Weshalb die Rentenreform scheiterte – meine These

Die Rentenreform war nicht so schlecht, wie sie ihre Gegner machten, alle Gruppierungen hätten Kröten schlucken müssen. Tatsache ist aber auch, dass die SP-Fraktion nach ihrem erfolgreichen Kampf gegen die Unternehmenssteuerreform III im letzten Februar Oberwasser hatte und die Rentenreform in ihrem Sinn durchdrücken wollte. Es ging um Ideologie, Powerplay, Macht – oder eben: Politik. Die CVP wiederum scherte aus dem Block der Bürgerlichen aus, um sich klar von der FDP abzugrenzen und das eigene Profil zu schärfen – Stichwort “bürgerlich-sozial”, das neue Label der Christlichsozialen.

Mit dem doppelten Nein von heute bleibt alles beim Alten, das Defizit in der AHV und der Reformdruck werden grösser, das Drei-Säulen-Haus droht zu verlottern.

Diese Abstimmung hätte man gewinnen können. Die Allianz war breit, der Kompromiss schien austariert, Bundesrat Berset kämpfte wie eine Löwe für diese Vorlage, die er stark, vielleicht zu stark geprägt hat. Und das Paket, das er schnürte, war sehr umfangreich.

Die vorentscheidende Phase des Abstimmungskampfes begann Ende Juni und erstreckte sich über die ganzen Sommerferien. Damals hatte die Rentenreform bei Umfragen satte 60 Prozent Zustimmung, FDP-Präsidentin Petra Gössi leistete sich einen Fauxpax, die Kampagnenleute bei den Befürwortern konnten beruhigt in Urlaub fahren.

Doch da traten die Jungfreisinnigen auf den Plan, frisch und frech, und bald prägten sie zusammen mit Schlüsselfiguren der Mutterpartei den Diskurs. Ihre Schlagworte lauteten „Scheinreform“, „Rentenmurks“, „Giesskannenprinzip“ und „Zweiklassen-AHV“, was von den Medien bereitwillig aufgegriffen wurde. Neid kam hinzu, je intensiver die Debatte wurde – wer profitiert, wer nicht? Wir wissen es: Aus Neid resultiert am Schluss ein Nein. Das Bild der Jungen, die den Ausbau bezahlen müssen, verfestigte sich. Auf dem Schlachtfeld „70 Franken“ konnte das Ja-Lager nicht gewinnen; nicht wegen den 70 Franken, sondern weil das positive Framing dieses Schlachtfelds vergessen ging.

Die Jungfreisinnigen hatten früh Blut geleckt. Die Strategie stimmte, hernach wirbelten sie unermüdlich. Im Hintergrund zog der Kampagnenleiter der FDP Schweiz, Matthias Leitner, die Fäden, jung an Jahren, aber schon sehr erfahren im Geschäft. Nach aussen gaben jf-Präsident Andri Silberschmidt und andere Junge dem Nein-Lager ein sympathisches Gesicht, und sie kamen glaubwürdig herüber. Ihr Einsatz machte Eindruck. Und er schlug sich in den Medien nieder. Das zeigt eine Erhebung des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Uni Zürich über die Zeitspanne von Anfang Juli bis Mitte September. Die FDP erhält in den 21 wichtigsten Printmedien gleich viel Resonanz wie Bundesrat und SP zusammen. Das ist Handwerk!

In der Schlussphase waren viele Stimmbürger wegen dem Zahlensalat derart verunsichert, dass sie der Urne schliesslich fernblieben. Die Demobilisierung wirkte, die Stimmbeteiligung von nur 47 Prozent zeigt das deutlich auf. (Zum Vergleich: Noch Anfang September hatten 55 Prozent der Stimmberechtigten angegeben, teilzunehmen. Die Demobilisierung stärkte das Nein-Lager.)

Kommt hinzu: Die beiden grossen Ja-Komitees schafften es nicht mehr, Terrain zurückzuerobern und die Reform als pragmatisch zu etikettieren. Die Umfragewerte wurden für sie stetig schlechter, das Spiel lief für die Gegner. So ist Politik, so funktioniert die direkte Demokratie.

Der Pessimist sagt heute, dass wir wieder auf Feld 1 stehen. Der Optimist hingegen glaubt, dass weise Köpfe nun eine Vorlage zurechtzurren, die einfacher verständlich ist und auch eine Volksabstimmung überstehen kann.


Nachtrag:

Die Rentenreform ist morgen Montag auch Thema in der Talksendung “Schawinski”: Dort analysiere ich das doppelte Nein zusammen mit dem bekannten Politgeografen Michael Hermann.

Das Polit-Forum Käfigturm ist gerettet

Vor sechzehn Monaten riefen wir das Komitee «Rettet den Käfigturm» ins Leben, rund  7000 Personen unterzeichneten die Petition. Jetzt können wir aufatmen: Das Polit-Forum Bern ist gerettet! Endlich einmal eine gute Nachricht neben all den vielen schlechten, die im Tagestakt auf uns niederprasseln.

Die Institution im Herzen Berns hat eine neue Trägerschaft. Am Verein „Polit-Forum Bern“ sind Stadt, Kanton und Burgergemeinde Bern beteiligt, er wird präsidiert von Stadtpräsident Alec von Graffenried.

Ein Wermutstropfen: Die langjährigen Co-Leiter des Polit-Forums, Andreas Schilter und Michael Fritsche, werden sich beruflich neu orientieren. Sie waren es, die seit Ende der Neunzigerjahre für die Qualität im «Käfigturm» verantwortlich zeichneten, sie taten es mit Umsicht und viel Herzblut.

Mein herzliches Dankeschön geht an
– Regula Tschanz, die das Thema im Stadtparlament am Kochen hielt;
– Bruno Vanoni, der dasselbe im Grossen Rat tat. Just in einer Phase, in der Walter Stüdeli, mein Kompagnon im Rettungskomitee, und ich vom Kampf zermürbt in den Seilen hingen;
– Alexander Tschäppät, der in seinem letzten Jahr als Stadtpräsident das Polit-Forum zur Chefsache erklärte und das Fundament für die neue Trägerschaft legte;
– Claude Kuhn für das Kampagnensujet;
– Steven Götz für dessen Adaption;
– Andi Jacomet für die Website;
– den Mitgliedern im Co-Präsidium sowie allen 7000 Petentinnen und Petenten;
– Alec von Graffenried, der die Trägerschäft für das neue Polit-Forum definitiv formte.

