Vom Messerstecher-Inserat bis zum wurmstichigen Schweizer Apfel: Provokation funktioniert noch immer

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren. Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen.

Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in dieselbe Falle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU.

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Am Ende dieses Postings wird ein Sujet aus der antisemitischen Nazi-Zeitung «Der Stürmer» gezeigt. Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Dieselbe Bildsprache wurde bereits in den Dreissigerjahren verwendet

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.

Analogie zu den Dreissigerjahren: Die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» publizierte einmal dieses Sujet namens «Der Wurm». Es war gegen die Juden gerichtet.
Quelle: AZMedien/TeleM1

Im Schweizer Wahlkampf ist nicht «Big Money» im Spiel

Seit Jahrzehnten wabert eine Hypothese durch unser Land. Sie lautet:

Mit Geld lässt sich ein Sitz im eidgenössischen Parlament kaufen.

Bemüht wird sie von Politikerinnen und Politikern, deren persönliche Ambitionen nicht von Erfolg gekrönt wurden. Die Medien greifen das Thema in Wahljahren regelmässig und gerne auf, und womöglich untermauert PR-Altmeister Rudolf Farner den Plot. Er sagte vor mehr als 50 Jahren einmal: «Mit einer Million Franken mache ich aus jedem Kartoffelsack einen Bundesrat.» Seither wird dieses Bonmot von Hinz und Kunz rezitiert, bei zahllosen Podien kommt es zur Sprache.

Würde die Hypothese stimmen, müsste das Parlament hauptsächlich mit FDP- und SVP-Mitgliedern besetzt sein. Das ist allerdings nicht der Fall. In der aktuellen Legislaturperiode haben die beiden genannten Parteien 46 Prozent der Sitze inne. Die Hypothese zerfällt also wie Staub. Auch wissenschaftlich konnte bis heute der Nachweis nicht erbracht werden, dass man mit Geld einen Sitz im National- oder Ständerat kaufen kann.

Dessen ungeachtet hat die Hypothese immer wieder Konjunktur. Dieser Tage wurde sie von der NZZ aufgegriffen, was mich zu dieser Replik herausfordert.

It’s the title, stupid! So riss die NZZ am 15. April ihren Artikel über Wahlkampfkosten im Allgemeinen und Rogel Köppel im Speziellen an.

Zerlegen wir Titel und Lead dieses Artikels.

1.  Die Situation im Kanton Bern:

Einer der beiden Ständeratssitze wird durch den ordentlichen Rücktritt von Werner Luginbühl (BDP) frei, was zu mehr Dynamik führt. Dass die Wahlkampagnen der sieben Kandidierenden insgesamt etwa eine Million Franken kosten werden, ist plausibel. Die Aussage im Titel, dass «die Parteien für einen Sitz im Ständerat immer mehr Geld ausgeben», wird aber nirgendwo belegt. Ein Vergleich mit früheren Wahlen fehlt, sei es 2015, 2011 oder noch früher.

Die «Kriegskasse» eines Ständeratswahlkampfs wird alimentiert durch

– einen Beitrag der Partei;
– Spenden von Verbänden, Firmen und Privaten;
– eigene Mittel.

Der Blick auf die Berner Ständeratswahlen zeigt exemplarisch: Was die Kantonalparteien an die Kampagnen ihres Spitzenpersonals beisteuern, ist sehr bescheiden, liegt es gemäss einer Erhebung der «Berner Zeitung» doch bei weniger als 200’000 Franken. Wie kommt die NZZ darauf, von «immer mehr Geld» zu schreiben?

2.  Insider schätzen die Kosten von Roger Köppels Wahlkampagne auf mindestens eine halbe Million Franken:

Keine Frage, 500’000 Franken sind eine erkleckliche Summe. Damit kann man eine robuste Wahlkampagne fahren, die allerdings vor allem wegen den Medien, die jedes Augenzwinkern Köppels thematisieren, druckvoll wird. Dass sein Budget eine neue Höchstmarke bedeutet, wie der Titel insinuiert, ist allerdings schlicht falsch. Die Ausmarchungen um die beiden Zürcher Sitze sind schon lange ausgesprochen kompetitiv, was während der Offline-Wahlkämpfe der Achtziger-, Neunziger- und zu Beginn der Nullerjahre ins Geld ging. (Ich machte 2003 eine Erhebung von rund 1400 Wahlkämpfen in der Schweiz und kenne deshalb auch die Budgets aus dem Kanton Zürich.)

 

Betrachten wir das grosse Ganze: Die Realität in den USA zeigt, wie Partikularinteressen und Geld die Politik deformiert hat. Political Action Commitees (PAC) und Super-Pacs beherrschen die Szene, weil sie immens viel Geld für die Wahlkämpfe ihrer Favoriten generieren können. Die Schweizer Parteien hingegen sind arm wie Kirchenmäuse, bei uns ist nicht «Big Money» im Spiel. Trotzdem erachte ich es als wertvoll, dass die Transparenz-Initiative bald eine vertiefte Debatte über die Parteien- und Wahlkampffinanzierung ermöglicht.

«Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung.»

Mark Balsiger

Wissen Sie, was einzelne Posten im Wahlkampf kosten? Vermutlich nicht. Bloss ein Beispiel: Für ein halbseitiges Inserat im «Tages-Anzeiger», schwarz-weiss, bezahlt man 14’520 Franken, für eines mit Textanschluss übrigens bereits 24’288 Franken. Man kann unendlich viel Geld in die Wahlwerbung buttern. Die Kreativwirtschaft, die gebeutelten Medienverlagen und die Tech-Giganten Google, Facebook & Co. freut’s. Etwas darf man dabei nicht vergessen: Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung. Und wer glaubt im Ernst, dass wegen ein paar Inseraten, Plakaten, gesponserten Facebook-Ads und einer 20-Sekunden-Interaktion an einem Öpfeli-Flugblätter-Stand auf dem Bahnhofplatz plötzlich viele Nichtwähler zu Wählern werden?

