Von kleinen Geistesblitzen, Schlachtrufen und bravem Wortgeklingel im Wahlmaterial

GAST-BEITRAG von Daniel Goldstein *

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Wahlkampf ists, die Fetzen fliegen. Das könnte man meinen, aber in den offiziellen Flugblättern, welche die Parteien dem Wahlmaterial beilegen durften, sind die Fetzen rar: Da zeigen sich fast alle Formationen von der manierlichen Seite, und von den grösseren tun es ausnahmslos alle – auch diejenige, die sonst für rauere Sitten bekannt ist. Den Plakatmann fürs Grobe hat jedenfalls die Berner SVP für ihre amtlich beigelegten vier Seiten A 4 nicht beigezogen. Sie gibt sich dort so wortkarg, dass unter der Sprachlupe rein gar nichts auffällt.

Wer Kämpferisches sucht, muss den Blick schon auf die Ränder des politischen Spektrums richten, trifft dort aber auf ein wohlbekanntes Feindbild. Links aussen ist die Europäische Union «imperialistisch» (PdA), rechts drüben ein «antidemokratisches Bürger-Bevormundungs-Projekt» (SD). Links wird der eigene Staat ebenfalls zum Buhmann, so als «Schnüffelstaat» mit «Sozialbürokratie» bei den Grün-Alternativen.

Kuscheln und schleppen

Etwas mildere Schimpfworte ringen sich auch einzelne Traditionsparteien ab: Die CVP prangert, eher am alten als am neuen Testament orientiert, die «Kuscheljustiz» an. Die Akademikerpartei par excellence, die FDP, zieht gegen die «Verakademisierung von Berufen wie der Pflege» ins Feld; ihre Jungspunde wollen zudem «Jazzmusiker und Kindergärtnerinnen» den akademischen Klauen entreissen, und sie haben «reaktionäre Kräfte» aufgespürt: die Befürworter der Buchpreisbindung. Immerhin gibts auch von einem kleinen freisinnigen Geistesblitz zu berichten: «Schlepper und schleppender Vollzug» plagen demnach die Asylpolitik. Die Alternative Linke glänzt mit acht Gründen, sie «NICHT» zu wählen. Und die Piratenpartei ist, zumal in der Schweiz, mit ihrem Schlachtruf kaum zu überbieten: «Wir wollen Meer» (und nicht etwa bloss freie Sicht darauf).

Breit gestreut sind Allerweltswörter wie «konstruktiv», «nachhaltig» oder «zukunftsorientiert»; Letzteres zusammen mit «visionär» wiederholt bei den Jusos. Bei der Mutterpartei brilliert eine Kandidatin mit höherer Mathematik: Hätte sie einen Wunsch frei, würde sie gleich sieben Sachen hineinpacken. Den «allerweltlichsten» Satz bringt die EDU zustande: «Wir wollen in den gesamten familienpolitischen Themen auf nationaler Ebene wegweisend und fördernd sein.»

Was ungesagt bleibt

Besondere Pflege, auch sprachlicher Art, lassen Ständeratskandidaten dem eigenen Kanton angedeihen, wie es sich für sie gehört. Jener der FDP will Bern als «schlagkräftige Hauptstadtregion auftreten» lassen; wem die Schläge gelten sollen, lässt er offen. Und sein Rivale von der BDP meint, der Kanton brauche «mehr denn je eine starke Vertretung auf Bundesebene», und lässt uns rätseln, warum das früher weniger nötig gewesen sein soll. Der knappe Platz sorgt aber dafür, dass insgesamt wenig Wortgeklingel untergekommen ist, und den meisten Flugblättern ist anzumerken, dass grosse Sorgfalt gewaltet hat. Wer die ganz grosse Fehlerlupe hervornimmt, wird aber zumindest bei den Listen 5, 6, 7, 11, 13, 16, 17 und 21 ein bisschen fündig.

Mehr Platz für Dubioses auch sprachlicher Art bieten natürlich die ausserhalb des amtlichen Couverts gestreuten Flugblätter – für jene, die es sich leisten können. Da staunt man etwa, dass ein Parlamentarier seine Arbeit nicht nur weiterführen will, sondern (jetzt?) auch «zielgerichtet» und «aktiv», und dass er sogar «Projekte plant», in denen er dann, so nehmen wir an, Tätigkeiten plant. Über die scheint ein Bild mehr zu sagen als die berühmten Tausend Worte: «Rudolf Joder Agrarfreihandel» ist darauf zu lesen, obwohl der Kandidat laut Begleittext dagegen ist. Seine SVP, aufs Aufdecken von «Geheimplänen» spezialisiert, scheint da selber einen zu hegen.

* Daniel Goldstein war viele Jahre lang Redaktor bei der Berner Traditionszeitung „Der Bund“ und ist auch bekannt für seinen eleganten Umgang mit der Sprache. Er arbeitet inzwischen als Schreibcoach und ist unter sprachlust.ch zu finden. Seit Frühjahr 2011 ergänzt Goldstein das Netzwerk von Border Crossing AG, die wiederum dem Betreiber des wahlkampfblogs gehört. Dieser Text erschien am letzten Freitag im “Bund”.

Frauen-Kandidaturen sind erfolgreicher

GAST-BEITRAG von Samuel Kullmann*

Im Herbst 2011 finden die eidgenössischen Wahlen statt, tausende von Kandidierenden werden sich um die Gunst des Wahlvolks bemühen. Trotz individuellen Budgets, die teilweise 100’000 Franken übersteigen, ist ein Erfolg noch lange nicht garantiert. Will heissen: Mit Geld lässt sich kein Sitz kaufen. Doch welche Faktoren können zum Wahlerfolg führen?

In meiner Bachelorarbeit habe ich 9 verschiedene Faktoren untersucht. Welchen Einfluss hatten sie auf den durchschnittlichen Stimmenanteil eines Kandidaten? Als Forschungsobjekt wählte ich die Parlamentswahlen im Kanton Bern, die im Frühjahr 2010 stattfanden.

Zunächst die 9 Faktoren, die ich untersuchte:

– Stärke der Liste bzw. der Partei
– Bisherigen-Status
– Vorkumulierung
– Listenplatz
– gleichzeitige Regierungsratskandidatur
– Geschlecht
– Alter
– Smartvote
– Facebook

Mittels einer sogenannten multivariaten Regressionsanalyse wurden die Daten aller 1938 Personen, die für den Berner Grossrat kandidierten, statistisch ausgewertet. Die positiven Effekte der ersten drei Faktoren liegen auf der Hand und konnten entsprechend klar nachgewiesen werden: Je stärker die Liste eines Kandidierenden abschneidet, desto mehr individuelle Stimmen machen die Personen auf dieser Liste.

