«Marco Chiesa hat ein Winner-Image»

Seit vielen Monaten ist die SVP Schweiz auf der Suche nach einem neuen Präsidenten oder einer Präsidentin. Die Ankündigung des bisherigen Amtshabers Albert Rösti hat die Partei offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Die Suche verläuft schleppend, die allermeisten Angefragten winkten ab.

Übrig blieben schliesslich die beiden Nationalräte Andreas Glarner (AG) und Fredi Heer (ZH). Bis gestern Abend, als die Findungskommission einen neuen Namen präsentierte: Marco Chiesa. Der Tessiner ist seit 2015 in Bundesbern, zuerst als Nationalrat, im letzten Herbst wurde er in den Ständerat gewählt. Er wird der Delegiertenversammlung vom 22. August vorgeschlagen. «20-Minuten»-Redaktor Claudius Seemann stellte mir zu Chiesa ein paar Fragen. Nachfolgend wird dieses Interview integral übernommen.

Herr Balsiger, der Tessiner Ständerat Marco Chiesa soll auf SVP-Chef Albert Rösti folgen. Hätten Sie mit Chiesa als Favorit gerechnet?

Mark Balsiger: Aus Deutschschweizer Sicht ist die Nomination überraschend – vor allem, weil Chiesa bisher kein bekannter Kopf in der Partei war. Auch ist er bei einem zentralen Geschäft noch nicht als Schlüsselfigur der SVP-Fraktion in Erscheinung getreten. Ich sehe die Nomination aber vor allem als Misstrauensvotum gegenüber Alfred Heer und Andreas Glarner.

Warum?

Die Kandidaturen von Heer und Glarner sind parteiintern nicht auf überbordende Begeisterung gestossen. Die Findungskommission hat deshalb einige andere Exponenten vermutlich sogar mehrfach angefragt. Doch die Wunschkandidaten haben alle abgesagt. Nun schlägt sie Chiesa vor, obwohl er eine Kandidatur im Februar noch abgelehnt hatte.

Marco Chiesa ist den meisten Deutschschweizern kaum ein Begriff. Warum hat die SVP an ihm den Narren gefressen?

Chiesa hat dank der Wahlen im letzten Herbst das Image eines Winners: So wurde er überraschend zum Tessiner Ständerat gewählt und hat CVP-Urgestein Filippo Lombardi verdrängt. Das war auch insofern überraschend, weil das rechte politische Spektrum im Tessin seit bald 40 Jahren von der Lega geprägt wird –die SVP ist eine Kleinpartei mit einem Wähleranteil zwischen fünf und zehn Prozentpunkten. Mit Chiesa hat die SVP zudem einen Kandidaten, der dreisprachig ist.

Hat die SVP mehr als andere Parteien einen Winnertyp nötig?

Albert Rösti ist ein kluger Kopf und «gmögig», aber als Parteipräsident startete er nicht durch. An der SVP-Basis sehnt man sich nach einem neuen Toni Brunner, der den harten Hund markiert, wenn es drauf ankommt, sonst aber gerne das «Chalb» macht. Die SVP hat eine klare Hierarchie, die Basis ist disziplinierter als bei anderen Parteien – deshalb ist die Rolle des Präsidenten wichtiger als anderswo.

Marco Chiesa gilt als Hardliner, fiel aber bisher nicht gross auf. Wird er den Schalter als Parteipräsident plötzlich kippen?

Was ich von ihm bisher wahrgenommen habe, ist, dass er weitgehend linientreu politisiert und eine umgängliche Art hat. Er scheint mir nicht eine Person zu sein, die verbal draufhaut. Doch das könnte sich ändern, wenn er an der Parteispitze steht und Verantwortung übernehmen muss. Schliesslich muss er seine Basis bei Laune halten, die Partei will wieder zulegen.

Welche Rolle spielt seine Tessiner Herkunft für die Partei?

Die Herkunft des Parteipräsidenten kann durchaus einen Einfluss haben. Mit einer Tessiner Kandidatur erhofft sich die SVP sicher auch, in der lateinischen Schweiz zuzulegen. Auf diese Karte setzte man bereits 2015 nach der Wahl von Guy Parmelin in den Bundesrat. Doch damals blieb ein Effekt aus.

Was kommt jetzt auf Chiesa zu?

Für ihn gilt es nun, die Basis in den Kantonen zu besuchen und von sich zu überzeugen. Chiesa ist mit seinen 45 Jahren auch noch jung und muss nicht nur an Bekanntheit, sondern auch an Statur und Präsenz gewinnen. Das ist ein Knochenjob. Denn die graue Eminenz der Partei – also Christoph Blocher – muss auch von ihm überzeugt sein. Welche Verbindungen Chiesa zu Herrliberg hat, kann ich nicht beurteilen.