Die Fixierung auf die Wahlwerbung halte ich ohnehin für unzureichend. Wenn ein Dutzend Supporter einer ambitionierten Kandidatin während Monaten ihre Freizeit für sie opfern, sei es beim Adressen Generieren, beim Haustür-Wahlkampf usw., so müsste diese Unterstützung ein Preisschild haben. Wenn Profi-Campaigner mitwirken, wie das bei Cédric Wermuths Ständeratskandidatur der Fall ist (sie wechselten vom Generalsekretariat der SP Schweiz zum Aargauer), hat das mehr Wert als viele Werbefranken.

Geld ist zwar wichtig im Wahlkampf, das 26-Erfolgsfaktoren-Modell, das ich 2006 entwickelt hatte, zeigt aber, dass die Anker-Faktoren wichtiger sind:

Gemäss der Studie, die zu meinem Buch «Wahlkampf in der Schweiz» (2007) führte, haben Anker-Faktoren (unten) die grösste Bedeutung. Es folgen die Engagement-Faktoren (Mitte) und an dritter Stelle die Verpackungsfaktoren. Tatsache ist, dass eine Mehrheit der Wahlkampagnen in der Schweiz auf Verpackungs-Faktoren und dabei insbesondere auf Medienmix und Slogans fokussieren.

Die Jugend ist erwacht

Klimastreik in Bern – 18. Januar 2019 © Raphael Hünerfauth – http://huenerfauth.ch

Seit Jahren habe ich mich immer mal wieder genervt: «Diese apolitische Jugend, mon Dieu!» Stets «Jolo», voll easy chillen, Mann – und jetzt das: Schülerinnen und Schüler gehen auf die Strasse, demonstrieren gegen den Klimawandel und stellen klare Forderungen auf. Was vor Weihnachten im kleinen Stil begann, wurde am Samstag gross. Die Jugend ist erwacht: In rund einem Dutzend Schweizer Städte nahmen insgesamt mehr als 50‘000 Leute teil. Dass an einem schulfreien Tag so viele Junge mitmachten, ist ein neckisches Detail.

Der Klimawandel kann zu einem Megathema werden. Die Jugendlichen haben ihr Mobilisierungspotential noch lange nicht ausgeschöpft. Demonstrieren macht ihnen Spass, das Planen und gemeinsame Erleben verbindet, der Erfolg ist ansteckend, man will dabei sein, findet es megacool. Sie haben eine Klimastreik-Bewegung aufgebaut, die sich mit Social Media und WhatsApp-Gruppen organisiert und bei Bedarf auch offline trifft. Die Gefahr, dass ihre Kampagne von etablierten Akteuren vereinnahmt werden könnte, haben sie frühzeitig erkannt. Bewusst distanziert sich die Bewegung von der institutionellen Politik, Spenden von Parteien nimmt sie nicht an.

Die Medien fahren das Thema gross, es ist in Schulzimmer und an den Familientisch geschwappt. Damit hat die Politisierung der Teenager begonnen, teilweise vielleicht sogar ihrer Eltern. Toll, wenn das eine dauerhafte Wirkung hat. Es ist allerdings auch gut möglich, dass die Klima-Bewegung bald wieder zerfällt. Wenn sich das Demonstrieren abnutzt und die Aufmerksamkeitsprämien ausbleiben, könnten viele das Interesse wieder verlieren.

Greta Thunberg gab im letzten Sommer die Initialzündung für die Kundgebungen, die inzwischen weltweit stattfinden. Zu Beginn demonstrierte die 16-jährige Schwedin alleine, Freitag für Freitag marschierte sie mit ihrem selbstgebastelten Plakat zum Regierungsgebäude in Stockholm. An der UNO-Klimakonferenz im Dezember las sie den Politikern vor der Weltpresse die Leviten. Spätestens seit ihrer Zugreise ans WEF in Davos kennen sie alle. In den sozialen Medien erfährt sie viel Zuspruch, wird aber auch mit Häme und Hass eingedeckt.

Die Prognose sei gewagt: Greta bleibt dran. Lange bevor sie sich übrigens öffentlich engagierte, setzte sie in ihrer Familie einen Sinnes- und Verhaltenswandel durch. Das sollte Schule machen. Demonstrieren ist gut, sein eigenes Verhalten dauerhaft verändern auch. Dafür braucht es allerdings eine enorme Selbstdisziplin. Nur ein Beispiel: Keine Altersgruppe in der Schweiz fliegt mehr als die 18- bis 24-Jährigen (siehe Grafik). Seit sich Easyjet & Co. durchgesetzt haben, kosten viele Destinationen noch zwei oder drei Drinks. Nach Barcelona für 20 Stutz, eine hippe Metropole, ist alleweil cooler als ein paar Tage Bergün zu verbringen.


Greta würde sich für Bergün entscheiden, und das führt uns zur zentralen Frage: Wieviel Greta steckt in uns?

P.S.
Simone Meier vom Online-Portal «Watson» war bei der Klimademo in Zürich dabei. Sie schreibt: «Wenn wir alle Glück haben, dann gelingt es vielleicht, aus einem Protest Politik zu machen. Es wäre nicht das erste Mal. Aber es wäre eins der ersten Male, dass sie von einer Seite initiiert worden wäre, mit der weder Wirtschaft noch Politik gerechnet haben. Gewissermassen aus der Zukunft.»

Ihren kompletten Kommentar gibt es hier.

Nicht noch ein zweites Mal ein 49.7%-Fiasko

Vor fünf Jahren stritten wir lange und heftig über die Masseneinwanderungsinitiative (MEI). 50.3 Prozent stimmten ihr am 9. Februar 2014 schliesslich zu. Dieser Abstimmungstermin brannte sich bei vielen Menschen ins Gedächtnis ein. «Never again!» haben sie sich damals im «49.7-Lager» vorgenommen.