Auch der Bisherigen-Status bringt offensichtlich grosse Vorteile: Bisherige machten im Schnitt 2153 Stimmen mehr als ihre Konkurrenten. In den allermeisten Fällen reichte dieser Stimmenvorsprung um neuantretende Kandidierende (weit) hinter sich zu lassen. Nur sieben Mal gelang es einem Neuen, den Bisherigen zu überholen. Wer vorkumuliert auf einer Liste aufgeführt wurde, erzielte durchschnittlich 804 Stimmen mehr.

Der Effekt des Listenplatzes ist in der politikwissenschaftlichen Literatur immer wieder kontrovers diskutiert worden. Allerdings dürfte er nicht die grosse Bedeutung haben, die man ihm in vielen Wahlkreisen zumisst. So verloren in meiner Analyse Kandidierende mit jedem schlechteren Listenplatz als dem ersten im Durchschnitt 10 Stimmen.

Eine gleichzeitige Regierungsratskandidatur brachte hingegen gleich 694 mehr Stimmen, allerdings muss dieses Ergebnis wegen der kleinen Fallzahl (n=7) vorsichtig interpretiert werden.

Die grosse Überraschung liegt hingegen beim Einfluss des Geschlechts. Unter Kontrolle aller anderen Variablen erzielten Kandidatinnen durchschnittlich 77 Stimmen mehr als ihre männlichen Herausforderer. Dieses Ergebnis mag angesichts des tiefen Frauenanteils von 26 Prozent paradox erscheinen. Allerdings besagt es lediglich, dass Frauen bei dieser Wahl nicht direkt diskriminiert wurden, und Gründe für die Untervertretung der Frauen woanders gesucht werden müssten. Ein Grund ist die geringe Anzahl Kandidatinnen, wie die folgende Abbildung zeigt:

Beim Alter konnte ein quadratischer Effekt festgestellt werden. Jüngere und ältere Kandidierende erzielen deutlich weniger Stimmen als Kandidierende im mittleren Alter. Vor allem ab dem Rentneralter nimmt die Stimmenzahl rapide ab. Besonders 18- bis 30-Jährige haben es schwer, ein Mandat zu erreichen. Einerseits sind junge Listen praktisch überall und immer chancenlos, zudem machen jüngere Kandidierende auf Stammlisten normalerweise deutlich weniger Stimmen als andere.


Besonders gespannt war ich auf die Effekte der neuen Medien Smartvote (Nutzung durch Kandidierende: 77 Prozent) und Facebook (Nutzung: 11 Prozent). Wer auf Smartvote ein Profil erstellt hatte, konnte im Schnitt 86 Stimmen mehr aufweisen. Dieser Effekt ist zwar noch lange nicht matchentscheidend, jedoch dürfte die Bedeutung von Wahlhilfen wie Smartvote immer mehr zunehmen.

Auch die 204 Facebook-User dürfen annehmen, dass sich ihr Online-Wahlkampf vermutlich gelohnt hat. Wessen Facebook-Unterstützungsgruppe z.B. 200 Personen aufwies, kam im Durchschnitt mit einem Plus von 160 Stimmen.

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse muss beachtet werden, dass alle Werte den Durchschnitt über alle Parteien und Listen hinweg angeben. Selbstverständlich sind allfällige Effekte bei grösseren Parteien ausgeprägter. So würde eine SVP-Kandidatin auch mehr von einer Smartvote-Teilnahme profitieren als ein Kandidat der Piratenpartei.

Im Rahmen dieser Bachelorarbeit konnte ich weitere Interessante Faktoren, wie Wahlkampfbudget, Motivation, Attraktivität und bisherige politische Erfahrung nicht untersuchen, da die Erhebung dieser Daten für 1938 Kandidierende schlicht und einfach zu viel Aufwand bedeutet hätte. Ich hoffe jedoch, mit dieser Arbeit den Einfluss einiger wichtiger Faktoren beleuchtet zu haben. Vielleicht kann diese Arbeit auch zu weiteren und umfassenderen Forschungen anregen.

* Samuel Kullmann studierte an der Universität Bern Politikwissenschaften und Anglistik. Im Frühjahr 2010 war er zudem Grossratskandidat für die EDU im Wahlkreis Thun.

– Foto Samuel Kullmann: zvg
– Grafiken: Samuel Kullmann

Die Emanzipation des Bundesrats

GAST-BEITRAG von Patrik Müller *

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«WER REGIERT DIE SCHWEIZ?» So lautet der Titel des viel beachteten Buches, das der Publizist Hans Tschäni im Jahr 1983 schrieb.
Er kam, vereinfacht gesagt, zum Schluss: Es sind die Lobbyisten aus Banken, Industrie und Landwirtschaft, die in Bern das Sagen haben. Die Politiker sind bloss ihre Marionetten.

JA, DIE WIRTSCHAFT zeigte in der Schweiz, dem bürgerlichsten Land Europas, jahrzehntelang, wos langgeht. Wenn Economiesuisse, der Dachverband der Unternehmen (der früher Vorort hiess), mal entschieden hatte, dann spurten Bundesrat und Parlament. Und am Schluss – nicht immer, aber meistens – auch das Volk, dank der millionenschweren Abstimmungs-Kampagnen, für welche die Unternehmen ihre Schatullen öffneten.

SO FUNKTIONIERTE DIE SCHWEIZ bis vor kurzem, und diese «Filzokratie» (Tschäni) wurde zum Erfolgsmodell. Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für das Land. Die Linken konnten diese Gleichung noch so lange verteufeln, sie drangen beim Volk damit nicht durch. Denn die Bürger merkten, dass es ihnen tatsächlich immer besser ging.

BEISPIELE DAFÜR, wie die Wirtschaft die Politik bestimmte, gibt es zuhauf. In den 70er-Jahren, als der Bundesrat wegen der Ölkrise ein neues Energiekonzept ausarbeitete, berief er Michael Kohn zum Präsidenten der Expertenkommission. Kohn, der seither «Energiepapst» genannt wird, war für die atomnahen Unternehmen Motor-Columbus und Atel tätig. Initiativen für einen besseren Mieterschutz wurden abgelehnt, Vorstösse für tiefere Unternehmenssteuern angenommen. Die Mutterschafts-versicherung hatte so lange keine Chance, bis die Wirtschaftsverbände kehrten und 2004 ein Ja empfahlen. Erst dann kam sie in der Schweiz durch, als letztem Land in Europa.

DIE GLOBALISIERUNG verstärkte die Dominanz der Wirtschaft zusätzlich. Die Unternehmen begannen ab den 90er-Jahren, Standorte und damit Staaten gegeneinander auszuspielen. Dadurch verlor die nationale Politik ihre Gestaltungskraft. Die CEOs sagten cool: Wenn ihr dieses Gesetz verschärft, dann verlagern wir anderswo hin. Diese Dominanz mündete in Arroganz: «Was die Politik von der Wirtschaft lernen muss», lautete der imperative Titel eines Essays, das im Jahr 2000 der damalige CS-Chef Lukas Mühlemann im «Magazin» schrieb.