DER HINTERGRUND DIESER RETTUNGSAKTION

Anfang Dezember 2015 gab der Bund bzw. die Bundeskanzlei bekannt, das Polit-Forum nicht mehr zu finanzieren. Dazu muss ich ein paar Gedanken wiederholen, für einmal etwas populistisch zugespitzt:

Sparen ist richtig, gerade wenn es um das Geld anderer geht. Das eidgenössische Parlament hat sich im Dezember letzten Jahres in langen Debatten durch das Budget 2017 gekämpft – und den Rotstift angesetzt. Doch was offenbart der geschärfte Blick auf die Zahlen: Die Bauern erhalten künftig 62 Millionen Franken mehr, ihre Subventionen erhöhen sich auf 3,39 Milliarden Franken jährlich. Und auch für die Armee gibt es mehr Geld: neu 5 Milliarden Franken pro Jahr.

Für das Polit-Forum in Bern hingegen gibt es in Zukunft: 0,00 Franken. Es hätte seitens des Bundes nur noch 400’000 Franken jährlich gebraucht, um diese Institution weiterhin zu betreiben. Bislang leistete er 1 Million Franken. Die Reduktion betrug also satte 60 Prozent, weil eine neue Trägerschaft, die sich im letzten Winter zu konstituieren begann, die Kosten breiter verteilen wollte.

Ich fasse zusammen: Bauern und Militär kriegen von diesem Jahr an noch mehr Geld, für politische Bildung gibt es weniger. Dabei weisen Politiker in jeder zweiten Sonntagsrede darauf hin, wie wichtig sie sei.

Was im Polit-Forum Käfigturm geboten wird, regt seit jeher zum Denken an und trifft den Nerv des Publikums: rund 30’000 Besucherinnen und Besucher werden jährlich gezählt, darunter zahllose Schulklassen. Im Zeitalter von Fake-News, digitaler Disruption und einem dauertwitternden US-Präsidenten wird es noch wichtiger, dass Jugendliche den Zugang zu Politik und Medien finden. Das Polit-Forum hat genau dies seit 1999 ermöglicht, volksnah und überzeugend. Die Latte für das neue Polit-Forum Bern liegt hoch.

Die USR-III wurde versenkt, weil das Vertrauen in die Akteure fehlt

Die gute Nachricht vorweg: Die Schweiz wird trotz diesem wuchtigen Nein zur Unternehmenssteuerreform III (USR-III) nicht untergehen. Genauso wie sie bei einem Ja nicht untergegangen wäre. Beide Lager überboten sich mit Schreckensszenarien, beide Kampagnen waren laut und populistisch. Entscheidend für das Scheitern der Vorlage war aber letztlich ein Kriterium: Vertrauen. Das muss im Hinblick auf weitere Reformen zu denken geben. Ein Abstimmungskommentar.

Ueli Maurer ist kein schlechter Bundesrat. Aber in entscheidenden Phasen fehlt ihm der staatsmännische Auftritt. Das war bei der Gripen-Abstimmung vor drei Jahren so, und es hat sich nun bei der USR-III wiederholt. Am 15. Januar dieses Jahres sagte er in einem Interview mit der „Schweiz am Sonntag“ trotzig:

„Bei einem Nein gleise ich am nächsten Tag ein Sparprogramm über mehrere Milliarden auf für die nächsten Jahre.“

Dieses Zitat wurde prompt von der Schweizerischen Nachrichtenagentur (sda) aufgegriffen und machte die Runde. In den Ohren vieler Leute klang Maurers Aussage wie eine Drohung. Andere erinnert sie an das Tina-Prinzip: Tina steht für There is no alternative. Auf Deutsch: Es gibt keine Alternative! Mit Verlaub, aber wir sind Nachfahren eines freiheitsliebenden Bergbauernvolks, wie sich meine deutschen Diskussionspartner gerne ausdrücken, und wir reagieren bockig, wenn jemand mit Tina einfährt.

 

In der SRF-Abstimmungs-„Arena“ vom 27. Januar entfuhr Maurer eine zweite Aussage, die für Kopfschütteln sorgte:

„Eine schlauere Vorlage haben wir noch selten gehabt.“

Tatsache ist, dass die USR-III-Vorlage eine Überforderung darstellt: für Hinz und Kunz genauso wie für die allermeisten Mitglieder des eidgenössischen Parlaments. Wer sie verstanden hat, sind einzelne Mitarbeiter der international tätigen Steuerberatungskonzerne, doch davon später.

Wenn eine Abstimmungsvorlage die Stimmbürgerinnen und -bürger materiell überfordert, wird die Glaubwürdigkeit ihrer Promotoren umso wichtiger. Frühere Finanzminister wie Kaspar Villiger oder Otto Stich hatten ein anderes Standing als Maurer. Sie hätten sich bei derselben Vorlage auch anders ausgedrückt: Ehrlicher – und souveräner. So aber wurden die Fragezeichen, die die Stimmbürger zu dieser Vorlage hatten, immer grösser. Niemand konnte sie glaubwürdig erklären.

Ein omnipräsenter Befürworter der USR-III war Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV) und Nationalrat. Als Schlachtross eignet er sich nicht, weil er beim Publikum durchfällt. Ein bürgerlicher Parlamentarier sagte es hinter vorgehaltener Hand unlängst so: „Jedesmal wenn Bigler auftritt, gefriert mir das Blut in den Adern.“

Dass der SGV rabaukige Kampagnen fährt, die zuweilen faktenfrei sind, ist nicht neu. Dieses Mal hat er die SP-Ständeräte Pascale Bruderer (AG), Claude Janiak (BL), Daniel Jositsch (ZH) und Hans Stöckli (BE) missbraucht. In der hauseigenen Zeitung, die in einer Auflage von drei Millionen Exemplaren verteilt wurde, wird das Quartett auf perfide Art als Befürworter der Vorlage aufgeführt.

Wer mit solchen Mitteln kämpft, hat als politischer Akteur viel Vertrauen verspielt und verdient einen neuen Direktor.

Schliesslich zur Wirtschaft. Wer ist diese “Wirtschaft”?  Hat sie ein Gesicht? Heinz Karrer, der Präsident von Economiesuisse? Wie schon bei der Masseneinwanderungs-Initiative vor drei Jahren war er auch dieses Mal kaum spürbar. An welche anderen Figuren erinnern wir uns?