Tausende entschuldigten sich noch am Abstimmungssonntag auf Facebook bei ihren internationalen «friends», empört, wortreich und weinerlich, oft in englischer Sprache. Wie viele von ihnen die Abstimmung verpennt haben, ist nicht bekannt.

Die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» (SBI) ist eine Art Zwillingsschwester der MEI: Auch die SBI ist schwammig formuliert, sie setzt Bewährtes aufs Spiel und schadet der Exportnation Schweiz enorm. Zudem beschneidet sie Grundrechte, die für Minderheiten und Einzelpersonen von zentraler Bedeutung sind.

Am 9. Februar 2014 betrug die Differenz gerade einmal 19’300 Stimmen. Am nächsten Sonntag geht es wieder knapp aus: Ich schätze, dass die Stimmbeteiligung zwischen 52 und 55 Prozent beträgt. Die Kernstädte werden die SBI sehr deutlich ablehnen, auf dem Land hingegen ist die Zustimmung gross. Matchentscheidend könnte die Agglomeration werden: Drehen Arlesheim, Dietikon, Emmen, Zollikofen, Gossau (SG) usw. ins Ja- oder ins Nein-Lager? Ein zweites Mal bei einem Nein-Anteil von 49.7 Prozent steckenbleiben, wäre ein Fiasko. Wir haben es in der Hand.

Die Umsetzung der MEI wurde begleitet von einer dreijährigen Knatschphase. Sie kann auf zwei Hauptsätze eingedampft werden: «Der Volkswille wird nicht umgesetzt!», lärmten die Initianten. «Sagt endlich, wie viele Leute pro Jahr einwandern dürfen!», konterte die Gegenseite. Das hat Risse in unserer Gesellschaft hinterlassen.

Ein letzter Punkt betrifft den Stil: Kritik sollte sich meiner Meinung nach stets auf die Vorlage konzentrieren, nicht auf die Absender. Gerade in diesem Abstimmungskampf zeigt sich allerdings, dass die Supporter der SBI immer wieder als «dumm», «ewiggestrig», «Nazis» usw. betitelt werden. In gewissen Fällen kommt das der Realität vielleicht nahe, ist aber überheblich und ausgrenzend. Wer jetzt einwendet, die Anderen hätten angefangen – was zwar stimmt -, erinnert sich hoffentlich an die tränenreichen Streitereien im Sandkasten.

Auge um Auge, Zahn um Zahn – wer Auseinandersetzungen so durchzieht, macht die politische Kultur kaputt. Als Teil der neuen Bewegung Courage Civil werde ich mich stets für Anstand und Respekt starkmachen. Gerade bei hart umkämpften Abstimmungsvorlagen.

Der Name ist Programm: Courage Civil

Seit Jahren wird der Rechtsstaat in der Schweiz attackiert. Volksinitiativen sind regelmässig nur noch ein Vehikel für politisches Marketing. Fake News untergraben das Vertrauen in die Medien. Populismus hat auch bei uns Einzug gehalten. Das alles ist Gift für die direkte Demokratie und das politische Klima.

Aus diesen Gründen habe ich in den letzten sechs Monaten damit begonnen, eine neue Bewegung aufzubauen: Sie heisst Courage Civil Civil und steht ein für rechtsstaatliche Prinzipien, Gewaltenteilung, unabhängige Medien sowie Respekt und Anstand im politischen Diskurs. Ihr Name ist Programm: Courage bedeutet Mut – courage wiederum ist vom französischen Wort cœur abgeleitet, also vom «Herz».

Die Bewegung ist parteipolitisch unabhängig. Sie erhebt ihre Stimme zu staats-, medien- und gesellschaftspolitischen Themen. Courage Civil will für breite Bevölkerungsschichten zu einem glaubwürdigen Anker werden. Dieses Ziel will die Bewegung unter anderem mit Positionspapieren, Diskussionsrunden und Kampagnen erreichen. Ihre Facebook-Seite, die sie von der Kampagne gegen «No Billag» übernehmen konnte, zählt 28’000 Likes. Somit hat sie eine grössere Reichweite als die Facebook-Seiten der etablierten Parteien. Das macht Courage Civil als Partner für andere Akteure interessant. Allerdings: «Wir wollen mit Argumenten überzeugen, Lärm machen andere schon genug. Vermutlich wenden sich deshalb viele Leute von der Politik ab», schreiben wir auf unserer Website.

In der Schlussphase dabei im Kampf gegen die Selbstbestimmungsinitiative

Courage Civil ist von heute Montag an aktiv: Im Abstimmungskampf gegen die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) nutzt die Bewegung ihre reichweitenstarke Facebook-Seite sowie ihr Twitter-Konto. In den verbleibenden drei Wochen verbreitet sie dort Inhalte, die ihr die breite Allianz gegen die SBI zur Verfügung stellt. In der ersten Phase will sich Courage Civil als zuverlässige Partnerin empfehlen.

Courage Civil wird begleitet von einem Beirat. Dieser umfasst zurzeit 40 Personen aus Wirtschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft. Vertreten sind drei Generationen aus den verschiedensten Regionen der Schweiz, unterschiedliche Berufe und Lebensentwürfe. Courage Civil ist rechtlich ein Verein; er will sich vorläufig mit Mitgliederbeiträgen und Spenden finanzieren.

Jackpot-Demokratie mit Geld aus dem Ausland


Das neue Geldspielgesetz
ist kein gutes Gesetz. Aber es ist besser als der Status Quo. Vor diesem Hintergrund ist das Ja von heute positiv. 72,9 Prozent der Stimmberechtigten entschieden pragmatisch.