NUN ABER GESCHIEHT UNERHÖRTES: Der Bundesrat, zumindest seine Mehrheit, folgt der Befehlsausgabe der Wirtschaft nicht mehr. Und dies ausgerechnet in zwei zentralen Themen. Erst liess die Regierung die einflussreichen Grossbanken UBS und CS abblitzen. Vergeblich lobbyierten diese gegen strenge «Too big to fail»-Regeln. Nicht einmal die bewährte Drohung «sonst ziehen wir ins Ausland» wirkte diesmal. Und auch mit den Privatbanken legt sich der Bundesrat an, indem er Gelder arabischer Potentaten neuerdings sehr schnell sperrt, was Julius-Bär-Präsident Raymond Bär im «Sonntag»-Interview scharf kritisiert.

DANN KAM DER MITTWOCH, 25. Mai, der Tag, an dem der Bundesrat den Atomausstieg beschloss. Es ist eine Kehrtwende in der Energiepolitik um 180 Grad, die gegen den Willen von Economiesuisse und gegen den Willen der Stromkonzerne erfolgte. Auf einen Schlag war ein jahrzehntelanges, mit Dutzenden Millionen gespeistes Atomlobbying zunichte. Eine Sensation, die den Präsidenten von Economiesuisse, Gerold Bührer, fassungslos machte: «Oberflächlich, unseriös, übers Knie gebrochen» sei der Entscheid, schnaubte er. Der Chefredaktor der «Basler Zeitung» erklärte den Entscheid verzweifelt mit der «fast esoterischen Selbstsicherheit» der «vier Frauen im Bundesrat».

ES IST EIN NEUES GEFÜHL für Wirtschaftsvertreter, vom Bundesrat die kalte Schulter gezeigt zu bekommen. Und dann noch von vermeintlich Verbündeten! Dass die als «Atom-Doris» verschriene CVP-Ministerin Leuthard die Energiewende innerhalb von wenigen Monaten vollzog – was SP-Mann Moritz Leuenberger 15 Jahre lang nicht gelang –, versetzte die Stromwirtschaft in einen Schockzustand. Wer so etwas vor einem halben Jahr vorausgesagt hätte, wäre für verrückt erklärt worden.

DIE EMANZIPATION DES BUNDESRATS von der Wirtschaft ist historisch. Herbeigeführt wurde sie allerdings nicht aktiv, sondern als Reaktion auf zwei äussere Ereignisse: Die weltweite Finanzkrise mit dem Beinahe-Crash der UBS machte möglich, dass der Bundesrat sich von den Grossbanken lossagte. Und die Atomkatastrophe von Fukushima brachte die Bundesrätinnen Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf zum Umdenken, was dann mit der SP eine 4:3-Mehrheit für den Ausstieg ergab.

WER REGIERT DIE SCHWEIZ? Offenbar nicht mehr die Wirtschaft, sondern die Politik, lautet die neue, aber vorläufige Antwort. Ob die strengen Bankenregeln wirklich kommen, ob der Atomausstieg tatsächlich vollzogen wird: Das ist offen. Denn im Parlament ist der Einfluss von Bank- und Stromwirtschaft noch immer gewaltig. Die Bundesratsentscheide könnten im National- und vor allem im Ständerat noch umgestossen werden.

DASS DIES ABER UNWAHRSCHEINLICH ist, liegt an der Stimmung im Volk: Es hat sich schon früher als der Bundesrat von der Wirtschaft emanzipiert, wie vor gut einem Jahr das haushohe Abstimmungs-Nein zu Rentenkürzungen in der Pensionskasse zeigte. Und heute scheint eindeutig: Das Volk will scharfe Bankenregeln, und es will keine neuen AKW.

BLEIBT DIE FRAGE: Ist es nun eigentlich gut, dass die Wirtschaft der Politik nicht mehr sagen kann, wos langgeht? Als Demokrat muss man die Frage mit Ja beantworten. Gleichzeitig aber wissen wir: Dass unser Wohlstand so gross ist, dass unsere Arbeitslosenquote und unsere Steuern so tief sind, hängt eben auch damit zusammen, dass Wirtschaft und Politik miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Deshalb sollten sie nun gemeinsam die Chancen nutzen, die sich aus dem Atomausstieg ergeben.

ES IST GUT, wenn die «Filzokratie» verschwindet. Der Pragmatismus aber muss bleiben.

* Patrik Müller ist Chefredaktor der Zeitung „Sonntag“. Sein Leitartikel erschien in der Ausgabe vom 29. Mai 2011. Die Publikation im wahlkampfblog erfolgt nach Rücksprache mit dem Autor.

Foto Patrik Müller: radio 1.ch

Christophe Darbellay, der falsche Doppelgänger

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GAST-BEITRAG

Von Michael Hermann*

Der Wirbel, den Christophe Darbellay letzte Woche mit der Forderung nach einem Verbot von Separatfriedhöfen und den folgenden überschwänglichen Entschuldigungsgesten auslöste, zeigt idealtypisch, wie der CVP-Präsident seine politische Arbeit versteht: Hauptsache agieren, Hauptsache auffallen. In einer fehlgeleiteten Logik versteht er Politik als ein Spiel, das gewinnt, wer am meisten in den Medien erscheint und dort egal wie für Aufmerksamkeit sorgt.

Für Popstars und Ex-Missen mag dieses Rezept verfangen, für all jene, die nicht bloss sich selbst, sondern ein Produkt wie zum Beispiel eine Partei vermitteln müssen, zielt dieser Ansatz jedoch fatal daneben. Talentierte politische Kommunikatoren wie Barack Obama erkennt man daran, dass sie authentisch und glaubwürdig etwas verkörpern – im Fall von Obama ein wärmeres und offeneres Amerika – und mit eiserner Disziplin an der Entwicklung ihrer öffentlichen politischen Identität arbeiten.

Erst schiessen, dann überlegen

Einst wurde Darbellay zum Nachfolger von Doris Leuthard gewählt, weil man in ihm, dem jungen, attraktiven und mediengewandten Agronomen, den männlichen Doppelgänger der Erfolgspräsidentin vermutete. Doch während Leuthard als Parteipräsidentin es schaffte, die moderne Frau der gesellschaftlichen Mitte zu verkörpern, die bürgerliche Grundwerte mit sozialer und ökologischer Aufgeschlossenheit verbindet, verkörpert Darbellay vor allem eins, nämlich sich selber, den Husarenreiter, der in der Regel erst schiesst und dann überlegt, wohin er zielen will.