Die SVP hat bei den letzten Wahlen Wählerprozente verloren, was ein Rücktrittsgrund von Albert Rösti war. Kann Chiesa die SVP wieder auf Kurs bringen?

Der Erfolg einer Partei lässt sich nicht nur am Präsidenten festmachen. Natürlich braucht es eine Führungsfigur, und diese wünscht man sich gerade bei der SVP. Doch der Erfolg einer Partei hängt auch davon ab, welche Themen die Leute gerade beschäftigen: Die Hauptthemen der SVP – Ausländer, Asyl und Migration – sind in den letzten Jahren jedoch in den Hintergrund gerückt.

Weshalb die CVP beim Rytz-Poker nicht mitmacht

Rund vier Wochen nach dem historischen Wahlerfolg herrscht Klarheit: Grünen-Präsidentin Regula Rytz kandidiert für den Bundesrat. Ihr erster Satz vor den Medien heute Nachmittag lautete: «Ich bin bereit.»

Zu ergänzen ist: Rytz musste bereit sein.

Ihre Partei legte am 20. Oktober um 6.1 Prozentpunkte zu, sie überholte die CVP und ist neu die viertstärkste Kraft. Das weckt Erwartungen. Der Anspruch ist legitim und so ist er nur logisch, dass jemand ins Bundesratsrennen steigt. Klar, dass es nach Möglichkeit eine Frau sein soll. Der Kreis an bekannten und profilierten Politikerinnen ist allerdings sehr klein.

Aus diesem Grund liegt die Kandidatur von Rytz auf der Hand. Sie repräsentiert die beiden grossen Themen dieses Jahres, den Klimawandel und den Frauenstreik. Sie ist das sympathische und glaubwürdige Gesicht der Grünen. Rytz hat massgeblichen Anteil am Wahlerfolg ihrer Partei und sie hätte das Zeug, um eine gute Bundesrätin zu werden. Sie verfügt über mehr Führungserfahrung als die meisten Mitglieder der Landesregierung, bevor diese gewählt wurden. Des Weiteren hat Rytz eine hohe Sozialkompetenz, sie ist klug, enorm fleissig und pragmatisch.

Solche Faktoren spielen bei Bundesratswahlen keine zentrale Rolle. Wichtig sind hingegen die Konstellation, das Parteibuch und die regionale Herkunft.

Rytz’ Kampfkandidatur richtet sich gegen Aussenminister Ignazio Cassis, den die Linken nicht mögen und andere hinter vorgehaltener Hand kritisieren. Seine Basis in der Vereinigten Bundesversammlung ist allerdings gross: FDP und SVP haben sich bislang 101 Sitze gesichert. (Am kommenden Sonntag finden noch zweite Wahlgänge in AG, BL und SZ statt; insgesamt sind noch vier Sitze zu vergeben.) Dazu kommt, dass die Abwahl eines amtierenden Bundesrats nicht zur Konsenskultur der Schweiz passt. In den letzten 171 Jahren wurden nur drei Bundesratsmitglieder nicht mehr gewählt (Ulrich Ochsenbein, 1854, Ruth Metzler, 2003, Christoph Blocher, 2007.) Die Verwerfungen von 2003 und 2007 sind bis heute spürbar, und das schreckt ab.

Für eine Wahl bräuchte Rytz eine solide Allianz von Grünen, SP, GLP sowie mindestens der Hälfte der CVP-EVP-BDP-Fraktion. Ob die Grünliberalen mitziehen, ist komplett offen. Bei der CVP könnten einige Mitglieder Gefallen daran finden, den Freisinnigen «einen hineinzubremsen» und noch mächtiger zu werden. Die CVP ist das Zünglein an der Waage im Ständerat und in der neuen Legislatur auch im Nationalrat. Mit einer grünen Bundesrätin wäre Viola Amherd die starke Figur in der Mitte, die fallweise mit links oder rechts umstrittenen Geschäften zum Durchbruch verhelfen könnte.

Die CVPler werden diesen Verlockungen aus guten Gründen widerstehen: Im Frühling 2020 finden in Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Uri kantonale Wahlen statt. In allen vier Kantonen hat die CVP kräftige Strukturen und viele Sitze zu verteidigen. Ein Schwenk der Bundeshausfraktion zur grünen Kandidatin würde in diesen konservativ-bürgerlich geprägten Kantonen zu einer Abstrafung an der Urne führen. Das kann sich Gerhard Pfisters Partei, die gerade noch 11.4 Prozentpunkte auf sich vereint, nicht leisten. Entsprechend macht die CVP beim Poker der Grünen nicht mit, die Kampfkandidatur der Grünen wird am 11. Dezember auflaufen.

