Überflieger werden vom Himmel geholt
Publiziert am 01. Mai 2014Sandro Brotz, 44, ist der Mann mit den harten Fragen. Seit mehr als 20 Jahren wirkt er im Boulevardjournalismus. Mit hartnäckigen Recherchen und knalligen Storys, die zuweilen überdrehten, machte er sich einen Namen. Wo andere resignierten, grub er weiter in die Tiefe und liess sich dabei nicht ins Bockshorn jagen. Genauso unerschrocken können wir ihn Mittwoch für Mittwoch als Moderator des Politmagazins „Rundschau“ beobachten. Stets ist er gut vorbereitet, seine Fragen haben einen roten Faden, und er hört genau zu, während seine Gäste antworten. Das erlaubt es ihm, nachzuhaken und Schwachstellen zu thematisieren. Brotz will sein Vis-à-vis aus der Reserve locken, er liebt Emotionen und den Schlagabtausch.
Für Schweizer Verhältnisse ist sein Interviewstil direkt und provozierend. Vielen Zuschauerinnen und Zuschauer geht das zu weit, das Aushängeschild der „Rundschau“ polarisiert. Das zeigte sich exemplarisch nach dem Interview mit Ueli Maurer von Mitte April. Vor laufender Kamera tickte der Verteidigungsminister aus, nannte das Schweizer Fernsehen „tendenziös“ und den Beitrag über den Gripen „journalistisch eine schwache Leistung“. Die Mixtur SVP-Maurer, Kampfjets und vermeintlich linkes Staatsfernsehen beherrschte sofort die Schlagzeilen. Anstelle eines Wettstreits der Argumente über die Gripen-Vorlage vom 18. Mai, setzte eine Mediendebatte ein. Wobei der Begriff „Debatte“ ziemlich nobel ist. Er kontrastiert mit dem, was effektiv zu lesen ist: Maurer kriegt sein Fett ab, Brotz wird diffamiert. Doch davon später.
Claude Longchamp, 57, ist der Mann mit dem Fiebermesser. In regelmässigen Abständen nimmt er die Temperatur der Nation. Sein Forschungsinstitut gfsbern liefert Momentaufnahmen, keine Prognosen – ein erheblicher Unterschied. Was Longchamp zum bekanntesten Politologen des Landes machte, sind seine TV-Auftritte an Abstimmungs- und Wahltagen. Seit dem 6. Dezember 1992, als das EWR-Nein die Schweiz in Agonie stürzte, erklärt er eloquent, temporeich und mit Schalk in den Augen, was Sache ist. Keine Frage: er geniesst diese Auftritte. Den Faden verliert er nie, seine Sätze sind wie gedrechselt, die Einschätzungen stringent, die Fliege sitzt perfekt. Was er bietet, ist bestes Infotainment.
Seit vielen Jahren ist Longchamp zudem mitverantwortlich für die Vox-Analysen. Sie liefern vertiefte Erkenntnisse, wie Herr und Frau Schweizer abgestimmt haben. So brachte die Studie über die Masseneinwanderungsinitiative zutage, dass nur 17 Prozent der unter 29-Jährigen teilgenommen hatten. Dieser Befund schlug medial ein wie eine Bombe, Longchamp wusste, weshalb. Tage später meldeten Politologen aus Genf und Zürich ihre Zweifel an. Dieser Wert sei „wohl zu tief“, schrieben sie, die Zahlen widerlegen können sie allerdings nicht. Seither entlädt sich ein heftiger Gewitterregen über Longchamp, während die Vox-Mitautoren von den drei Universitäten sich unter ihren Pulten in Deckung gebracht haben. Schnell wird klar: Hier geht es nicht nur um Demoskopie, mit der die Politikwissenschaft seit jeher Mühe bekundet, es geht um Deutungsmacht, verletzte Eitelkeiten und Abrechnungen. Die Feinde, die sich Longchamp in vielen Jahren erarbeitete, arbeiten sich jetzt an ihm ab. Endlich hat man die Gelegenheit, den eitlen Maestro, den einzelne Kritiker als „cholerisch“ oder „Diva“ etikettieren, zu deckeln. Die Journalisten, denen der Mann mit der Fliege schon mal auf den Schlips gestanden ist, freuts. Sie machen auf hau den Longchamp.
Es gibt Parallelen zwischen beiden Fällen: Longchamp und Brotz befassen sich seit Jahrzehnten leidenschaftlich mit Politik, beiden stehen im Schaufenster der Nation, beide sind bekannter als viele Spitzensportler, Nationalräte oder Wirtschaftsführer. Sie sind Reizfiguren und ragen markant über das helvetische Mittelmass hinaus. Das weckt Missgunst und Neid. Man spekuliert darauf, die Überflieger vom Himmel zu holen.
Longchamp und Brotz werden in Leserbriefspalten, Internetforen und Social-Media-Kanälen geprügelt. Ich ackerte mich zwei Stunden lang durch diese Kommentare und empfehle Ihnen, nicht dasselbe zu tun. Der Befund ist nämlich erschreckend: Roh und dumpf wird ausgeteilt, verurteilt und ausgegrenzt. Doch das ist nur der sichtbare Teil einer solchen Hetze. Aus beruflicher Erfahrung – meine Firma wird regelmässig in Krisensituationen beigezogen – weiss ich, dass der unsichtbare Teil noch weit grösser und verletzender sein kann. Ich spreche von E-Mails, Briefen und SMS, die den Protagonisten geschickt werden. Manchmal zu Hunderten. In diesen Verlautbarungen entlädt sich blanker Hass.
Chaoten hinterlassen auf ihren Saubannerzügen zu den Fussballstadien eine Spur der Verwüstung, Online-Hooligans machen Andersdenkende fertig. Die vielgelobte Dialogkultur im Netz scheint vor die Hunde zu gehen. Eine Studie in Deutschland zeigt auf: 2011 musste jeder siebte Leserkommentar gelöscht werden, inzwischen ist es bereits jeder fünfte. Sind wir besser – anständiger! – als die Deutschen? Mich übermannen Zweifel.
Mark Balsiger
Dieser Text ist diese Woche in einer kürzeren Version in der “Handelszeitung” erschienen.
Fotos:
– Sandro Brotz: srf.ch
– Claude Longchamp: blick.ch