuliert und weitgehend absehbar, eine Dramaturgie liess sich nicht erkennen. Stattdessen plätscherten die 90 Minuten matt und langweilig dahin. Sie wirken länger als jedes durchschnittliche Fussballspiel und ich musste mich zwingen, am Ball zu bleiben.

Das liegt, drittens, an den Moderatorinnen und Moderatoren. Zweifellos haben die vier Fernsehanstalten ARD, ZDF, RTL und Pro7 keinen Aufwand gescheut, um gemeinsam ein Drehbuch für dieses Format zu schreiben. Weil in der Live-Sendung aber vier Medienschaffende Fragen stellten, blieben das Nachhaken und Spontanität aus. Stattdessen gab es immer wieder kurze Pausen, die Moderierenden mussten sich abgleichen, echte Dynamik wollte nicht aufkommen. Dass einzig Stefan Raab, seit 20 Jahren im Genre der Schenkelklopfer tätig, Zug in die Debatte brachte, ist für den politischen Journalismus Deutschlands bedenklich.

Fazit: Der Erkenntnisgewinn tendiert gegen Null, diese Form der “Debatte” ist tot, das TV-Duell erstickte im Korsett. Mit nur einem Moderator, der die Zügel straff in der Hand hält und das Tempo diktiert – wieso nicht mit einem Block Fragen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden dürfen? -, hätte man Merkel und Steinbrück aus der Reserve geholt. Stefan Niggemeier macht in seinem Blog einen noch radikaleren Vorschlag: eine Streitgespräch ohne Moderator. Interessant, aber in der politisch austarierten deutschen TV-Welt undenkbar.

Mark Balsiger

 

Fotomontage Angela Merkel und Peer Steinbrück: stern.de

Sieger im Twitter-Gewitter vom Gurten

Unter den grossen Musik-Festivals hat sich der Gurten in den letzten drei Jahren zu einer Social-Media-Hochburg entwickelt. Rund um die Jubiläumsauflage vom letzten Wochenende wurden mehrere tausend Tweets abgesetzt. Man darf also getrost von einem eigentlichen Twitter-Gewitter sprechen. Die statistischen Angaben liefert Topsy.

Wir schrieben hier vor Wochenfrist einen Wettbewerb aus. Gesucht wurde der originellste Tweet mit dem Hashtag #Gurten. Die Selektion unter den fast 2000 Tweets – siehe Tweet Archivist – war aufwändig. Die dreiköpfige Jury – Amina Chaudri, Konrad Weber und Mark Balsiger – erkor in einem dreistufigen Prozess die aus unserer Sicht beste Kurznachricht. Wie zahlreiche andere thematisiert sie das Problem, das die Diskussionen stärker prägte als die Bands: das System cashless, das am Donnerstag nicht funktionieren wollte.

Der Gewinn heisst: Stefan Eggli. Er erhält 250 Franken. Dieser Preis darf natürlich auch gespendet werden, it’s up to you, Stefan.

Der Sieger-Tweet:

 

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Platz 2 errang Christian (Kristján) Zellweger. Er machte am Sonntagabend auf dem traditionellen Weg vom Gurten hinab zur Talstation einen Schnappschuss:

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Auch Rang 3 jagte ein Foto ins Netz. Er geht an Bäckstage.ch. Dahinter stehen die Leute des gleichnamigen Online-Kulturmagazins. Auch sie griffen das Thema Geld auf:

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Wir dürfen davon ausgehen, dass nur ein kleiner Teil der #Gurten-Twitterer überhaupt von diesem Wettbewerb Kenntnis nahmen. Gut möglich, dass Sieger Stefan Eggli aus allen Wolken fällt. Umso besser. (bal.)

 

Wer schreibt den Blitz-Tweet vom Gurten?

gurten_tweet_coverbild_580_energy_ch_2cac1b646cTwitter nutzen, das heisst: teilen, recherchieren, faven, diskutieren, sich aufblasen, blödeln, über Orthografiefehler staunen, sich echauffieren, aber auch immer mal wieder schmunzeln. Innerhalb der stetig wachsenden Community gibt es Twitterer, die ein Flair für originelle Kurznachrichten entwickelt haben. Diese Tweets mag ich besonders.

Seit gestern ist das 30. Gurtenfestival im Gang, seit gestern rollen nicht nur die Bässe, sondern auch das Twitter-Gewitter vom Berner Hausberg herunter. Nicht pausenlos, aber stetig und immer mal wieder lustig, frech oder ironisch.

Die Redaktion des “Bund” unterhält eine Twitter-Wand, die “Berner Zeitung” füttert einen Liveticker mit Fotos, Bildern und Tweets. Die Festival-Organisatoren wiederum heuerten drei Twitter-Profis an, die schnell und informativ kommunizieren und zuweilen auch eine Lippe riskieren.