Hallo?!

Stille.

Es ist kein Nebenschauplatz: In den Kadern der börsenkotierten Unternehmungen, die von der Schweiz aus wirken, stammt heute jeder zweite Manager aus dem Ausland. Die meisten von ihnen sind “Global Nomads”, sie sprechen keine Landessprache, an einer Gemeindeversammlung waren sie noch nie, bei der örtlichen Feuerwehr oder im Turnverein machen sie nicht mit, ihre Kinder gehen in eine English School. In vier oder fünf Jahren ziehen die Manager wieder weiter, nach Singapur, Greater London oder in die Niederlande. Der Wirtschaft hierzulande fehlen die bekannten Köpfe, denen man vertraut. Das ist der Preis der Globalisierung.

Steuerberater drückten USR-III den Stempel auf

Doch zurück zur USR-III: Es hat Tradition, dass bei Gesetzgebungsprozessen externe Expertinnen und Experten beigezogen werden. In der langen Schlussphase der Ausgestaltung dieses Gesetzes kamen Steuerberater von KPMG und PricewaterhouseCoopers (PWC) ins Spiel. Ihr Wissensvorsprung auf internationalem Parkett ist gross, was ihren Einfluss erhöhte, schliesslich übernahmen sie faktisch den Lead. Sie drückten der USR-III den Stempel auf. Wer will es ihnen verübeln: Steuerberatungskonzerne und Wirtschaftskanzleien wollen ihre Portfolios vergrössern, Steueroptimierung ist ein sehr attraktives Geschäftsfeld.

Der ehrliche Durchschnittsbürger, der jeden Rappen Einkommen und Vermögen versteuert, hat heute “Stopp!” gerufen. Ob allerdings eine substantiell bessere Vorlage zustande kommt, und das innerhalb von weniger als zwei Jahren, ist komplett ungewiss. Die Zeit läuft, seitens der EU und der OECD drohen eine Schwarze Liste und Sanktionen. Das eidgenössische Parlament scheint nicht mehr befähigt, bei grossen Fragen einen mehrheitsfähigen Kompromiss erarbeiten zu können.

 

P.S.
Das Ja-Lager hat einen wichtigen Faktor komplett ausgeblendet: Die Unternehmenssteuerreform II (USR-II), die wir im Februar 2008 mit 50.5 Prozent ganz knapp annahmen. Im Abstimmungsbüchlein wurden damals die Steuerausfälle auf 83 Millionen Franken beim Bund und auf rund 850 Millionen bei den Kantonen ausgewiesen. In Realität waren die Ausfälle aber ein Mehrfaches grösser. Das Bundesgericht sprach von einer „krassen Verletzung der Abstimmungsfreiheit“. Dieser Fall hallte nach – bis zur heutigen Abstimmung zur USR-III; viele Leute glauben, sie seien damals angelogen worden. Das untergrub das Vertrauen erst recht.


Weitere Kommentare etablierter Medien vom 12. Februar:

Das Nein ist Ausdruck einer Vertrauenskrise (Aargauer Zeitung, Patrik Müller)
Bundesrätliches Debakel (Berner Zeitung, Peter Jost)
Jetzt braucht es dringen eine neue, verbesserte Vorlage (Blick, Christian Dorer)
Eine schallende Ohrfeige (Bund/Tages-Anzeiger, Markus Häfliger)
Ausdruck eines grösseren Malaise (NZZ, Marcel Amrein)
Ein Votum gegen die Globalisierung (St. Galler Tagblatt, Pascal Hollenstein)
Schweizer Volk feuert tellschen Warnschuss ab (Tageswoche, Gabriel Brönnimann)
Der Mittelstand versteht keinen Spass, wenn es um sein Portemonnaie geht (Watson, Peter Blunschi)


Interviews der Folgetage:

– mit SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler:
“Die Angst-Kampagne hat verfangen” (NZZ, Daniel Gerny)
– mit FDP-Präsidentin Petra Gössi:
“SP-Präsident Levrat hat populistische Parteipolitik betrieben” (NZZ, Heidi Gmür)
– mit Andrea Arezina, Co-Kampagnenleiterin der SP
“Fake-News zahlen sich nicht aus” (Medium, Daniel Graf)
– mit Ex-Preisüberwacher Rudolf Strahm:
“Jetzt zeigt sich, ob Ueli Maurer als Staatsmann taugt” (Der Bund, 15. Februar, Philipp Loser & Markus Häfliger)
– mit Thomas Cueni, Geschäftsführer von Interpharma
“Wir haben versagt” (NZZ, 17. Februar, Hansueli Schöchli)


Weitere Texte:

Maurers halbe, unehreliche Schlüsse (NZZ, 14. Febr., Michael Schönenberger)
Das bürgerliche Kampagnen-Debakel (Tages-Anzeiger, 17. Febr., Christoph Lenz & Philipp Loser)
Gesundes Misstrauen in der direkten Demokratie (Basellandschaftliche Zeitung, 18. Febr., David Sieber)

Grafik: Tages-Anzeiger

Wie das Volk die Volkspartei ins Sägemehl drückte

 

Das Schweizer Volk hat der Durchsetzungsinitiative mit fast 59% Nein eine deutliche Abfuhr erteilt. Die Mehrheit der Stimmenden hat allen Grund zu feiern. Es wäre aber dumm, wenn sie die SVP nun im Rausch des Erfolgs verhöhnen würden. Echte Sieger zeichnen sich durch Respekt, Demut und Weitsicht aus. Unser Land darf es sich nicht leisten, Zeichensetzer, Wutbürger und SVP-Wähler zu stigmatisieren. Sie gehören genauso zur Schweiz wie Emil Steinberger, Flavia Kleiner, Knackeboul und Hundertausende von Secondos. Wir dürfen etwas nicht vergessen: Die Leute, die Ja stimmten, haben Angst und offensichtlich eine grosse Wut im Ranzen. Statt sie auszugrenzen, sollte man auf sie zugehen, auch wenn das nach all den Demütigungen und Hasstiraden, die seit Jahren aus diesen Kreisen kommen, schwerfällt.