Auch ich stimmte Ja. Zudem wurde meine Agentur Mitte April vom Komitee «Gemeinnütziges Geldspielgesetz Ja!» an Bord geholt. Weil keine Partei den Lead übernehmen wollte, übernahm ich diese Aufgabe. Ich wurde also quasi in der 75. Spielminute als Joker eingewechselt.

Mein Engagement hat in meinem beruflichen und privaten Umfeld viele Rückfragen ausgelöst. Es gibt zwei eminent wichtige Gründe, weshalb ich für ein Ja kämpfte und diese will ich hier erläutern.

1. Politik ist kein Game

Es muss möglich sein, dass so genannte Behördenvorlagen auch die Volksabstimmung überstehen. Sonst droht der Stillstand und das Parlament verliert an Gewicht. Das Geldspielgesetz war nach sechs Jahren Arbeit austariert. Der Ständerat stimmte ihm mit 43 Ja gegen 1 Nein zu, der Nationalrat mit 124 Ja gegen 61 Nein (bei 9 Enthaltungen). Eine klare Sache, wie man damals dachte.

Die Hürden für Volksinitiativen und Referenden sind tief, selbst ungeübte Akteure schaffen es oft, genügend Unterschriften zu sammeln. Beim Referendum gegen das Geldspielgesetz pumpten ausländische Online-Casinos eine erkleckliche Summe in die Schweiz. Ein paar bürgerliche Jungpolitiker packten die Chance, um sich zu profilieren.

Das einzige Thema, das die Referendumsführer und später auch die linken Jungparteien einte, hiess Netzsperren. In der Vernehmlassungsantwort der Jungfreisinnigen (jf) sucht man dieses Schlagwort allerdings vergeblich, ihr wichtigstes Argument existierte noch gar nicht.

Fazit: Ein paar Jungpolitiker sind als opportunistische Spieler aufgeflogen. Politik ist aber kein Game. In der Politik haben Spielernaturen nichts zu suchen!

2. Referenden und Abstimmungen sind nicht käuflich!

Der Referendumskampf von jf, Junger SVP und Junger GLP wurde von ausländischen Online-Casinos mit 500’000 Franken alimentiert. Was für ein Gewicht hat diese Summe? Eine Faustregel besagt, dass ein Referendum in der Schweiz zwischen 150’000 und 300’000 Franken «kostet». Als im März die Finanzierung aus dem Ausland ruchbar wurde und die Medien ihren Job machten (siehe «Tages-Anzeiger» vom 23. März, PDF), traten die Jungpolitiker die Flucht nach vorne an. Das Wort «Transparenz» brauchten sie von da an regelmässig. Mehrere Schlüsselfiguren erklärten zudem, man nehme aus dem Ausland kein Geld mehr an.

Ende Mai wurde publik, dass ausländische Online-Casinos auch die Abstimmungskampagne finanziert haben – Jackpot-Demokratie. Wie hoch die Spende war, wollen die Jungpolitiker aber bis heute nicht sagen. Das schöne Wort «Transparenz» verschwand flugs im dunklen Keller. Wer die «Arena» vom 25. Mai jetzt schaut, ist erschüttert, wie in dieser Sendung gelogen wird! (Die entscheidende Sequenz beginnt ab Minute 42, rund um den «Prüfstand».)

Laut groben Schätzungen hatte das bürgerlichen Nein-Komitee zwischen einer und zwei Millionen Franken zur Verfügung. Die Ja-Allianz wiederum konnte drei Millionen in die Abstimmungskampagne investieren. Diese Summe machten die Befürworter schon vor langer Zeit öffentlich. Das Geld stammte je zur Hälfte von den Schweizer Casinos und der Sport-Toto-Gesellschaft. Diese finanzierte ihren Anteil übrigens mit Erträgen aus Immobilien. jf-Präsident Andri Silberschmidt sagte am Abstimmungssonntag in jedes Mikrofon, die Befürworter hätten nie Transparenz hergestellt. Das nennt man lügen.

Fazit: Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Schweizer Demokratie wurde versucht, ein Referendum und eine Abstimmung mit viel Geld aus dem Ausland zu kaufen. Es handelt sich um Firmen, die von Steueroasen wie Malta oder Gibraltar aus operieren, in der Schweiz keine Steuern bezahlen und sich um nationale Gesetze foutieren. Diese Einmischung finde ich ungeheuerlich.

So, jetzt dürfen Sie mich einen «digitalen Analphabeten» schelten. Über «Netzsperren» und dergleichen mag ich hier aber nicht diskutieren, sorry. Dieses Thema drehte zwei Monate lang in einer Endlos-Schleife – unflätig und mit viel Lärm!

Die Wir-Schweiz bleibt stärker als die Ich-Menschen

Der Abstimmungskampf dauerte fünf Monate, war ausgesprochen intensiv und leider oftmals gehässig. In der Schweizer Mediendatenbank werden vom 1. Oktober letzten Jahres bis am 28. Februar rund 7500 verschiedene Artikel referenziert. Pro Tag erschienen über dieses Thema also durchschnittlich 50 Texte. Das ist rekordverdächtig. «No Billag» liess kaum jemanden kalt, es ging faktisch nur um die SRG, die Vorlage spaltete das Land. Umso wichtiger ist das klare Resultat: Das Volk sagte mit 71,6 Prozent wuchtig Nein zur Verstümmelung bestehender Radio- und TV-Sender.

Über Monate hinweg arbeiteten sich Zehntausende von Menschen an der SRG und ihren Angestellten ab – von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer bis zur Wutbürgerin in der hinterfinstersten Gasse in Klein-Basel. Er war eine Abrechnung, unversöhnlich, demagogisch, mitunter sogar hasserfüllt. Das Reizwort «Flüchtlinge» wurde ersetzt durch «SRG» und sie musste für alles hinhalten, am Schluss sogar für die sibirische Kälte der letzten Wochen. In ihren Kommentaren liessen allerdings auch viele «No Billag»-Gegner Anstand und Respekt vermissen.