Wie schon in früheren Jahren lanciere ich einen Wettbewerb: Gesucht wird der originellste Tweet. Er darf eine Pointe liefern, die sich gewaschen hat. Er schlägt ein wie der Blitz. Es geht primär um den spielerischen Umgang mit der Sprache. Dem Gewinner oder der Gewinnerin winkt nebst Ruhm und Ehre ein Barpreis – forget about cashless! – in der Höhe von CHF 250.00. Damit wäre das nächste Gurtenfestival bereits finanziert.

Bedingungen für die Teilnahme:

Der Tweet

– wurde mit dem Hashtag #gurten ergänzt
– thematisiert direkt oder indirekt den Gurten
– ist Hochdeutsch oder Mundart abgefasst
– wurde/wird zwischen Donnerstag, 18. und Montag, 22. Juli 2013 publiziert

Es ist keine Voraussetzung, am Gurtenfestival selber präsent zu sein. Texten kann man auch auf dem Balkon…

Die Jury (Amina Chaudri, Konrad Weber und ich) wird sich nächste Woche über die zahllosen #Gurten-Tweets beugen und den originellsten evaluieren. (Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, die NSA liest mit.)

Zur Inspiration ein paar Tweets der letzten 24 Stunden:

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Wir sind gespannt auf Ihre/eure Tweets. Auf dass die Pointen nur so aufblitzen! Oder heisst es doch donnern?

Mark Balsiger
Mein Twitter-Konto

Foto Gurtenfestival: energy.ch

Über die latenten Spannungen zwischen Medienschaffenden und Kommunikatoren

Medienschaffende und Berufskommunikatoren sind sich ähnlicher als sie selber glauben: Viele sind eitel und empfindlich, viele glauben an die eigene Wichtigkeit, viele stossen auch unter Ihresgleichen kräftig Testosteron aus. Medien und Kommunikationsabteilungen grosser Unternehmungen sind mächtig, sie führen ihre eigenen Agenden und wollen diese auch durchsetzen. Kein Wunder, dass beide Berufsgattungen immer mal wieder aneinander geraten. In den allermeisten Fällen merkt die Öffentlichkeit davon nichts. Dieser Tage wurde ein Fall von Beeinflussung publik, der in beiden Branchen intensiv diskutiert wird.

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Lange hat die Post auf diese Veränderung hingearbeitet: Sie ist nicht mehr eine öffentliche Anstalt, sondern eine Aktiengesellschaft. Und sie hat die Bankbewilligung erhalten. Dass sie diesen grossen Schritt mit einer Medienkonferenz bekanntgibt, liegt auf der Hand. Das Interesse der Medien war entsprechend gross. Im Nachgang stellte sich heraus, dass die Post-Kommunikatoren offenbar mit den Wirtschaftsredaktionen von “Blick” und “Tages-Anzeiger”/”Bund” ausgehandelt hatten, dass diese Titel ein Exklusiv-Interview mit Verwaltungsratspräsident Peter Hasler kriegen.

Ein Redaktor der “Berner Zeitung” wollte auch ein Interview mit Hasler, konnte sich dieses direkt mit ihm sichern, wurde aber am Abend bei der Autorisierung von den Post-Kommunikatoren zusammengestaucht. Michael Hug, Chefredaktor der “Berner Zeitung”, platzte der Kragen. Im Branchenportal “Persönlich” schildert er den Verlauf dieses Falles aus seiner Sicht. Hochinteresant sind auch einzelne Kommentare, die Hugs Text auslösten.

“Persönlich”-Redaktorin Edith Hollenstein griff das Thema auf. Unter anderem befragte sie Mark Balsiger, einen der Betreiber des Wahlkampfblogs. Dieses Interview dürfen wir hier mit dem Einverständnis der Autorin wiedergeben:

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Herr Balsiger, warum denken Sie, war das Echo auf Michael Hugs Text so enorm?

Mark Balsiger: Für Medienschaffende gelten Pflichten und Rechte, für PR-Leute Kodizes, also professionelle Standards. Leider hat es auf beiden Seiten schwarze Schafe, ihr Wirken vergiftet das Klima. Der tiefgreifende Umbruch in der Medienbranche hat die Journalisten verunsichert, in der Branche herrscht Zynismus, zugleich sind die Kommunikationsabteilungen in den letzten 15 Jahren stark gewachsen, Medienschaffende fühlen sich bedrängt und sind schlecht bezahlt. Da staute sich Frust auf. Die Äusserungen von Michael Hug wirkten wie ein Ventil. Das war reinigend – für den Moment.

Wer die Kommentare auf blog.persoenlich.com liest, muss den Eindruck gewinnen, die Post-Unternehmenskommunikation habe einen krassen Fehler gemacht. Was sagen Sie zum Vorgehen der Post?

