Die Emanzipation des Bundesrats
Publiziert am 31. Mai 2011GAST-BEITRAG von Patrik Müller *
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«WER REGIERT DIE SCHWEIZ?» So lautet der Titel des viel beachteten Buches, das der Publizist Hans Tschäni im Jahr 1983 schrieb.
Er kam, vereinfacht gesagt, zum Schluss: Es sind die Lobbyisten aus Banken, Industrie und Landwirtschaft, die in Bern das Sagen haben. Die Politiker sind bloss ihre Marionetten.
JA, DIE WIRTSCHAFT zeigte in der Schweiz, dem bürgerlichsten Land Europas, jahrzehntelang, wos langgeht. Wenn Economiesuisse, der Dachverband der Unternehmen (der früher Vorort hiess), mal entschieden hatte, dann spurten Bundesrat und Parlament. Und am Schluss – nicht immer, aber meistens – auch das Volk, dank der millionenschweren Abstimmungs-Kampagnen, für welche die Unternehmen ihre Schatullen öffneten.
SO FUNKTIONIERTE DIE SCHWEIZ bis vor kurzem, und diese «Filzokratie» (Tschäni) wurde zum Erfolgsmodell. Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für das Land. Die Linken konnten diese Gleichung noch so lange verteufeln, sie drangen beim Volk damit nicht durch. Denn die Bürger merkten, dass es ihnen tatsächlich immer besser ging.
BEISPIELE DAFÜR, wie die Wirtschaft die Politik bestimmte, gibt es zuhauf. In den 70er-Jahren, als der Bundesrat wegen der Ölkrise ein neues Energiekonzept ausarbeitete, berief er Michael Kohn zum Präsidenten der Expertenkommission. Kohn, der seither «Energiepapst» genannt wird, war für die atomnahen Unternehmen Motor-Columbus und Atel tätig. Initiativen für einen besseren Mieterschutz wurden abgelehnt, Vorstösse für tiefere Unternehmenssteuern angenommen. Die Mutterschafts-versicherung hatte so lange keine Chance, bis die Wirtschaftsverbände kehrten und 2004 ein Ja empfahlen. Erst dann kam sie in der Schweiz durch, als letztem Land in Europa.
DIE GLOBALISIERUNG verstärkte die Dominanz der Wirtschaft zusätzlich. Die Unternehmen begannen ab den 90er-Jahren, Standorte und damit Staaten gegeneinander auszuspielen. Dadurch verlor die nationale Politik ihre Gestaltungskraft. Die CEOs sagten cool: Wenn ihr dieses Gesetz verschärft, dann verlagern wir anderswo hin. Diese Dominanz mündete in Arroganz: «Was die Politik von der Wirtschaft lernen muss», lautete der imperative Titel eines Essays, das im Jahr 2000 der damalige CS-Chef Lukas Mühlemann im «Magazin» schrieb.
NUN ABER GESCHIEHT UNERHÖRTES: Der Bundesrat, zumindest seine Mehrheit, folgt der Befehlsausgabe der Wirtschaft nicht mehr. Und dies ausgerechnet in zwei zentralen Themen. Erst liess die Regierung die einflussreichen Grossbanken UBS und CS abblitzen. Vergeblich lobbyierten diese gegen strenge «Too big to fail»-Regeln. Nicht einmal die bewährte Drohung «sonst ziehen wir ins Ausland» wirkte diesmal. Und auch mit den Privatbanken legt sich der Bundesrat an, indem er Gelder arabischer Potentaten neuerdings sehr schnell sperrt, was Julius-Bär-Präsident Raymond Bär im «Sonntag»-Interview scharf kritisiert.
DANN KAM DER MITTWOCH, 25. Mai, der Tag, an dem der Bundesrat den Atomausstieg beschloss. Es ist eine Kehrtwende in der Energiepolitik um 180 Grad, die gegen den Willen von Economiesuisse und gegen den Willen der Stromkonzerne erfolgte. Auf einen Schlag war ein jahrzehntelanges, mit Dutzenden Millionen gespeistes Atomlobbying zunichte. Eine Sensation, die den Präsidenten von Economiesuisse, Gerold Bührer, fassungslos machte: «Oberflächlich, unseriös, übers Knie gebrochen» sei der Entscheid, schnaubte er. Der Chefredaktor der «Basler Zeitung» erklärte den Entscheid verzweifelt mit der «fast esoterischen Selbstsicherheit» der «vier Frauen im Bundesrat».