Es gibt Parallelen zur Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative vor zwei Jahren: Auch damals machte die Zivilgesellschaft den Unterschied. (Okay, der Begriff wurde in den letzten Jahren sehr oft verwendet.) Zehntausende von Einzelpersonen haben sich erneut für ein Nein stark gemacht. Dazu kamen die Efforts von Künstlerinnen, Comedians wie Giacobbo/Müller, Schauspielern, Volksmusik- und Sportverbänden. Operation Libero ist inzwischen auf derselben Flughöhe wie die grossen Parteien, das Komitee «Nein zum Sendeschluss» wiederum konnte 1,5 Millionen Franken an Spenden generieren. Zudem erhielt es von den Kreativen unentgeltlich rund hundert Videos zur Verbreitung, viele davon waren hochwertig produziert. Die Reichweite war mit 200’000 Leuten pro Tag so gross wie nie zuvor.

Die Wir-Schweiz bleibt also deutlich stärker als die Gruppe von Menschen, deren immergleiche «Ich-ich-ich»-Voten wir die letzten Monate gehört haben. Sie blenden aus, das Gemeinsinn unser Land stark gemacht hat.
Die Schlacht ist geschlagen, das Wasser bleibt unruhig, die SRG geht aber gestärkt aus dieser Abstimmung hervor. Sie sollte dem Kredit, den sie mit diesem Plebiszit erhalten hat, mit Demut und Offenheit begegnen. Es muss ihr gelingen, das Gärtchendenken, das sich mit der Konvergenz noch verstärkte, zu beenden. Die Arbeit der Leute in den Online-Abteilungen ist genauso wichtig wie bei Radio und Fernsehen. Ebenso wichtig ist ein Kulturwandel: Es reicht nicht mehr, wenn die Angestellten des Rundfunks einen guten Job machen. Die Programmschaffenden müssen in einen stetigen Austausch mit dem Publikum treten, zuhören, Inputs aufnehmen und vor allem: berührbar werden. Das kann in Schulen, Beizen und bei Service Clubs passieren, in der Stadt und auf dem Land. Mit Anbiederung hat das nichts zu tun. Die «Republik» zeigt, wie dieser Dialog funktionieren soll: «Wir wollen Gastgeber sein, nicht nur digital, auch physisch.»

Die SRG hat eine privilegierte Position. Als gebührenfinanziertes Medienhaus muss sie für die Menschen in unserem Land ein Anker im Sturm sein. Das ist möglich mit überzeugenden Inhalten, mit Dialog und mit Chefs, die intern geschätzt und extern glaubwürdig und empathisch sind. Das neue Generaldirektorengespann Gilles Marchand und Ladina Heimgartner kann diese Erwartungen hoffentlich einlösen.
Der US-Präsidentschaftskampf 2016 hat uns vor Augen geführt, wie mächtig Facebook, Algorithmen, russische Trollarmeen und Fake-News sind. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist anfällig auf eine ähnliche Entwicklung. Umso wichtiger ist die Rolle starker und unabhängiger Medien. Fakt ist: Die privaten Medien stecken in einer tiefen Finanzierungskrise. Die Presse hat von 2011 bis 2016 satte 37 Prozent ihrer Werbeeinnahmen eingebüsst. Das ist dramatisch. Insgesamt generierten sie 2016 noch 1,26 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Der Erlös der Online-Werbung in der Schweiz betrug 2016 bereits 1,09 Milliarden Franken. Der Löwenanteil dieser Summe fliesst zu den IT-Giganten im Silicon Valley, Apple, Amazon, Facebook und Google. Dort sitzt der Feind, nicht im Leutschenbach.

Ende der Neunzigerjahre führten die privaten Medienhäuser ohne Not die Gratiskultur ein. Damit haben sie sich selbst an die Klippen manövriert. Die Medienmanager glauben inzwischen nicht mehr daran, dass man mit Journalismus Geld verdienen kann. Entsprechend bauen sie die Portfolios um. Es geht darum, wer im kommerziellen Digitalgeschäft überlebt. Das Kerngeschäft von früher – die Information – wird dabei komplett marginalisiert. Nach 20 Jahren Gratiskultur ist die Bereitschaft, für Inhalte zu bezahlen, sehr bescheiden.

Übernahmen und Entlassungen werden auch die nächsten Jahre den Medienplatz Schweiz prägen. Das Trauerspiel um die Schweizerische Nachrichtenagentur sda ist ein aktuelles Beispiel. Umso wichtiger ist es, wenn sich das öffentliche Medienhaus SRG behaupten kann. Es hat eine Chance, wenn seine Vorgesetzten nun vieles richtigmachen.

Mark Balsiger

Disclaimer:
Ich war bei dieser Volksabstimmung Kampagnenleiter des Komitees «Nein zum Sendeschluss», also Partei.


Weitere Abstimmungskommentare:

Die «Aber» der schlechten Demokraten (Matthias Zehnder, privater Blog)
Die SRG kann nicht bleiben, wie sie ist (Patrick Feuz, Der Bund)
Es braucht dennoch eine SRG-Reform (Rainer Stadler, NZZ)
Was für ein Signal! (Kasper Surber, WOZ)
Volk beerdigt No Billag – Bürgerliche wursteln weiter
(Gabriel Brönnimann, Tageswoche)
Warum der No-Billag-Streit der Schweiz gut getan hat
(Jacqueline Büchi, Watson)
Nach der Schlacht ist vor der Schlacht (Dennis Bühler, Norwestschweiz)
Jubeltag für die SRG – Reformen sind dennoch nötig
(Claudia Blumer, Tages-Anzeiger)
Die Medienrevolution kommt sowieso (Dominik Feusi, Basler Zeitung)
SRG-Demut ist deplatziert (Erich Gysling, Infosperber)

Ein Rush Limbaugh wäre Gift für die Schweiz

Die Libertären wollen die AHV abschaffen, das Gesundheitswesen privatisieren und unrentable Postautolinien stilllegen. Für sie gibt es eine Maxime: „Der Markt soll es richten.“ Mit No Billag führen sie derzeit einen verdeckten Kreuzzug gegen die SRG. Tatsache ist: Der Markt richtet zuweilen hin, beispielsweise wenn in der kleinräumigen Schweiz Radio- und TV-Sender ohne Gebühren auskommen müssten. Eine Abstimmungsempfehlung gegen die No-Billag-Initiative, über die wir am 4. März abstimmen.  