Der Abstimmungskampf dauerte zwei Monate, war also nicht länger als bei den meisten anderen Vorlagen. Dafür war er ausgesprochen intensiv, polemisch, zuweilen sogar schrill. Nur das Referendum zum EWR im Jahr 1992 warf noch höhere Wellen und brachte mit 78 Prozent die höchste Stimmbeteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg. Damals hatten die beiden Lager deutlich mehr Geld zur Verfügung, damals war die Welt noch nicht globalisiert, damals kämpften auch noch ausschliesslich Schweizer Patrons an vorderster Front für ein Ja. (Diejenigen, die von der abgeschotteten Binnenwirtschaft und den Kartellen profitierten, steckten den Nein-Komitees heimlich Geld zu. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Noch im Januar schien klar, dass es ein klares Ja zur Durchsetzungsinitiative absetzen würde. Was führte zur hohen Stimmbeteiligung von 63,1 Prozent und zum Meinungsumschwung, zumal es kein Momentum gab?

Den Unterschied machte die Zivilgesellschaft, die nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vor zwei Jahren aufgewacht ist. Tausende und Abertausende von Menschen haben sich in den letzten Wochen für ein Nein stark gemacht – es sind Normalos wie Sie und ich. Doris Dosenbach verteilte in ihrem Quartier ein Flugblatt, auf dem sie ihre persönlichen Argumente darlegte, Hugo Hugentobler wurde nicht müde, am Arbeitsplatz und in seinem privaten Umfeld auf die Gefahren eines Ja hinzuweisen. Dazu kamen die Efforts der Künstlerinnen, Rechtsprofessoren, NGO, und immer wieder die kecken Jungen von Operation Libero, die unermüdlich trommelten.

Es gab Manifestationen, Aufrufe via E-Mail, Social-Media-Kampagnen wie nie zuvor, die Argumente der Befürworter wurden systematisch zerpflückt, und es kam eine für Schweizer Verhältnisse ungewöhnliche Dynamik auf. Hinter den Kulissen gab es sehr wohl Austausch und Absprachen, in der öffentlichen Wahrnehmung waren die Nein-Komitees aber unabhängig und mit eigenen Schwerpunkten präsent. So konnte die SVP schliesslich mit viel Kampfgeist ins Sägemehl gedrückt werden. Dieser Sieg hat eine zentrale Bedeutung – nicht nur materiell, sondern auch weil man die Volkspartei in ihrer Domäne gleich doppelt schlagen konnte: in der Mobilisierung der Massen und zum Thema Ausländer, das sie seit 25 Jahren systematisch beackert.

Was wir seit Mitte Januar beobachten, ist ein neues Phänomen: Ad-hoc-Gruppierungen wie „Dringender Aufruf“ kämpften unbeirrt, ganz offensichtlich wurden aber auch viele Menschen repolitisiert, sie nahmen das Schicksal in die eigene Hand und überliessen den Abstimmungskampf nicht den üblichen Akteuren. Parteien, vom Wahljahr 2015 noch ausgelaugt, und Verbände haben die Kontrolle über die Kampagnenführung nie erobert. Stattdessen meldete sich plötzlich ein vielstimmiger Chor, der den Abstimmungskampf kreativ, selbstbewusst, bottom-up und gelegentlich auch hysterisch aufmischte. Insgesamt ist das eine positive Entwicklung, sie stärkt die Demokratie, wie Anja Burri in ihrem klugen Kommentar festhält.

Das breite und beispielslose Engagement der Zivilgesellschaft wird auch in den nächsten Jahren immer wieder nötig sein, weil weitere listig formulierte Volksinitiativen zur Abstimmung kommen (die so genannte Selbstbestimmungsinitiative, das Burka-Verbot usw.). Der nächste Grosskampf dürfte in den nächsten 12 bis 18 Monaten stattfinden, wenn es um die bilateralen Verträge geht. Mutbürger, bleibt wach, bleibt dran!

Hoffentlich schöpft auch der Bundesrat aus dem Abstimmungsergebnis Mut. Was die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative betrifft, sollte er endlich eine Strategie entwickeln und Leadership zeigen. Es bringt nichts, wenn in diesem Dossier Spitzenbeamte aus allen Departementen trickreich um Einfluss und Macht rangeln.

Mark Balsiger


Nachtrag vom 29. Februar 2016: Weitere Kommentare:

An Grenzen gestossen (Tages-Anzeiger, Daniel Foppa)
Politik mit Unbedingtheitsanspruch (NZZ, Eric Guyer)
Le peuple suisse ne se sent trahi par ses instititions (24heures, Thierry Meyer)
Wir Mutbürger (Die Zeit, Mathias Daum)
Lernen von den Schweizern (Süddeutsche Zeitung, Charlotte Theile)

Eine Lehre für die bevorstehende Europa-Kampagne (insight 30. März 2016, Martin Stucki)

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Der Kampf der Kandidierenden um Aufmerksamkeit ist engagiert, aber meistens vergebliche Liebesmüh

Noch neun Tage.

Die Parteien haben zur Schlussoffensive geblasen. Bisherige, die um ihre Wiederwahl fürchten, und Ambitionierte, die Morgenluft wittern, gönnen sich keine Pause. Unermüdlich suchen sie den Kontakt mit den potenziellen Wählerinnen und Wählern, offline und online, und sie buhlen um die Aufmerksamkeit der Medien. Zuweilen wirkt das verbissen, manchmal verzweifelt, gelegentlich auch hilflos.

Ich ziehe meinen Hut vor den vielen Helferinnen und Helfern, die bis zum Schluss engagiert mitwirken. Und vor den Parteimitgliedern, die selber keine Wahlchancen haben, sich aber für ihre Spitzenkandidaten, ihre Überzeugungen und ihre Partei einsetzen. Das sind die wahren Helden des Wahljahres 2015!

strassenwahlkampf_cvp_sg_thomas_ammann_600Davon träumen alle Wahlkämpfer: Dass die Passantinnen und Passanten an ihren Ständen Schlange stehen.

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Kandidierende haben allerdings
ein grosses Problem: Sie erreichen die Leute kaum mehr mit ihren Aktionen und Werbemitteln, präziser: sie stossen mehrheitlich auf Ablehnung.

Was viele Marketingcracks und Werberinnen schon lange wissen, will ich hier ausführen. Und ja, dieser Text ist, wie so oft bei mir, eine Provokation.