Für keine Schweizer Partei wäre eine identitätsstiftende Führungsfigur wichtiger als für die CVP, die aufgrund ihrer historisch bedingten Uneinheitlichkeit und ihrer Position in der Mitte des politischen Spektrums eh schon schwer zu fassen ist. Doch genau das schafft Darbellay mit all seinem Aktivismus nicht. Er wird zwar wahrgenommen. Weil man bei ihm zumindest gegen aussen keinen festen Wertekompass erkennen kann, stiftet er aber keine Identität. Statt wie einst Leuthard nach Mitte-rechts und zugleich nach Mitte-links als positive Identifikationsfigur wahrgenommen zu werden, schafft es Darbellay, dass ihn weder die eine noch die andere Seite als einen der Ihren sieht.

Zuversicht der CVP verflogen

Dass die grosse Zuversicht, die in der Partei unter Leuthards liberal-sozialem Aufbruch herrschte, verflogen ist, hat verschiedene Gründe. So tummeln sich in der Mitte mit den Grünliberalen und der BDP zwei neue Parteien, die im selben schmalen Teich nach Wählern fischen. Ebenso kann sich die CVP seit der Blocher-Abwahl nicht mehr so leicht als bürgerliche Alternative präsentieren. Doch ein wichtiger Anteil an der Krise geht direkt auf Darbellay zurück: Mit seinem selbstgefälligen Auftritt bei der Fernseh-Doku zur Blocher-Abwahl hat er seine Partei in den Stammlanden auf die Abschussliste gebracht, und mit seinem Vorpreschen nach dem Rücktritt von Couchepin trieb er sie bei der Bundesratswahl in die Falle. Dass der Walliser trotz seiner vergaloppierten Ausritte als Präsident noch immer fest im Sattel sitzt, macht klar, dass er mit seinem Verständnis von politischer Kommunikation in seiner Partei nicht alleine ist. Der Glaube ans Prinzip «Hauptsache wahrgenommen werden» ist dort weit verbreitet. Dass die Medien relativ glimpflich mit ihm umgehen, hat dagegen damit zu tun, dass er ein Garant für gute Stoffe ist.

Wie unheilvoll das Wertevakuum im Zentrum der christlichen Wertepartei ist, wird gerade im Nachgang zur Minarettabstimmung überdeutlich. Wie vom Blitz getroffen, kippten CVP-Exponenten nach allen Seiten um – zuallererst ihr Präsident. Sicher ist dabei nur eins, nämlich, dass so an der Basis sowohl jene, die gegen, als auch jene, die für die Initiative waren, vor den Kopf gestossen werden. Dabei wäre gerade jetzt, da sich das Land wieder einmal in zwei unversöhnliche Lager zu spalten droht, eine Stimme für all jene wichtig, die ein Unbehagen mit dem Islam haben, die das Ja aber genau als das und nicht als Aufruf zu einem Kreuzzug gegen die Religionsfreiheit verstanden haben wollen.


* Michael Hermann ist Sozialgeograf und Leiter der Forschungsstelle Sotomo an der Universität Zürich. Sein Text ist im “Tages-Anzeiger” und “Bund” von heute erschienen. Die Übernahme im Wahlkampfblog erfolgt nach Rücksprache mit dem Autor.

Zum Thema:

Christophe Darbellay: Auch seine Karriere ist auf Sand gebaut
(7. Juni 2008, wahlkampfblog)

Nachtrag vom 29. Januar 2010:

Jean-Martin Büttner befasst sich in “Bund” und “Tages-Anzeiger” auch mit Christophe Darbellay:

Wie ein Flipperkasten lässt er die Kugeln tanzen (29.01.2010; PDF)

Foto Michael Hermann: unipublic-uzh.ch

Gerechtigkeit vs. Gewaltmonopol?

Jürg Aschwanden

GAST-BEITRAG
von Jürg Aschwanden

 

Eine der tragenden Säulen jeder Demokratie ist das sogenannte Gewaltmonopol. Nur der Staat darf Übertretungen gemeinschaftlich festgelegter Normen feststellen und sanktionieren. Um vor Willkür zu schützen, stehen dem Angeklagten umfangreiche Rekursmöglichkeiten und -ebenen zur Verfügung.

Das Gewaltmonopol impliziert die Delegation des individuellen Rechtes “Schadenabwehr” an den Staat. Ich als Person delegiere meine Freiheit, Schaden von mir abzuwenden an den Staat, der durch Normierung festlegt, was Schaden bedeutet und wie dessen Eintritt sanktioniert wird.

Wird nun die Übertretung eines Gesetzes nicht sanktioniert, hat dies Konsequenzen. So zum Beispiel im Bereich der Kleinkriminalität, wo Strafverfahren oft eingestellt werden oder bei exzessiven Gewaltanwendungen, bei denen Täter oft und aus den unterschiedlichsten Gründen mit Milde rechnen können. Verbreitet führt dies zu Kopfschütteln und drückt Unmut aus.

Genauer geht es um ein Gefühl der Ungerechtigkeit, also eines emotionalen Zustandes, der bei der Urteilsfindung oder Verfahrenseinstellung – im Gegensatz zur Täterbeurteilung (Affekt) – keinen Platz hat. Nun trifft es zwar zu, dass Juristen bereits während ihrer akademischen Ausbildung lernen, dass Recht nichts mit Gerechtigkeit zu hat. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass die akademische juristische Diskussion gut daran täte, auch den Begriff der „Gerechtigkeit“ im Sinne eines übergeordneten Interesses im Auge zu behalten.

Wie erwähnt: Gerechtigkeit an sich ist kein juristischer, wohl aber ein philosophischer und im weitesten Sinne politischer Begriff. Er drückt ein Empfinden des „äquivalenter output für input“aus. Oder eben im Bereich des Strafrechts: angemessene Strafe für angemessene Übertretung gesellschaftlicher Normen.

Empfindet eine grosse Mehrheit über einen längeren Zeitraum Übertretungen von gesellschaftlichen Übereinkünften als angemessen sanktioniert, bleibt die individuelle Delegationsbereitschaft erhalten. Empfindet jedoch eine grössere Personengruppe über einen längeren Zeitraum hinweg die verhängte Sanktion als nicht genügend oder gar nicht vorhanden, so wird die erteilte Delegation widerrufen. Zunächst innerlich und damit mental, später auch faktisch.

Dies geschieht im einfacheren Falle an der Urne, im schwierigeren durch Selbstjustiz. Die Formen reichen dabei von verstärkten Sicherheitsdiensten bis hin zu Bürgerwehren.Um das Gewaltmonopol des Staates zu schützen, bedarf es nicht nur mehr Polizisten. Es bedarf vor allem der konsequenten Anwendung der durch Übereinkunft vorgesehenen Sanktionen.