Die Volksinitiative ist eine grossartige Errungenschaft und ein Motor der Demokratie. Seit ihrer Einführung vor bald 130 Jahren haben Volksinitativen viele Themen angestossen, innovativen Ideen zum Durchbruch verholfen und uns zu verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern gemacht. Die No-Billag-Initiative hingegen ist nicht innovativ, wie der Staatsrechtler und SRG-Kritiker Urs Saxer Ende Dezember in einem NZZ-Gastbeitrag monierte. Im Gegenteil, sie ist destruktiv. Sie schafft nicht Neues, sondern zerschlägt mit ihrer radikalen Formulierung die Medienvielfalt, die seit 1983 im audio-visuellen Bereich entstanden ist.

«No Billag» klingt beim ersten Hinhören attraktiv, ist aber irreführend. Ohne Radio- und TV-Empfangsgebühren verschwindet auf den 1. Januar 2019 auch die Finanzierungsgrundlage der SRG und von 34 privaten Radio- und Regional-TV-Sendern. Natürlich würden nach einem Ja einige Private versuchen, mit noch weniger Personal und noch tieferen Löhnen ein noch dünneres Programm anzubieten. Das Bundesparlament wiederum würde alles unternehmen, damit eine verstümmelte SRG wenigstens noch eine Informationssendung pro Tag produzieren könnte. Die Demokratie geht deswegen nicht unter, aber: Was einmal kaputt ist, ist kaputt. Die angepasste Bundesverfassung würden einen Wiederaufbau verunmöglichen.

Wie in jedem anderen europäischen Land wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch in der Schweiz von der Allgemeinheit finanziert. Drei Viertel des SRG-Budgets kommen aus dem Billag-Topf, bei den privaten Regional-TV-Sendern macht der Gebührenanteil durchschnittlich 53 Prozent aus. Es wäre illusorisch, den Ausfall mit Bezahlmodellen und noch mehr Werbung kompensieren zu können. Genau das fordert aber der wirre «Plan B» des Gewerbeverbands. Die Initianten wiederum präsentierten vor wenigen Wochen ihre Vorschläge, die jährlich bis zu 300 Millionen Franken Subventionen vorsehen, also Steuergelder. Damit zerlöchern sie ihre eigene Volksinitiative.

Beide Akteure blenden drei Realitäten aus:

– Das Werbevolumen für Radio und TV ist ausgeschöpft;
– Das TV-Publikum ist nur bereit, für Serien, Spielfilme, Porno sowie ein paar wenige Sportarten (insbesondere Fussball, Tennis, Boxen und Formel 1) zu bezahlen;
– Für das Medium Radio gibt es technisch noch keine Möglichkeiten, um Inhalte nur für Abonnenten bereitzustellen.

Natürlich, die SRG hat in der Vergangenheit Fehler gemacht; natürlich, ein paar ihrer Repräsentanten sind nicht volksnah; natürlich, das Medienhaus muss reformiert werden. Aber man kann nur eine SRG reformieren, die Substanz hat. Laut Wirtschaftsführern ist es nicht möglich, ein Unternehmen mit 6000 Angestellten innerhalb weniger Monate komplett neu auszurichten. Deshalb hinkt der Vergleich mit der Swisscom, die ab Ende der Neunzigerjahre schrittweise in den freien Markt entlassen wurde.

Was passiert, wenn die No-Billag-Initiative angenommen wird? Investoren träten auf den Plan, womöglich haben sie eine politische Agenda und verbreiten ihre Meinung ungefiltert. Mit Sicherheit sind sie gewinnorientiert, ihr Programm orientiert sich ausschliesslich an kommerziellen Kriterien: Gezeigt wird, was Quote bringt. Die Sparten Information und Kultur bringen keine guten Quoten und sind teuer; am Markt lassen sie sich nicht refinanzieren. Das ist in allen Ländern so. Eine solide Demokratie braucht aber unabhängige Medien.

Was im emotional geführten Abstimmungskampf untergeht: No Billag würde auch Radio SRF treffen. Gerade seine Programme sind aber beim Publikum sehr beliebt und erreichen täglich 2,6 Millionen Menschen, die im Durchschnitt 105 Minuten zuhören. Radio SRF und seine Pendants in den anderen Sprachregionen liefern in den Sparten Information, Kultur und Unterhaltung seit jeher hohe Qualität. Bei Befragungen belegen Radio SRF, RTS, RSI und RTR nach den Kriterien Glaubwürdigkeit, Vielfalt und Professionalität Jahr für Jahr den ersten Platz.

Das komplette Medienangebot kostet ab 2019 jeden Privathaushalt nur noch einen Franken pro Tag. Die Abgabe von 365 Franken pro Jahr muss man in ein Verhältnis stellen: In jedem Haushalt werden für den Medienkonsum im Durchschnitt 2770 Franken jährlich ausgegeben. Die Radio- und TV-Empfangsgebühr entspricht also etwa 14 Prozent.

Richten wir unser Augenmerk abschliessend auf die Bundesverfassung: Bei einer Annahme der Initiative würden im Artikel 93 zwei zentrale Absätze gestrichen:

2   (…) Radio und Fernsehen stellen die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten angemessen zum Ausdruck.