Die Umwandlung der Post in eine Aktiengesellschaft und die Bankbewilligung waren bereits “big news”. Die Post-Kommunikatoren wollten offensichtlich den absehbaren Output noch optimieren. Zusätzlich Exklusiv-Interviews mit zwei Zeitungen zu vereinbaren, ist unsensibel. Gerade für einen halbstaatlichen Betrieb gilt die Gleichbehandlung aller Medien. Die telefonische Intervention beim Chefredaktor finde ich echt problematisch. Verwaltungsratspräsident Hasler stand der BZ Rede und Antwort, hernach das Interview drastisch kürzen zu wollen, ist stillos. Wenn ein Protagonist sich nicht an das Drehbuch hält, können die Medienschaffenden nicht dafür verantwortlich gemacht werden.

Michael Hug wirft der Post vor, im Vorfeld mit “Tagi/Bund” sowie dem “Blick” grössere Interviews vereinbart zu haben und anschliessend zu stur an dieser Abmachung festgehalten zu haben. Welche Rolle spielen die Interessen der “Berner Zeitung”?

Sie benennen die andere Seite dieses Falles, die Michael Hug natürlich ausgelassen hat. Es kommt vor, dass grosse Redaktionen aktiv auf solche Deals hinarbeiten. Gerade Lichtgestalten wie Peter Hasler, Peter Spuhler oder Franz Steinegger hat man gerne im Blatt. Gerne übergross. Nehmen wir an, die “Berner Zeitung” hätte ein Exklusiv-Interview mit Post-Chef Hasler angestrebt und erhalten, wäre Herr Hug überglücklich in seinen Weinkeller hinabgestiegen.

SDA-Chef Bernard Maissen beklagt ebenfalls, dass sich die Post in kommentierende Texte einmischt. Inwiefern sehen Sie es als begründet, dass PR-Stellen bei SDA-Texten Korrekturwünsche anbringen?

Auch der sda unterlaufen Fehler, es ist ungut, dass sie keine Konkurrenz mehr hat. Wenn Fakten und Zahlen nicht stimmen, sollte sie offen sein für Korrekturen. Dass hingegen Externe aus anderen Gründen die Meldungen feinschleifen wollen, liegt nicht drin. Punkt.

Wie erleben Sie selber die Relevanz der Sonntagszeitungen?

Ich erkläre es andersrum: Die Sonntagspresse ist sehr empfänglich für das sogenannte Anfüttern. Sie macht aktiv mit, es wird gedealt wie mit Kokain. Bei Lichte betrachtet sind allerdings viele Storys dünn, die meisten Primeure drittklassig. Damit habe ich die Frage der Relevanz auch beantwortet, oder?

Warum genau müssen die Verwaltungsratspräsidenten, CEO oder Spitzen-Politiker so stark vom direkten Kontakt mit Journalisten abgeschottet werden?

Die Personalisierung führte dazu, dass das Spitzenpersonal für jeden Hafenkäse hinstehen und Auskunft geben sollte. Gute Kommunikatoren wirken als Vermittler und Seismografen, sie wissen, wann ein Chef auf die Kommandobrücke muss. Eben auch bei Hagel und Sturm. Gegenüber den Medien müssen Kommunikatoren plausibel erklären können, weshalb ein Chef einmal nicht zur Verfügung steht.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Journalisten?

In den meisten Fällen ist der Umgang mit Medienschaffenden unproblematisch. Voraussetzung: Man trifft klare Abmachungen, ist transparent, fair und sehr agil. Das hohe Tempo ist für alle Beteiligten eine Herausforderung.

Der Kostendruck ist demnach stark spürbar.

Ja. Medienmanager sind beinharte Zahlenmenschen, die sich nicht für gut recherchierte Geschichten interessieren. Margen von 15 bis 20 Prozent sind ihr Ziel. Deshalb werden kostengünstige Kindersoldaten angestellt. An Medienkonferenzen, Generalversammlungen und Pseudo-Anlässen fabrizieren sie dann diese unsäglichen News-Ticker. Das hat wenig mit Journalismus zu tun, sondern dient nur einem banalen Ziel: “Wir sind vor Ort präsent und berichten in Echtzeit”. Sie stellen Produkte ins Netz. Die Stilblüten und Orthografiefehler sind gratis.

Ist es überhaupt noch eine Herausforderung PR-Profi zu sein, wenn die andere Seite teilweise sehr wenig entgegenzubringen hat?

Am liebsten arbeite ich mit erfahrenen Journalisten zusammen, die ein Thema offen und unvoreingenommen angehen. Ihnen macht man kein X für ein U vor, und das ist gut so. Bei den anderen, die wenig oder keine Dossierkenntnisse haben, ist es herausfordernd, sie in kurzer Zeit zu informieren.