ES IST EIN NEUES GEFÜHL für Wirtschaftsvertreter, vom Bundesrat die kalte Schulter gezeigt zu bekommen. Und dann noch von vermeintlich Verbündeten! Dass die als «Atom-Doris» verschriene CVP-Ministerin Leuthard die Energiewende innerhalb von wenigen Monaten vollzog – was SP-Mann Moritz Leuenberger 15 Jahre lang nicht gelang –, versetzte die Stromwirtschaft in einen Schockzustand. Wer so etwas vor einem halben Jahr vorausgesagt hätte, wäre für verrückt erklärt worden.
DIE EMANZIPATION DES BUNDESRATS von der Wirtschaft ist historisch. Herbeigeführt wurde sie allerdings nicht aktiv, sondern als Reaktion auf zwei äussere Ereignisse: Die weltweite Finanzkrise mit dem Beinahe-Crash der UBS machte möglich, dass der Bundesrat sich von den Grossbanken lossagte. Und die Atomkatastrophe von Fukushima brachte die Bundesrätinnen Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf zum Umdenken, was dann mit der SP eine 4:3-Mehrheit für den Ausstieg ergab.
WER REGIERT DIE SCHWEIZ? Offenbar nicht mehr die Wirtschaft, sondern die Politik, lautet die neue, aber vorläufige Antwort. Ob die strengen Bankenregeln wirklich kommen, ob der Atomausstieg tatsächlich vollzogen wird: Das ist offen. Denn im Parlament ist der Einfluss von Bank- und Stromwirtschaft noch immer gewaltig. Die Bundesratsentscheide könnten im National- und vor allem im Ständerat noch umgestossen werden.
DASS DIES ABER UNWAHRSCHEINLICH ist, liegt an der Stimmung im Volk: Es hat sich schon früher als der Bundesrat von der Wirtschaft emanzipiert, wie vor gut einem Jahr das haushohe Abstimmungs-Nein zu Rentenkürzungen in der Pensionskasse zeigte. Und heute scheint eindeutig: Das Volk will scharfe Bankenregeln, und es will keine neuen AKW.
BLEIBT DIE FRAGE: Ist es nun eigentlich gut, dass die Wirtschaft der Politik nicht mehr sagen kann, wos langgeht? Als Demokrat muss man die Frage mit Ja beantworten. Gleichzeitig aber wissen wir: Dass unser Wohlstand so gross ist, dass unsere Arbeitslosenquote und unsere Steuern so tief sind, hängt eben auch damit zusammen, dass Wirtschaft und Politik miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Deshalb sollten sie nun gemeinsam die Chancen nutzen, die sich aus dem Atomausstieg ergeben.
ES IST GUT, wenn die «Filzokratie» verschwindet. Der Pragmatismus aber muss bleiben.
* Patrik Müller ist Chefredaktor der Zeitung „Sonntag“. Sein Leitartikel erschien in der Ausgabe vom 29. Mai 2011. Die Publikation im wahlkampfblog erfolgt nach Rücksprache mit dem Autor.
Foto Patrik Müller: radio 1.ch
Heute gilt der alte Spruch von “Bö” mehr denn je: Wer sitzt zu Bern und gibt dem Staate die Gestaltung? Zweitens ist’s der Bundesrat und erstens die Verwaltung.
Die Macht von Medien- und PR-Leuten ist auch nicht zu unterschätzen. Sie bestimmen wer bzw. welche Anliegen auf die Agenda kommen und welche nicht. Man sieht es ja auch auf diesem Blog. Herr Balsiger bestimmt für welche Politiker er Werbung macht und welche Blogger auf seinen Blogroll kommen. Hin- und wieder darf ein Journalist einen Gastbeitrag schreiben und dann darf der Politexperte im Gegenzug im Fernsehen auftreten oder es wir in der Zeitung ein Interview mit ihm veröffentlicht.
Zu den Fakten:
Die Rubrik “Gast-Beiträge” habe ich vor rund drei Jahren lanciert. Seither haben sich sieben verschiedene Persönlichkeiten in dieser Rubrik geäussert. Die Zusammenstellung:
– 1 BDP-Grossrat
– 1 FDP-Mitglied
– 1 SP-Mitglied
– 1 Politologe
– 1 Sozialgeograf
– 1 Stammgast dieses Blogs
– 1 Journalist
Dieser 1 Journalist heisst Patrik Müller und ist Chefredaktor des “Sonntag”. Diesem Titel gab ich bis dato noch nie ein Interview, Patrik Müller kenne ich nicht persönlich. Noch Fragen?
Irgendwo ist jetzt jemand daran, ganz diskret die Hosen wieder hochzuziehen.