5   Programmbeschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz vorgelegt werden.

Was bedeutet das konkret? Radio- und TV-Sender müssen sich nicht mehr an Minimalstandards halten. Sie können ausgrenzen, lügen und nur noch Protagonisten, die ihnen passen, einladen. Ombudsstellen und die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) gibt es nicht mehr, das kostenlose Beschwerdeverfahren ist abgeschafft. Ombudsmann Roger Blum spricht von Wild-West-Verhältnissen, die drohen würden.

Wohin die Reise gehen könnte, zeigt die «Rush Limbaugh Show» in den USA. Diese Radio-Talksendung erreicht wöchentlich bis zu 20 Millionen Leute, Gastgeber Limbaugh pöbelt und hetzt, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Seit Ronald Reagan 1987 die «Fairness Doctrine» abgeschafft hat, sind die amerikanischen Medien nicht mehr auf Ausgewogenheit verpflichtet.

Roger Köppel stünde zwar bereit, eine Show nach Limbaughs Vorbild wäre allerdings Gift für den Zusammenhalt in der Schweiz. Mit einem Nein am 4. März können wir eine Entwicklung in diese Richtung verhindern.

Mark Balsiger


Ergänzend:

Ich zahle nur, was ich brauche (Die Zeit, 3. Februar 2018, Matthias Daum/Aline Wanner)
Wie das Gedankengut der Libertären in der Mitte der Gesellschaft landen konnte.

Transparenz:
Ich bin Kampagnenleiter beim Komitee «Nein zum Sendeschluss», das gegen die No-Billag-Initiative kämpft.

Unser Land braucht solide Brücken

Heute vor zwanzig Jahren stand ich am Fuss des guatemaltekischen «Volcán de Agua» (Wasservulkan), tags darauf kletterten wir auf seinen Gipfel (3760 Meter über Meer). An den Abstieg erinnere ich mich noch heute – wegen den Schmerzen an meinem «Chassis». Ich lebte damals in Guatemala, lernte fleissig Spanisch, unterrichtete Englisch, bereiste das Land in den kunstvoll bemalten «Chicken Busses» (mehrheitlich ausrangierte Schulbusse aus den USA) und versuchte mich beim Tortillas Backen und Salsatanzen. Beides sorgte für Erheiterung, aber das ist eine andere Geschichte.

Mein Bedürfnis nach gut aufbereiteter Information war auch in jener Phase gross. Die Zeitungen Guatemalas taugten nichts, die internationale Presse war nicht greifbar, das Internet hatte sich noch nicht durchgesetzt. Zum Glück hatte ich einen Weltempfänger dabei, der auf der ausgestreckten Hand Platz fand. Dank diesem Gerät konnte ich auf Kurzwelle die Sendungen von Schweizer Radio International (SRI) empfangen. Heute heisst dieser Dienst übrigens Swissinfo – er ist längst eine Onlineplattform, die übrigens gut und unaufgeregt über die Schweiz berichtet.

Damals hörte ich mir alle zwei, drei Tage zu fixen Zeiten die Sendungen von SRI an und blieb so informiert, was in der Schweiz passiert. Es war eine Brücke in die Heimat.

An diese Phase meines Lebens dachte ich über die Weihnachtstage oft zurück, weil mich das Welt-Mikrofon des «Echo der Zeit» (siehe oben) daran erinnert. Aus diesem Foto wurde schliesslich eines der Sujets für die Abstimmung gegen die No-Billag-Initiative, die wir vorgestern fertigstellten. Hintergrundsendungen wie das «Echo der Zeit» (täglich) oder «International» (wöchentlich) von Radio SRF kosten Geld, sie sind am Markt nicht zu finanzieren, weil er viel zu klein ist. Nach einem Ja zu No Billag am 4. März würden sie verschwinden.

Unser Kleinstaat hat zwar keine Ressourcen, leistet sich aber seit 1992 allerhand Isolations-Klamauk. Dabei geht vergessen, dass die Schweiz zusammen mit Grossbritannien das erste globalisierte Land der Welt war. Gerade aus wirtschaftlichen Gründen ist für uns eine stetige Auslandberichterstattung unerlässlich, wir müssen wissen, was in anderen Ländern geschieht. Die Beschränkung auf «Regierungsputsch, Hungersnot, Krieg und Erdbeben», wie das Syndrom seit zwanzig Jahren diskutiert wird, wäre fatal. Die privaten Medien bauen ihre Auslandberichterstattung schon seit Langem schrittweise ab. Die Leute hier seien «am Ausland» zu wenig interessiert, heisst es aus den Chefredaktionen. Ich halte dagegen: Wir brauchen eine solide Brücke ins Ausland.

Die Kampagnensujets hat übrigens Steven Götz kreiert. Wer einen hervorragenden Grafiker braucht: he’s the one.

Mark Balsiger

Disclaimer:
Ich bin Kampagnenleiter des Komitees «NEIN zum Sendeschluss», um den Kampf gegen No Billag zu unterstützen.

P.S.
Klar, über den Claim könnten wir abendfüllend diskutieren. Die Negation ist umstritten, andere Leute in unserem Komitee votierten für ein Fragezeichen. Am Schluss landeten wir bei einem Kompromiss – genauso, wie die Politik in diesem Land, wenn sie pragmatisch bleibt. Eines ist gewiss: «Der Bestatter» beginnt am 2. Januar mit der sechsten Staffel, unser Sujet mit Mike Müller sorgte schon gestern für Wirbel.

#NoBillag #NEINzuNoBillag #SRG #SRF #EchoDerZeit #SRFinternational #Swissinfo #Guatemala

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer im No-Billag-Modus

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer brachte am Samstag die Schrotflinte in Anschlag – zum wiederholten Mal. Schon der Titel seines Leitartikels knallt: «Die Schweiz braucht keine Staatsmedien». Gujer schiesst scharf auf die SRG. Kritik ist legitim und wichtig: Die SRG hat in der Vergangenheit nicht alles richtig gemacht, klar. Ein paar Schlüsselfiguren wünschte man mehr Empathie und Demut. Doch darum geht es hier nicht.