Gerechtigkeit wird – und soll – auch in Zukunft keine juristische Dimension darstellen. Aber die Mehrheit in diesem Lande muss dauerhaft das Gefühl haben, dass die delegierte Freiheit durch den Staat und seine Organe angemessen wahrgenommen wird. Vielleicht verbessert sich damit auch wieder die kollektive Bereitschaft, rein normativen Übereinkünften ebenfalls wieder mehr Achtung zu verschaffen.

Foto Jürg Aschwanden: zvg

“Die SP hat zu lange die Augen vor diesem Problem verschlossen”

GAST-BEITRAG

Von Thomas Christen*

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thomas_christen1.jpgDie interne Mitgliederumfrage der SP nach der Wahlniederlage war deutlich: 70 Prozent der knapp 4000 Teilnehmenden forderten die Parteileitung auf, das Thema öffentliche Sicherheit stärker als bisher zu betonen. Bei keinem anderen Thema wurde so häufig ein Nachholbedarf identifiziert. Die Umfrage bestätigte damit, was in Zuschriften, Kommentaren, Leserbriefen immer wieder zum Ausdruck kommt. Die SP hat zu lange die Augen vor einem Problem verschlossen, das die Leute beschäftigt. Und die SP hat mit dem Hinweis auf Kriminalitätsstatistiken die Bedeutung des subjektiven Sicherheitsgefühls vieler negiert.

Man kann jetzt einwenden, dass Mitgliederumfragen und Sorgenbarometer für eine Partei nicht die alleinige Grundlage für die Ausrichtung ihrer Politik sein dürfen. Damit mag man recht haben. Aber auch die Frage nach den Gründen für das subjektive Gefühl der Unsicherheit muss die Linke dazu führen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Es braucht einen starken Staat

Globalisierung, Sparpolitik und neoliberaler Abbau haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich die Menschen nicht mehr sicher fühlen. Und darum braucht es einen starken Staat. In der Sozialpolitik, um den Menschen Perspektiven zu schaffen, sie zu befähigen, sich den sich ändernden Herausforderungen zu stellen. Und um die grossen Lebensrisiken wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit abzusichern. Es braucht aber auch einen starken Staat, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Denn gerade in diesem Bereich zeitigt eine weitere Schwächung des Staates verheerende Folgen.

Nicht nur bei der Privatisierung des Gesundheitsbereichs bietet der Blick nach Amerika negativen Anschauungsunterricht. Was bedeutet es für einen Staat, dass es in den USA schon heute dreimal mehr Angestellte privater Sicherheitsfirmen gibt als Polizisten? Wenn die Tendenz steigend ist – und das ist sie – wo erreicht ein Staat den Punkt, an dem Sicherheit vor Verbrechen zur Ware wird? Zu einer Ware, die sich, wie andere Waren auch, einige leisten können, viele aber nicht? Und was bedeutet es für einen Staat, wenn sich die privaten Sicherheitsfirmen vorab gestützt auf Lohndumping durchsetzen und so im Bereich der Sicherheit unqualifiziertes Personal zu Hungerlöhnen arbeitet? Wird mit dem (neoliberalen) Rütteln am Gewaltmonopol nicht am Fundament des Staates gerüttelt?

Polizei ist Teil des Service Public und damit ein SP-Anliegen

Die öffentliche Polizei muss – wie die Schule oder der öffentliche Verkehr – für die ganze Bevölkerung da sein. Eine hoch qualifizierte, vielfältig zusammengesetzte und ausreichend entlöhnte Polizei ist Teil des Service Public und damit ein sozialdemokratisches Anliegen. Öffentliche Sicherheit bedeutet neben den präventiven Massnahmen deshalb auch die Stärkung der einer demokratischen Kontrolle unterstellten öffentlichen Polizei – auf Kosten von mit Lohndumping am Markt auftretenden privaten Sicherheitsfirmen. Kurz: Polizisten, denen man vertrauen kann, weil sie vom Staat bezahlt werden und nicht von Privaten.

Selbstverständlich muss mit einer sozialdemokratischen Politik der öffentlichen Sicherheit auch die Forderung nach Wahrung der Freiheits- und Grundrechte einhergehen. Ein durch Naivität geprägtes blindes Vertrauen in den Staat wäre verheerend. Es braucht unabhängige politische Kontrolle, Ombudsstellen, gerichtliche Beschwerdemöglichkeiten und Transparenz. Forderungen, die gerade seit Bekanntwerden neuer Schnüffelskandale weiter an Aktualität gewonnen haben. Und Forderungen, für welche eine sich an Freiheit orientierende Sozialdemokratische Partei einstehen muss. Nur: Die öffentliche Sicherheit ist demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle unterworfen. Private Sicherheitsfirmen wie Broncos und Securitas kaum.

Die SP tut also gut daran, sich die Thematik der öffentlichen Sicherheit anzunehmen. Und die Diskussion über konkrete Massnahmen zu führen. Das Thema von der sozialdemokratischen Traktandenliste zu streichen, ist weder dienlich noch sinnvoll.

* Thomas Christen ist Generalsekretär der SP Schweiz. Der Haupt- und die Zwischentitel wurden von der Redaktion, also dem wahlkampflblog gesetzt.

Foto Thomas Christen: www.sp-ps.ch

Berner BDP: Mit voller Kraft voraus

GAST-BEITRAG

Von Dieter Widmer*

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dieter_widmer1.jpgZugegeben: Die Chancen der neuen Bürgerlich- Demokratischen Partei (BDP) kann man unterschiedlich beurteilen. Der «Bund» folgt in seinem Leitartikel letzten Samstag offensichtlich der Einschätzung der am meisten zitierten Politologen und rechnet der neuen Partei kaum Chancen ein, sich als ernst zu nehmende Bewegung zu etablieren. Etwas allerdings unterschätzen die Skeptiker im vorliegenden Fall durchs Band weg: die Meinung des Volkes.

«Endlich» – noch selten habe ich ein Wort derart häufig gehört und gelesen wie in den letzten drei Wochen. Endlich, so liessen uns Hunderte Personen wissen, hat jemand den Mut und bietet der destruktiven Verhöhnungspolitik der schweizerischen SVP die Stirn.

Die neue Bürgerlich-Demokratische Partei vereinigt jene politischen Zielsetzungen und Tugenden, um die sich die schweizerische SVP foutiert: fundierte und sachbe-zogene bürgerliche Politik, das heisst lösungs- und leistungsorientiert, gradlinig und tolerant, verantwortungsbewusst und volksverbunden und – eben – glaubwürdig. Und diese Glaubwürdigkeit liess sich für den gemässigten Teil der Berner SVP nicht mehr länger aufrechterhalten, seit die schweizerische Partei derart ungestüm und rücksichtslos politisiert und andere Meinungen nicht mehr duldet. Die Parteispaltung beging die schweizerische Parteileitung als erste, als sie in einer Strafaktion 3500 Bündner kurzerhand aus der Mitgliederkartei streichen liess.