Die Menschen in unserem Land sind täglich Hunderten von Werbeimpulsen ausgesetzt. Damit gehört die Schweiz zusammen mit den USA zu den Spitzenreitern.

Gehen wir einmal davon aus, dass die meisten Leute acht Stunden pro Nacht schlafen, dann sind sie entsprechend 16 Stunden täglich „auf Empfang“. Zwischen dem Weckritual mit dem dauerhaft gut gelaunten Moderator am Privatradio, das seinen Umsatz in der Primetime zwischen 6 und 9 Uhr mit nerviger Werbung macht, und dem Zu-Bett-Gehen, werden wir stetig berieselt.

Machen Sie die Probe aufs Exempel: An welche Werbeimpulse des gestrigen Tages können Sie sich noch erinnern, die an Kandelabern, in Zeitungen, online, auf Taxistüren, hinter Schaufensterscheiben, zwischen der “Tagesschau” und der Wetterfee auf Sie lauerten? Wie viele davon stammen von Parteien oder Kanddierenden?

Pause… Eben.

Die allermeisten Werbekontakte haben wir gar nicht richtig bemerkt, geschweige denn aufgenommen. Die permanente Reizüberflutung hat ihren Preis: wir wurden stumpf. Uns erreichen nur noch atypisch formulierte Botschaften. Oder Kampagnen, die mit gigantischen Budgets aufwarten können. Das Rebranding von Orange zu Salt hat in den letzten fünf Monaten 40 Millionen Franken verschlungen. Damit konnte sich der Mobilfunkanbieter in unser Bewusstsein bomben. Den 200 Kantonalparteien, Mutterparteien und rund 2500 Kandidierenden, die mindestens 500 Franken für ihren Wahlkampf aufwerfen (1200 machen nicht einmal den Finger krumm!), steht in diesem Jahr – konservativ geschätzt – dieselbe Summe zur Verfügung.

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Einer der Megatrends unserer Zeit ist die Beschleunigung. Mensch steht immer unter Strom, hetzt von A nach B und von B nach C, er kontrolliert 66 Mal am Tag sein Smartphone, fliegt schnell für 17 Franken und 17 Stunden nach Barcelona – Stress, auch in der Freizeit. Werbung wird fast immer als störend empfunden. Deshalb haben sich schon vor vielen Jahren die “Stopp – bitte keine Werbung!”-Kleber durchgesetzt. Wir klicken die Banner auf den mobilen Geräten weg und schauen TV-Sender, die Spielfilme ohne ärgerliche Werbepausen zeigen.

Das Wahlmaterial, das seit Wochen unsere Briefkästen füllt, landet ungelesen im Altpapier. Diese Köpfe und Botschaften – oft austauschbare Allgemeinplätze auf Billigpapier – verstärken unsere ohnehin schon grosse Werbeverdrossenheit. Kommt dazu: Wir. Haben. Keine. Zeit. Auch zu Hause nicht, schon gar nicht für Wahlen. Und überhaupt sagten es Doris Dosenbach von nebenan und der ehemalige Schulfreund Hugo Hugentobler schon treffend: “Kurz vor einem Wahltermin tauchen sie jeweils auf, diese Politiker. Kaum sind sie gewählt, scheren sie sich einen Deut um uns.” Solche Aussagen bestärken uns in unserer Ablehnung: Meine Stimmen ändern ja ohnehin nichts, also lass ich es gleich bleiben.

Mensch empfindet es mehrheitlich als Belästigung, wenn ihm auf gut frequentierten Plätzen und in Bahnhöfen Flyer in die Hand gedrückt werden. Er will dieses Zeugs ja gar nicht. Er hat keine Zeit, weil er von A nach B muss, sein Sklavengrätli stets griffbereit. Das ist weniger anstrengend, als sich mit politischen Inhalten auseinanderzusetzen. Wer schon einmal bei einem Strassenwahlkampf dabei war, weiss, dass viele Leute einen Bogen um die Stände der balzenden Politiker machen. Und sie haben beobachtet, was mit den meisten Flyern passiert: Sie landen am Boden oder im nächsten Abfalleimer. Wer Schöggeli, Sugusli, Öpfeli oder Chüechli verteilt, kommt bei den gestressten Passanten etwas besser an. Deshalb verteilen inzwischen alle Kandidierenden Schöggeli, Sugusli, Öpfeli oder Chüechli. Die Flyer landen trotzdem am Boden.

Die Parteien und Kandidierenden in der Schweiz haben bescheidenste Ressourcen, selten kreative Ideen, es hapert bei der Umsetzung und beim Timing, ihr Kampf um Aufmerksamkeit ist zwar engagiert, meistens aber vergebliche Liebesmüh und fast nie nachhaltig. Sie versinken im breiig-lärmigen Strom der kommerziellen Werbung. Oder sie versuchen es mit Gaga-Wahlkampf, was wir in diesem Jahr oft beobachten mussten.

Mark Balsiger

Fotos: CVP des Kantons St. Gallen, SP des Kantons Bern, jungfreisinnige Kt. Solothurn (via Twitter und Facebook, danke)

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Mit solchen Kampagnen und Lügen geht die politische Kultur vor die Hunde

Vor Volksabstimmungen kommen Provokationen, Zuspitzungen und Schlagworte oft vor. Das gehört zum Geschäft und ist okay, sofern die Fakten korrekt wiedergegeben werden. Bei der Abstimmungskampagne gegen das revidierte Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) ist dies nicht der Fall: Der Schweizerische Gewerbeverband (SGV), der für diese Kampagne verantwortlich zeichnet, verbreitet schon seit Monaten systematisch Desinformation, ja sogar Lügen. Ich überblicke 20 Jahre und kann mich nicht erinnern, dass das bei einer Abstimmungskampagne jemals in diesem Ausmass Fakten verdreht worden wären – ein neuer Tiefpunkt.

Ein Beispiel:

> SGV: „In den letzten 20 Jahren haben sich die Abgaben für Radio und TV um 64 Prozent erhöht.“
< Diese Behauptung ist falsch: Die Erhöhung betrug 13 Prozent, was nicht einmal ganz der Teuerung (14.3 Prozent) in dieser Zeitspanne entspricht.

Nur schon wegen dieser verlogenen Nein-Kampagne rechtfertigte sich ein Ja. Wäre ich noch Mitglied des Gewerbeverbands hätte ich jetzt mit sofortiger Wirkung den Austritt gegeben.