Gujer übernimmt in seinem Text weitgehend Rhetorik und Logik der No-Billag-Initianten. Aus staatspolitischer und publizistischer Sicht ist das bedenklich. Er suggeriert, das Volk könne am 4. März nächsten Jahres Ja stimmen, das Parlament fände hernach einen kreativen Weg, die Initiative umzusetzen. Entweder hat Gujer den Initiativtext nicht gelesen oder er pokert.

Als Ergänzung zum Blog-Posting von Diego Yanez, dem Direktor der Schweizer Journalistenschule, bringe ich hier eine Replik zu vier Punkten aus Gujers Elaborat.

1. Die SRG ist ein Staatssender

Gujer war einmal Korrespondent in Moskau. Er weiss also genau, dass Staatssender zensurieren und nur die genehme Meinung verbreiten. Schweizer Radio und Fernsehen hingegen hat keine Abhängigkeiten. Die Vereinsstruktur der SRG mit ihren 24’000 Mitgliedern ist typisch für unser Land: Das Unternehmen gehört dem Volk, zwei von neun Verwaltungsratsmitgliedern werden vom Bundesrat bestimmt.

Die SRG-Journalisten beobachten die Arbeit der Behörden in der Regel genau und mitunter kritisieren sie hart. Als Beispiel dient der investigative Journalismus der Magazine «Espresso», «Kassensturz» und «Rundschau». Zudem zeigt die «Samstagsrundschau» von Radio SRF1 Woche für Woche, wie man den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft gut vorbereitet und professionell auf den Zahn fühlt. Wir merken: Schweizer Radio und Fernsehen bietet unabhängigen Journalismus.

2. Die SRG ist ein Dinosaurier und verändert sich nicht

SRF4 News ist nur eine von vielen Innovationen des Hauses. Der Sender bringt rund um die Uhr gut aufbereitete Nachrichten. Morgens von 6 bis 9 Uhr wird im Halbstundentakt «Heute Morgen» ausgestrahlt, ein zehnminütiges Journal auf vergleichbarem Niveau wie das «Echo der Zeit». Die SRG befindet sich im Wandel zu einem digitalen Medienunternehmen: Inhalte werden dort angeboten, wo ein Teil des Publikums heute ist – auf Instagram, Youtube, Facebook und Twitter. Die App «Politbox», für Junge konzipiert, holte 2015 einen internationalen Preis. Unlängst kreuzten bei Radio SRF1 Befürworter und Gegner der No-Billag-Initiative für eine Stunde die Klingen. Das Publikum brachte sich ein – via Telefon und Social Media. Wir merken: Die SRG ist unterwegs und macht publikumsnahe Sendungen.

3. Die SRG verzerrt den TV-Markt Schweiz

Trotz neuer Technologie: In der kleinen Schweiz mit ihren vier Sprachregionen spielt der TV-Markt nicht. Die Fixkosten für eine Informationssendung oder einen Spielfilm sind ähnlich hoch, ob sie nun für 5,5 Millionen Menschen in der deutschen Schweiz gemacht werden oder für 82 Millionen in Deutschland.

Rainer Stadler, seit mehr als 25 Jahren Medienredaktor bei der NZZ, ist ein genauer und unbestechlicher Beobachter – und ein Kritiker der SRG. Am letzten Freitag schrieb er: «Es verwundert, dass einige Exponenten weiterhin behaupten, eine private SRG könne sich künftig als Abonnementssender behaupten. Wer solches sagt, ist unredlich, oder er hat keine Ahnung von medienökonomischen Zusammenhängen. Ein Blick in die Nachbarländer genügt, um zu erkennen, dass das nicht funktioniert.» Wir merken: Bei der NZZ wird nicht der profunde Kenner konsultiert, wenn es um Medienthemen geht.

4. Das «Lagerfeuer» Fernsehen gibt es nicht mehr

Als Gujer noch ein Teenager war, lud Kurt Felix jeweils zur grossen Unterhaltungsshow «Teleboy». Strassenfeger gibt es heute noch: Den Dokumentarfilm über Bernhard Russi – ein berührendes Porträt – schauten 850’000 Menschen, die neue Krimiserie «Wilder» brachte Quote und gute Kritiken im Feuilleton, wichtige Spiele der Schweizer Fussballnationalmannschaft, das Lauberhornrennen oder der Historienfilm «Gotthard» kratzten an der 1-Millionen-Grenze. Die Hauptausgabe der «Tagesschau» verfolgen im Durchschnitt 620’000 Leute, und zwar linear. Wir merken: Das Fernsehen ist weiterhin ein Massenmedium.

Fazit: Gujers Leitartikel ist unrecherchiert, faktenfremd und teilweise demagogisch. Viele seiner Arbeitskollegen an der Falkenstrasse werden sich fremdschämen. Es ist nicht das erste Mal. Um es auch mit Polemik zu versuchen: Ohne starken Kaffee am Samstagmorgen hätte ich womöglich geglaubt, Ulrich Schlüers «Schweizerzeit» und nicht die NZZ vor mir zu haben. Was Gujer (Pressefoto unten) mit diesem Stück Konzernjournalismus bewirken will, bleibt sein Geheimnis. Wir erinnern uns aber, was er bei seiner Ernennung im März 2015 sagte: «Das, was wir machen, versuchen wir besonders gut zu machen.»

Dieses Posting erschient zuerst bei «Persönlich», dem Portal der Kommunikationsbranche.

Interessenbindungen des Autors: Mark Balsiger ist Kampagnenkoordinator des Komitees «NEIN zum Sendeschluss», das gegen die No-Billag-Initiative kämpft. Mandate der SRG hat er keine.