Die neue Partei hat im Kanton Bern intakte Chancen. Die Profilierung wird ihr gelingen, weil sie ein solides Fundament hat:

– die hohe Mobilisierungskraft als Partei, die innert fünf Tagen ohne Infrastruktur und ohne Mitgliederkartei für eine Versammlung rund 350 Personen zusammenrufen kann,

– eine Parteileitung, die voll motiviert und relativ jung, aber mit dem politischen Geschäft vertraut ist und Frauen in führenden Positionen integriert hat,

– eine Grossratsfraktion, die 17 engagierte und sachkundige Mitglieder zählt, die schon bisher massgeblich im Parlament und in ihrer bisherigen Partei tätig sind,

– sieben Grossratsmitglieder, die zu den wesentlichen Stützen der ständigen Kommissionen des Parlaments gehören,

– ein neues Parteiprogramm, das jetzt entwickelt wird und eine pragmatische mittelständische bürgerliche Politik umreisst, die von Anstand und Respekt geprägt ist und sich von jeglicher oppositioneller Grundhaltung distanziert, dafür auch bisherige bürgerliche Tabuthemen wie die Umweltpolitik aufnimmt, und

– eine pragmatische Europapolitik, die den bilateralen Weg fortsetzt,

– Tatendrang und neuen Schwung, ohne den oftmals drückenden Ballast starrer Organisationsstrukturen, was unglaubliche Reserven freilegt und motivierend wirkt,

– Themen- und Personenangebote, die insbesondere auch für die 95%-Mehrheit der parteiungebundenen Personen attraktiv sind,

– hohe Glaubwürdigkeit und breite Anerkennung für den mutigen Schritt in eine politisch wieder legitimierte Umgebung, und schliesslich eine Bevölkerung, die der unversöhnlichen und hemdsärmeligen Politik überdrüssig geworden ist und auf diesen Moment lange gewartet hat.

Die SVP Kanton Bern steckt in einer ungemütlicheren Lage, als sie es wahrhaben will. Sie möchte sich weiterhin als Berner Volkspartei anbieten, steckt aber unter dem Dach einer polarisierenden schweizerischen Oppositionspartei, die ihren Kurs unbeugsam diktiert und durchsetzt. Nach dem Auszug massgeblicher Teile des gemässigten Berner Flügels wird sie sich auf kantonaler Ebene in den schweizerischen Auftritt integrieren. Der mit dem «dritten Weg» gestellte Anspruch, sich weiterhin für eine anständige Politik einzusetzen, dürfte ziemlich wirkungslos bleiben, weil ihm in der Praxis nicht nachgelebt werden wird. Schon die erste Interventionsmöglichkeit, die Verurteilung des Ausspruchs in der Bieler SVP: «Jetzt ist Krieg, jetzt schlachten wir ab», blieb ungenutzt. Und der Ablauf der Delegiertenversammlung am Montag in Belp hat eindrücklich gezeigt, wie die Berner SVP Schwierigkeiten und Andersdenkenden in Zukunft begegnen will: polternd, verletzend, mit nicht besonders faktentreuen Unterstellungen und einer Rauswurf-Mentalität. Wahrlich – die Reihen mit der schweizerischen Partei wurden rasch geschlossen, überraschend schnell geschlossen!

Wir werden in fünf Jahren eine Zwischenbilanz ziehen – und dabei feststellen, dass das Volk der Bürgerlich-Demokratischen Partei recht gegeben hat: Eine offene, verantwortungsbewusst agierende und bürgerlich ausgerichtete politische Kraft findet Resonanz, die nicht nur quälend überlebt, sondern im politischen Leben Berns einen beachtlichen Status erreicht.

* Dieter Widmer ist Grossrat und Fraktionschef der neuen Bürgerlich-Demokratischen Partei Kanton Bern. Zuvor war er Fraktionschef der SVP imGrossen Rat, demer seit 1994 angehört und den er 2002/03 präsidiert hat. Widmer ist Leiter Öffentlichkeitsarbeit BKW.

Dieser Beitrag ist zuerst in der Tageszeitung “Der Bund” vom 27. Juni 2008 erschienen. Ich habe ihn nach Rücksprache mit dem Autor auf diesem Weblog aufgeschaltet. Gast-Beiträge stehen übrigens grundsätzlich allen offen.

Foto Dieter Widmer: www.be.ch/gr

Eveline Widmer-Schlumpf: Gibt es einen Ausweg aus der Empörungsspirale?

GAST-BEITRAG von Silvano Moeckli*

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kantonsrat_document_3adca0d8-1511-43f1-b061-1a12725f0e4a.jpgDer Konflikt um Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf trägt die typischen Züge einer Eskalation. Ein aufwühlendes Ereignis führt zu einer empörten Reaktion auf der Gegenseite, die andere Seite reagiert wiederum mit Empörung, Ultimaten stossen auf noch energischeren Widerstand, Druck erzeugt Gegendruck usw. Kann man diese Spirale der Empörung durchbrechen? Ja, man kann, sofern der Wille dazu besteht und kreative Kompromisslösungen gefunden werden. In diesem Beitrag wird zunächst der Konflikt näher beleuchtet. Dann folgt ein konkreter Vorschlag, wie er gelöst werden könnte.

Die Akteurs- und Parteienebene

Bei politischen Konflikten stehen einander Einzelakteure und Lager gegenüber, bei personellen Konflikten im Zusammenhang mit Wahlen erst recht. In einer sozialen Organisation wie einer politischen Partei muss es heftige emotionale Reaktionen auslösen, wenn einem Mitglied vorgeworfen wird, gegen Regeln und Abmachungen der eigenen Organisation verstossen, mit dem politischen Gegner zusammengearbeitet, ja die eigene Organisation angelogen zu haben. Der Vorwurf, Eveline Widmer-Schlumpf habe persönliche Interessen über die Interessen der Partei(führung) gestellt, wiegt schwer. Bei Parteien und Parlamentariern, welche die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf unterstützt haben, stösst der rüde Stil, mit der die SVP mit einer gewählten Bundesrätin umgeht, auf heftige Ablehnung. Das Interesse dieser Akteure war weniger die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf, sondern vielmehr die Nichtwiederwahl von Christoph Blocher. Es brauchte, um Christoph Blocher aus dem Bundesrat zu entfernen, nicht nur eine Mehrheit gegen ihn, sondern auch eine Mehrheit für eine andere Person. Diese musste aber erst gefunden werden.