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SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler wird inzwischen für den ruppigen und diffamierenden Kampagnenstil mit grenzwertigen Sujets kritisiert. (Konzipiert wurde sie vom bekannten und umstrittenen Goal-Werber Alexander Segert, was der SGV unter dem Deckel halten wollte.) Ich orte das Problem aber anderswo: Hunderte von Bonsai-Biglers verbreiten wider besseren Wissens – oder bewusst – dieselben Lügen. Schade, dass Pinocchio-Nasen nur in Märchen wachsen! Mit Verlaub, aber so geht die politische Kultur vor die Hunde.

Das revidierte RTVG ist kein grosser Wurf, aber Hand aufs Herz, grosse Würfe gibt es in der Politik ohnehin nicht. Es gibt aber gesetzliche Verbesserungen und dazu zähle ich das RTVG, das den Wechsel von einem bürokratischen zu einem zeitgemässen System ermöglicht; die unwürdigen Kontrollen würden entfallen.

Im Getöse ist untergegangen, dass der Verband GastroSuisse, der unter das Dach des SGV gehört, die Ja-Parole beschlossen hat. Das lässt aufhorchen.

Der SGV hat sich der Kampf gegen Gebühren und Abgaben auf die Fahnen geschrieben, und das ist gut so. Bloss ist er nicht konsequent.

Den Gegnern geht es im Kern um die Zerschlagung der SRG

Mit der RTVG-Vorlage vom 14. Juni sinkt die Empfangsgebühr um mindestens 60 Franken. Zudem werden rund 75 Prozent aller KMU (diejenigen mit einem Umsatz unter 500’000 Franken) von der Medienabgabe befreit. Mir als Kleinstunternehmer bleiben also etwa 520 Franken pro Jahr mehr in meinem Geldbeutel, also genau das, was der SGV fordert. Meine Kaufkraft als Privatperson steigt, als Firmeninhaber habe ich mehr Geld zur Verfügung und könnte es in Umlauf bringen. Hunderttausende von KMU’lern sind in derselben Situation wie ich.

Spätestens hier wird erkennbar, dass es Bigler und insbesondere den mächtigen Akteuren, die beim Kampf gegen das RTVG im Hintergrund agitieren, um etwas anderes geht: das Big Game, die Zerschlagung der SRG. Wohin die Demontage der öffentlich-rechtlichen Sender führt, konnten wir beispielsweise in Italien und Spanien beobachten.

Beim revidierten RTVG stehen im Zentrum: Medienvielfalt, Föderalismus sowie die Sensibilität gegenüber kulturellen Minderheiten, was in unserer DNA sein sollte. Ein Drittel des SRG-Budgets fliesst in die Programme für die Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sprechenden Minderheiten der Schweiz. Das fördert den Zusammenhalt der Landesteile und ist damit eine Säule unserer Demokratie.

Letztlich geht es auch um eine qualitativ überzeugende Grundversorgung und um Service Public: Mir persönlich sind „Echo der Zeit“, „Heute Morgen“, „International“ (mein Hörtipp), „Der Bestatter“ und „The Voice“ 400 Franken wert.

Mark Balsiger

 

Weblinks:

Ja zum RTVG
Nein zum RTVG

P.S.  Transparenz: Der Autor dieses Postings war bis Ende 2000 als Redaktor bei Radio SRF (damals noch Radio DRS) tätig, seit 2009 ist er Mitglied beim SRG-Publikumsrat. Ein Mandat seitens der SRG gibt es nicht. Gegenüber den Medien äussere ich mich konsequent nicht zur RTVG-Vorlage – wegen diesem Positionsbezug, der schon seit Wochen in der Pipeline war. Die Unabhängigkeit wäre verletzt, die ich als Expertli hochhalte.

 

Die Herausforderungen der SP im Wahljahr

Die SP Schweiz trifft sich heute zum Wahlparteitag in Martigny (VS). Dort verabschiedet sie die Themen, die sie im Wahljahr 2015 in den Vordergrund stellen will.

Martin Wilhelm, Redaktor beim “Tages-Anzeiger”, wollte diesen Parteianlass mit einem anderen Ansatz anstossen. Er fragte gestern fünf Politologinnen und Politologen, was die SP tun müsse um zu punkten. Die schriftlichen Einschätzungen durften nicht mehr als 800 Anschläge umfassen.

Ich stellte mich dieser Herausforderung und “töggelete” ein paar Sätze ins System:

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Auf die Menschen und ihre Sorgen zugehen

“Als Volkspartei mit langer Tradition muss die SP im Oktober wieder über die psychologisch wichtige 20-Prozent-Marke hinauskommen. Sie darf ihre Energie nicht weiter in aussichtslosen Initiativen wie Mindestlohn, 1:12 oder der Einheitskasse verpuffen, die das Volk weder elektrisieren, noch von ihm als zentral taxiert werden. Sie muss sich stattdessen mehr Kompetenz auf den beiden wichtigsten Feldern Wirtschaftspolitik/Arbeitslosigkeit sowie Migration erarbeiten. Gerade bei Zweiterem wollen viele Sozialdemokraten immer noch kneifen, und so bleibt der Vorwurf im Raum, dass sie auf einem Auge blind sind. Auf die Menschen und ihre Sorgen zuzugehen, statt sich in den ewiggleichen Zirkeln gegenseitig auf die Schultern zu klopfen und die ‹dumpfbackige SVP› zu kritisieren – das ist die grösste Herausforderung für die SP.”

Die Empfehlungen meiner Kolleginnen und Kollegen gehen mehrheitlich in andere Richtungen – gut so. Sie sind hier nachzulesen.

Nachtrag vom Montag, 16. Februar 2015:
Die SP verabschiedete in Martigny ein 10-Punkte-Programm. Im Vordergrund stehen etwa AHV, ein verbesserter Kündigungsschutz und günstigeres Wohnen – der Bericht der NZZ.

Mark Balsiger

Foto: keystone

Ueli, der Meister am Schachbrett

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Für Peach Weber ist klar: Von allen sieben Bundesräten hat Ueli Maurer den grössten Unterhaltungswert. Der Komiker bezichtigte ihn letzte Woche in der “Aargauer Zeitung” aber auch der „Tollpatschigkeit“. Ausgerechnet Weber, der seinem Publikum seit Jahrzehnten erfolgreich vorgaukelt, er sei so durchschnittlich wie seine Pointen, blendet aus, dass auch Maurer nur eine Rolle spielt.

Als Maurer 1996 das Präsidium der SVP Schweiz übernahm, wurde er belächelt, niemand traute ihm dieses Amt zu. Der damalige SP-Chef Peter Bodenmann verspottete Maurer als “Suppenkaspar”. In „Viktors Spätprogramm“ erlangte er als trottliger Handlanger von Blochers Gnaden grosse Bekanntheit. Die Figur, die Viktor Giacobbo seither lustvoll spielt, ist ein garantierter Lacher.

In der Satire ist Ueli natürlich eine Lachnummer geblieben, als Parteipräsident mauserte sich Maurer aber zu einem Schwergewicht. Unermüdlich trieb er das SVP-Volch an und war sich nicht zu schade, jährlich an 250 Abendveranstaltungen teilzunehmen. In den „Elephantenrunden“ im Schweizer Fernsehen zog er vom ersten Moment an ein Powerplay auf, dem die anderen Parteipräsidenten selten etwas entgegenhalten konnten.

Als SVP-Präsident markierte Maurer zwölf Jahre lang den harten Hund. Der Wechsel zum Bundesrat gelang ihm 2009 problemlos. Er gab sich sehr kollegial und verschwand auf dem Radar der Medien. Ich behaupte: bewusst. Maurer wollte sich fernab des Scheinwerferlichts einarbeiten, die Feinmechanik der Bundespolitik noch besser durchschauen – und in Ruhe das „Big Game“ vorbereiten. Das Spiel heisst: Aufstockung des Armeebudgets und Beschaffung neuer Kampfflugzeuge.

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Was vor fünf Jahren mit dem kühnen Schachzug eines Grossmeisters begann, ist jetzt auf der Zielgeraden. Maurer beantragte der Landesregierung damals, keine neuen Kampfjets zu beschaffen. Diese machten nur Sinn, wenn auch das Armeebudget auf fünf Milliarden Franken erhöht werden könne. Die Verblüffung bei Armeefreunden und -gegnern war gross, die Provokation des cleveren Machtarchitekten begann Wirkung zu entfalten. Sie führte zu einem Comeback der alten Seilschaften, die bewaffnete Neutralität und eine starke Armee sind wieder en vogue, das Weltbild des Verteidigungsministers hat sich durchgesetzt.

Natürlich, die Kampagne der Gripen-Befürworter wurde die letzten Monate von Pannen und Fettnäpfchen begleitet. Bei Lichte betrachtet sind der Plan B von Pilot und SVP-Nationalrat Thomas Hurter, Maurers Ausraster in der SRF-„Rundschau“ oder die undiplomatischen Äusserungen des Schwedischen Botschafters allerdings nur Nebenschauplätze. Für die Abstimmung vom 18. Mai haben sie kaum Bedeutung, und das weiss der instinktsichere Maurer. Zentral ist die Mobilisierung und deshalb bestreitet er im Abstimmungskampf vor allem Heimspiele. Die Leute der Armee-Schweiz amüsieren sich über seinen dämlichen Frauenwitz, den er zum Besten gibt. Solche Dummheiten haben System: Maurer füttert damit die Medien. Publizität ist alles, das hat Maurer schon in den Neunzigerjahren erkannt. Oder glauben Sie im Ernst, er schiesse solche “Böcke”? Dass man ihm Tollpatschigkeit und anderes unterstellt, ist er sich seit bald 20 Jahren gewohnt; das lässt ihn kalt.

Dank seinem gerissenen Plan hat sich eine Phalanx von Offizieren, konservativen Sicherheitspolitikern, Flugzeugfans, kalte Kriegern und Schützenvereinen formiert. Sie haben den Auftrag verinnerlicht und marschieren.

Maurer war der erfolgreichste Parteipräsident seit Jahrzehnten. Als Bundesrat dürfte ihm mit der Gripen-Abstimmung sein grösster Sieg gelingen. Er geht als Meister am Schachbrett in die Geschichtsbücher ein, während uns andere mit einem 15-sekündigen „Bü-bü-Bündnerfleisch!“-Lacher in Erinnerung bleiben.

Mark Balsiger

Dieser Text entstand auf Anfrage der “Aargauer Zeitung”/”Die Nordwestschweiz”, die ihn heute in einer leicht gekürzten Version publizierte.

Fotos:
– Ueli Maurer, Limmattalerzeitung
– Gripen, gripen.com

Ein P.S. zu Wahlkämpfer Beat Zoss

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Die mobilen Plakatständer wurden längst abtransportiert, die “Analysen” gemacht, das Wundenlecken geht jetzt in einen langsamen Prozess des Vergessens über. Der Berner Wahlkampf 2014 ist Geschichte. Darum schiebe ich ein P.S. nach.

Woran werden wir uns erinnern – in drei Monaten, im nächsten Herbst, in vier Jahren? Der Verdacht liegt nahe: an nichts, nada, die Festplatte auf dem Hals ist zu diesem Schlagwort leer. Dafür waren die letzten Monate schlicht zu langweilig, der Wahlausgang absehbar.

Vielleicht konnte sich aber Beat Zoss, der virtuelle Regierungsratskandidat der BZ-Redaktoren Stefan von Bergen und Christoph Aebischer ins Langzeitgedächtnis schmuggeln. Der überdrehte Bünzli, gespielt vom Berner Künstler Matto Kämpf, war ein Farbtupfer im Einheitsgrau der Berner Wahlen. Er sorgte mit seinen zuweilen klamaukigen Aktionen für Erheiterung, aber auch Kopfschütteln. Dass dieses Experiment mit heftiger Kritik eingedeckt werden dürfte, sagte ich schon am Tag der Lancierung voraus. Nichts weniger als die Demokratie sah man gefährdet.

Wer Zoss eine Chance gab und die Satire ausblendete, konnte mitverfolgen und lernen, was Wahlkampf bedeutet: Unterschriftensammeln, Social-Media-Kanäle füttern, ein Unterstützungskomitee zusammenstellen, Familie und Golden Retriever vor die Linse locken, bei einer Stilberaterin Tipps für das richtige Outfit einholen (Bild unten), und Veranstaltungen über sich ergehen lassen, bei denen mehr Leute auf dem Podium sitzen als im Saal. Kurz: ein Marathon.