Die Systemebene

Wechseln wir jetzt die Perspektive und betrachten wir den Konflikt aus der Ebene des gesamten politischen Systems. Hier können wir zunächst feststellen, dass nach den Wahlen vom 21. Oktober 2007 sämtliche Bundesratsparteien an der proportionalen Konkordanz im Bundesrat festhalten wollten. Jene Parlamentarier, die Christoph Blocher nicht mehr gewählt haben, wollten mit der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf ausdrücklich die proportionale Konkordanz wahren. In der Tat funktioniert unser politisches System am besten, wenn die proportionale Konkordanz gegeben ist. Es ist verblüffend zu sehen, wie sich längerfristig in fast allen Gemeinden und Kantonen der Schweiz die parteipolitischen Kräfteverhältnisse in der Regierungszusammensetzung widerspiegeln. Die direkte Demokratie zwingt zur Einbindung der stärksten politischen Kräfte. Mit parteilosen Regierungsmitgliedern ist diese Einbindung nicht gewährleistet.

Bundesrätin ohne Fraktion und Partei – funktioniert das?

Wenn nun die SVP die Bündner Kantonalpartei ausschliesst und Eveline Widmer-Schlumpf dann nicht mehr Mitglied einer Landespartei wäre – funktioniert das? Rein formell sicher. Bundesräte sind auf vier Jahre fest gewählt, kein Staatsorgan und erst recht kein Parteiorgan kann sie aus dem Amt entfernen. Aber die wichtigere Frage ist: Welche Auswirkungen hätte dies auf die politischen Prozesse und die Politikergebnisse insgesamt? Und hier lautet die Antwort: Eher negative. Denn was ist der Sinn der Einbindung der stärksten politischen Kräfte in die Regierung? Es soll ein Transfer in zwei Richtungen stattfinden: Die gewählten Parteienvertreter sollen die Forderungen und Werthaltungen ihrer Lager in die Regierung einbringen. Insofern ist es durchaus erwünscht, dass die stärksten Persönlichkeiten in den Bundesrat gewählt werden. Auf der anderen Seite sollten Parteienvertreter, einmal gewählt, als Staatsmänner und –frauen agieren, tragfähige Lösungen suchen, zusammenführen und nicht spalten sowie für die erarbeiteten Kompromisse innerhalb der eigenen politischen Gruppierung um Unterstützung werben. Wer das nicht kann oder will, ist für eine Konkordanzregierung ungeeignet. Insofern war Christoph Blocher eine Fehlbesetzung.

Eveline Widmer-Schlumpf wird ohne Partei und Fraktion das Systemerfordernis des Transfers nach beiden Seiten nicht erfüllen können, weil eben die eine Seite fehlt. Und es wird ihr auch das politische Basislager fehlen, welches Bundesräten eine Grundunterstützung bietet. Insofern ist es für das Gesamtsystem und Politikergebnisse nicht positiv, wenn es „fraktionslose“ Bundesräte gibt. Darüber hinaus verpuffen viele politische Energien in der Pflege der persönlichen Konflikte, statt dass die Energien für die Lösung politischer Probleme verwendet werden. Nun kann man argumentieren, „parteilose“ Regierungsmitglieder gäbe es auch in Gemeinden und Kantonen. Dies ist richtig. Aber diese werden nicht vom Parlament, sondern direkt vom Elektorat gewählt und sind damit auch unabhängiger von den Parteien. Und je höher man bei den Staatsebenen kommt, desto schwieriger wird es, ohne „Basislager“ zu politisieren. Politik ist ein Mannschaftssport, keine Einzeldisziplin.

Risiken des Ausschlusses der Bündner SVP

Wenn die SVP die Bündner Kantonalpartei ausschliesst, ist das für sie nicht ohne Risiko. Die Empörungsspirale dreht sich dann weiter, und niemand ist mehr in der Lage, mögliche Prozesse der Umbildung in der Parteienlandschaft zu steuern. Es ist sehr wohl ein Szenario denkbar, wonach sich auch in anderen Kantonen Teile der SVP zur Mitte hin orientieren und abspalten. Das wäre dann eine Neuauflage der Bündner Demokraten, aber schweizweit. Man darf nicht vergessen, dass die SVP nicht nur dank Stimmen aus CVP und FDP so stark geworden ist, sondern auch dank des Aufsaugens der kleinen Rechtsparteien. 1991 hatten Freiheitspartei, Republikaner und Schweizer Demokraten zusammen einen Wähleranteil von 8,5 Prozent. Wenn sich die liberalen Teile von der SVP abspalten, könnte die Rumpf-SVP erst Recht die Rolle der ehemaligen Rechtsparteien übernehmen. Zu dieser Rolle gehört auch, nicht im Bundesrat vertreten zu sein. Das würde dann die neue Partei übernehmen – freilich mit bloss noch einem Vertreter.

Ein möglicher Ausweg

Ein Stoppen der Empörungsspirale ist nur möglich, wenn von beiden Seiten der Wille zu einer Konfliktlösung vorhanden ist. Eine solche Lösung kann natürlich nur in einem Kompromiss bestehen, bei dem beide Seiten aufeinander zugehen und das Gesicht wahren können. Ein solcher Kompromiss könnte wie folgt aussehen:

1. Die SVP nimmt Eveline Widmer-Schlumpf nach einer gewissen „Abkühlungsperiode“ in die Fraktion auf. Sie respektiert damit, dass die Bundesrätin demokratisch von der Bundesversammlung gewählt worden ist.

2. Eveline Widmer-Schlumpf anerkennt, dass bei den nächsten Bundesratswahlen das Nominationsrecht für SVP-Bundesräte der Partei zusteht. Sie verpflichtet sich, vor der erneuten Kandidatur 2011 ein parteiinternes Nominationsverfahren zu durchlaufen. Sie sagt zu, nicht mehr zu kandidieren, falls ein nationales Parteigremium 2011 mit Zweidrittelmehrheit ihre Kandidatur nicht mehr wünschen würde.

3. Eveline Widmer-Schlumpf könnte ihre Energien auf inhaltliche Politik konzentrieren und hätte mehr als drei Jahre Zeit, in Partei und Fraktion zu beweisen, dass sie eine „SVP-Bundesrätin“ ist. Wer sich regelmässig innerhalb von Institutionen trifft, kommt sich in der Regel auch menschlich näher.

Auf der Höhe, auf welcher die Empörungsspirale sich jetzt befindet, werden die beteiligten Akteure auf einen solchen Vorschlag nicht eintreten wollen. Aber sie sollten sich einmal zurücklehnen und fragen, welches die Folgen sind, wenn der Konflikt über die ganze Legislaturperiode andauert – nicht nur für das Land, sondern auch für sie selbst. Allerdings: Mit meinem Vorschlag würden beide Seiten ein Risiko eingehen. Das Risiko des “Weitermachens wie bisher” ist jedoch für beide Seiten höher.