Genau deshalb finde ich das Experiment wertvoll. Kandidatinnen und Kandidaten könnten sich in Zukunft an einzelnen Elementen der Zoss-Kampagne orientieren. Er hatte eine überzeugende Website, bei den Fotos waren Profis am Werk, auf Facebook und Twitter meldete er sich stetig zu Wort. Bleibt zu hoffen, dass seine Profile möglichst lange online bleiben.

Mark Balsiger


Die Profile von Beat Zoss im Netz:

Website
Facebook-Page
Twitter

Weitere Hintergründe:

Wie Beat Zoss den realen Berner Wahlkampf wachgeküsst hat
(Berner Zeitung BZ, 5. April 2014)
Wie Kämpf den Zoss machte (Interview; BZ, 5. April 2014)

Foto Beat Zoss: Beat Mathys/BZ

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P.S.  Für mich hat dieses Zoss-Video schon jetzt Kultstatus. Es kommt in dieselbe Liga wie Emils Nummer “Der Wahlverlierer” (im Netz leider nicht auffindbar).

Ob Perrenoud oder Bühler ist gehupft wie gesprungen, das Hauptproblem bleibt

Seit nunmehr acht Jahren wird Berns Gesundheits- und Fürsorgedirektor Philippe Perrenoud (sp) von seinen politischen Gegnern attackiert. Dabei steckte er die Schläge wie ein Boxer ein, kam mehrfach ins Taumeln, zu Boden ging er aber bislang noch nie. Keine Zweifel: Dieser Mann hat Nehmerqualitäten. Die Kritik an seiner Amtsführung ist oft berechtigt, meistens parteipolitisch motiviert und zuweilen bloss dumpfbackig.

manfred_bühler_250_derbundDer Versuch, die rot-grüne Mehrheit in der Berner Regierung zu stürzen, scheiterte heute zum zweiten Mal. Perrenoud wurde trotz aller Kritik und einer schwachen Performance ganz knapp wiedergewählt, das geometrische Mittel machte schliesslich mit 954 Stimmen den Unterschied aus. Manfred Bühler (svp,  Foto links), der für den „Umschwung“ der Bürgerlichen verantwortlich gewesen wäre, schnitt trotz einem defensiven Wahlkampf im gesamten Kanton überraschend gut ab. Die Bernjurassier gaben allerdings Perrenoud den Vorzug, und genau dieser Berner Jura war ja der “Battleground”.

Perrenoud wird sein Ergebnis mit stiller Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Gratulieren darf man aber Bühler: Er hätte als neuer Gesundheitsdirektor an den riesigen Erwartungen nur scheitern können. Die Lebensqualität als Fürsprecher, Grossrat und Motocrossfahrer ist deutlich höher.

In einem durch und durch bürgerlichen Kanton setzt sich die rot-grüne Regierungsmehrheit durch, wenn auch nur mit Hilfe des höchsten geometrischen Mittels. Was sagt uns dieses Wahlresultat?

BDP, FDP und SVP haben es nicht geschafft, zwei der drei grossen „P“ zu erarbeiten und dem Volk schmackhaft zu machen: Programm und Personal. Diese Faktoren hätten die bürgerliche Wende ermöglicht. Der Wille, diese Wende herbeizuführen, war in den letzten Monaten zu wenig spürbar. Würden die Young Boys so spielen, wären sie längst in die Amateurliga abgestiegen.

philippe_perrenoud_250_rtsDie Fortführung der „Cohabitation“ – linke Regierungsmehrheit, bürgerlich dominierter Grosser Rat – hat eine bequeme Komponente. Die Kritiker im Parlament können so weitermachen wie in den letzten acht Jahren, „gäng wie gäng“, Perrenoud (Foto rechts) bleibt eine dankbare Zielscheibe und auch sonst kann man bei Bedarf die linke Regierung brandmarken.

Auch in der nächsten Jahren stehen opfersymmetrisch geschnürte Sparpakete im Zentrum. Die tiefgreifenden strukturellen Probleme des Kantons schiebt man hingegen weiter vor sich her. Die Regierungsrätinnen und Regierungsräte sind zu stark vom Alltagsgeschäft absorbiert, die meisten Grossräte agieren vor allem als Interessenvertreter ihrer Region. Politik, die gestaltet und das „Big Picture“ im Fokus hat, sieht anders aus.

Offensichtlich kann der Kanton Bern seine Vergangenheit nicht abschütteln: Schon in den 1920er-Jahren begann sich die Unsitte der Subventionsjägerei durchzusetzen. Von 1929 bis 1979 stellte die SVP und ihre Vorläuferpartei, die BGB, immer einen Bundesrat – von Rudolf Minger bis Rudolf Gnägi. Das erleichterte den Zugang zur Bundesverwaltung und den Honigtöpfen. Wer wollte schon gegen den Bauernstand sein, als ringsum Krisen und Kriege ausbrachen? Dieses Handeln wurde quasi zur DNA des Kantons, er verschlief die weiteren Wellen der Industrialisierung, für den nationalen Flughafen in Utzenstorf (anstelle von Zürich-Kloten) mochte die allmächtige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) nicht kämpfen, Bern blieb ein Agrarkanton. Selbstgerechtigkeit und das Verwalten von Pfründen haben ihn träge gemacht.

Fazit: Es ist gehupft wie gesprungen, ob Perrenoud oder Bühler in der Kantonsregierung sitzt. Viel wichtiger wäre es, dass sich ein paar starke Figuren aus Politik und Verwaltung auf einen Weg mit Zukunft einschwören könnten. Bis der Aufbruch im Kanton Bern beginnt, kann es dauern, noch haben viele Akteure den Ernst der Lage nicht erkannt. Womöglich wird sogar YB vorher noch Schweizer Meister.

Mark Balsiger

Ein ausgezeichneter Text zum selben Thema publizierten die beiden BZ-“Zeitpunkt”-Autoren Jürg Steiner und Stefan von Bergen am letzten Freitag, ausnahmsweise im “Tages-Anzeiger”.


Weitere Abstimmungskommentare:

– NZZ: Bern ohne neuen Impuls (Daniel Gerny)
– Berner Zeitung: Bern wählt den Stillstand (Peter Jost)

Fotos:
– Philippe Perrenoud: derbund
– Manfred Bühler: rts