* Silvano Moeckli ist Politologieprofessor an der Universität St. Gallen. Von ihm ist unlängst die zweite Auflage seines Buches „Das politische System der Schweiz verstehen. Wie es funktioniert, wer partizipiert, was resultiert“ erschienen; Tobler-Verlag Altstätten 2008.
Wir lernten uns vor einigen Jahren in der damals noch südserbischen Provinz Kosovo kennen. Moeckli war Wahlbeobachter für die OSZE, ich Pressesprecher für die “Swisscoy”-Truppe. Dieser Beitrag ist in einer gekürzten Version bereits im “St. Galler Tagblatt” erschienen.

FDP – wie geht es weiter?

GAST-BEITRAG

von Bruno Schaller, Heimberg (BE)

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Anfang der 80er-Jahre war die FDP eine klar rechtsbürgerliche Partei und Garant für eine verlässliche, konsequente und liberale Politik. «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat», das war die glasklare Botschaft. Sie versuchte nicht, es allen recht zu machen, sondern schaffte es, sich als deutliches politisches Gegengewicht zum Sozialismus zu positionieren. Mein Eintritt in die FDP war reine Formsache.

Spätestens seit der politischen Wende 1989 ist es auch dem hinterletzten Romantiker klar, dass sich der Sozialismus (nicht aber das soziale Denken!) als Irrweg erwiesen hat. Das kommunistische System war buchstäblich bankrott und am Ende. Es hätte sich die einmalige Chance geboten, den Weg des freien, liberalen Staates aufzuzeigen: Nur ein finanziell gesunder Staat, der auf möglichst hohe Eigenverantwortung des Bürgers setzt, kann ein sozialer Staat sein.

Leider verpasste es die FDP, ihr klares Profil zu erhalten oder gar weiterzuentwickeln. Selbstkritik tut not: Sie hat wacker mitgeholfen, indem sie das gute Einvernehmen mit allen andern höher gewichtete als die politische Konfrontation und deshalb den Kompromiss jeweils schon bei Diskussionsbeginn vorwegnahm. Die FDP hat als staatstragende Partei mitgeholfen oder zumindest zugeschaut bei Problemen wie Aufblähung des Staatsapparates, Schuldenwirtschaft, Erhöhung der Steuerquote und überbordender Bürokratie, insbesondere für die KMU. Sie blieb seltsam stumm bei der stetigen Minimierung der Eigenverantwortung des Menschen, der Anspruchshaltung an den Staat, der «Laisser-faire-Erziehung» der linken 68-Generation und der Kuschelpädagogik an den Schulen. Sie hatte keine Antworten auf die unmittelbaren Folgen davon wie fehlende Disziplin, Anstand und Respekt. Teure Sozialarbeiter, von der arbeitenden Bevölkerung finanziert, üben sich heute in Symptombekämpfung. Brutale Ausländerkriminalität und oberdreister Sozialmissbrauch waren für die FDP jahrelang Tabuthemen – wohl aus falsch verstandener Political Correctness.

Die SVP trat dankbar in dieses Vakuum – und nahm sich der Probleme an, die in der Bevölkerung seit langer Zeit brodeln. Zu ihr sind Tausende FDPler übergelaufen. Die einst stolze Partei hat heute noch magere 15 Prozent Wähleranteil, die SVP inzwischen fast das Doppelte. Das Hauptproblem ist, dass heute kaum mehr jemand weiss, wofür die FDP steht. Einmal präsidiert sie die linksfreisinnige Christiane Langenberger, dann der wirtschaftsliberale Rolf Schweiger. Heute ist der anständige, brave, introvertierte Fulvio Pelli der Chef. Klare Botschaften sind nicht seine Stärke; dies wäre aber für eine Partei (über-)lebenswichtig. Steht die FDP für die linken Euro-Turbos Christa Markwalder oder Marc F.Suter oder die rechten EU-Gegner um Filippo Leutenegger?

Ja, wofür steht heute die FDP? Ah ja, unter anderem für Tagesschulen und Kinderkrippen, dies natürlich auf Kosten der Allgemeinheit. Diejenigen, die nach freisinnigen Grundsätzen die Selbstverantwortung grossschreiben und sich als Familie selbst organisieren, müssen sich nach liberalem Verständnis als Geprellte vorkommen, dürfen sie doch ungefragt diese millionenteuren Einrichtungen mitfinanzieren.

Kurz vor den Parlamentswahlen durfte FDP-Bundesrat Couchepin ungestraft Christoph Blocher mit dem Faschismus der 30er-Jahre assoziieren und ihn in die Nähe des Duce rücken, ohne Aufschrei der Empörung oder Distanzierung seitens der FDP.

Der neuste Coup vom inzwischen zum Bundespräsidenten avancierten Couchepin – der Vergleich des demokratisch gewählten Nationalrates Mörgeli mit dem Hitler-Massenmörder Mengele – ist eine Ungeheuerlichkeit, seine Stellungnahme ein zusätzliches Desaster. Auch wird die Passivität und (Schaden-)Freude über Blochers Rausschmiss aus dem Bundesrat bei Teilen der FDP, darin sind sich Politbeobachter einig, zusätzlich zum Bumerang für die FDP werden.

Wie herauskommen aus dem Dilemma? Jeder Involvierte weiss, dass dies nur mit einem radikalen Neuanfang, neuen Köpfen, einer klaren Positionierung, straffer, zentraler Führung und verbindlichen Regeln für alle «Aushängeschilder» der Partei gelingt. Man kann es auch ganz profan ausdrücken: Sie muss alles daransetzen, dass diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die autonom und eigenverantwortlich für sich, ihre Familie, ihr Geschäft, ihre Mitarbeiter, die Gesellschaft allgemein, handeln – ohne staatliche Beihilfen oder Subventionen –, nicht plötzlich in der Minorität sind. Eine Mehrheit, die beim kleinsten Problem nach dem Staat schreit, das wäre dann nicht nur für eine Partei, sondern für die ganze Schweiz ein wahres Katastrophenszenario.


Bruno Schaller, Heimberg, ist eidg. dipl. Drogist und Inhaber einer Drogerie. Er ist verheiratet, Vater von drei Kindern und befasst sich neben seinem Traumberuf mit Themen aus Wirtschaft, Politik, Gesundheit und Gesellschaft.

 

Sie können diesen Text auch gelayoutet als PDF-Dokument öffnen. Er stammt aus der Berner Zeitung vom 16. Februar 2008:

fdp-wie-geht-es-weiter.pdf

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Ich werde gelegentlich auch Texte, die bereits anderswo erschienen sind, aufschalten. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass die Autorin oder der Autor damit einverstanden ist. Beim aktuellen Gastbeitrag von Bruno Schaller, den ich nicht kenne, fragte ich ihn via Mail an, ob er seinen Text auch hier veröffentlichen wolle.

 

Foto: pedro-drogerie.ch