Die Kampfansage von Rytz ist allerdings für die Grünen und ihre Basis sehr wichtig. Das hält deren Themen im Gespräch und die Nichtwahl gibt ihnen in den kommenden vier Jahren die Möglichkeit, immer wieder Druck zu machen. Wenn sie bei den eidgenössischen Wahlen 2023 ihr Ergebnis bestätigen und ein Rücktritt aus dem Bundesrat vorliegt, wird es sehr schwierig werden, ihnen den Zugang in die Landesregierung zu verwehren.

Die SVP liebäugelt angeblich damit, Rytz anstelle von Simonetta Sommaruga zu wählen. Ein solches Manöver hat keine Chance, zumal Rytz bereits klarmachte, dass sie bei diesem Spiel die Wahl nicht annehmen würde. Dazu muss man die Reihenfolge der Bundesratswahlen am 11. Dezember in Betracht ziehen. Diese wird nach dem Amtsalter abgewickelt, dem sogenannten Ancienitätsprinzip:

– 1. Ueli Maurer (SVP)
– 2. Simonetta Sommaruga (SP)
– 3. Alain Berset (SP)
– 4. Guy Parmelin (SVP)
– 5. Ignazio Cassis (FDP) >>> Angriff Regula Rytz (Grüne)
– 6. Viola Amherd (CVP)
7. Karin Keller-Sutter (FDP)

Schliesslich: was sagt eigentlich die Bundesverfassung zu den «Ansprüchen» auf Bundesratssitze:

Bern bevorzugt eine parteipolitische Balance

Vier Wochen lang träumten viele Linke im Kanton Bern von einem rot-grünen Ständeratstandem. Die Resultate im ersten Wahlgang liessen das zu: der Bisherige Hans Stöckli (Foto rechts) ging als erster über die Ziellinie, dicht hinter ihm folgte bereits die Grünen-Präsidentin Regula Rytz – eine riesige Überraschung.

Die Reaktion kam heute, und sie war deutlich: Das ländlich-konservative Bern mobilisierte im zweiten Wahlgang viel besser, das Ticket mit Christa Markwalder (FDP) und Werner Salzmann (SVP, Foto links) funktionierte gut. Die freisinnige Nationalrätin aus Burgdorf, selber chancenlos, weil sie eine zu kleine Hausmacht hat, machte Rytz viele Stimmen aus der politischen Mitte abspenstig.

Die Strategie von SVP und FDP mit dem bürgerlichen Ticket ging also auf. Wäre Salzmann alleine angetreten, hätte er die Wahl vermutlich nicht geschafft. Dass Markwalder letztlich Steigbügelhalterin für den SVP-Kantonalpräsidenten war, gehört zum Spiel und dürfte ihr von Anfang an klar gewesen sein.

Rytz konnte sich gegenüber dem ersten Wahlgang nur noch um 8.5 Prozentpunkte steigern, während die anderen rund 12 bzw. sogar 17 Prozentpunkte zulegten. Die grüne Kandidatin verlor zudem in den eigenen Reihen an Mobilisierungskraft: Im mit 290’000 Stimmberechtigten klar grössten Verwaltungskreis Bern-Mittelland, einer rot-grünen Hochburg, hatte sie Salzmann im ersten Wahlgang um fast 24’000 Stimmen distanziert. Heute waren es nur noch 18’000 Stimmen. Die Wahlbeteiligung sank dort von 52.2 auf 48.5 Prozent, was für einen rot-grünen Doppelerfolg nicht trivial ist. (Rytz holte nur noch 13.5 Prozent mehr Stimmen als beim ersten Wahlgang, Salzmann verbesserte sein Resultat hingegen um 36.7 Prozent.)

Das Berner Wahlvolk fungierte als Korrektiv auf die grüne Welle vom 20. Oktober. Es bevorzugt im Ständerat weiterhin eine parteipolitische Balance: Die Leute wollen einen Städter und einen Vertreter vom Land, einen moderaten Linken und einen strammen SVPler. Mit Stöckli und Salzmann sind die beiden grössten Parteien wieder im «Stöckli» vertreten. Das rotgrüne Lager kommt auf 30.9 Prozent, das nationalkonservative Lager mit SVP und EDU auf rund 32.5 Prozent. (Die Differenzen zwischen FDP und SVP sind beträchtlich. Gerade auf der nationalen Ebene heisst der Elefant im Raum: Europa.)

Die Kantonalberner SP und Hans Stöckli konnten das Schreckensszenario «Abwahl» abwenden, das wochenlang herumgegeistert war. Stöckli wäre statt Ständeratspräsident in spe zum Rentner geworden. Im Vorfeld wurde spekuliert, dass Regula Rytz mit ihrem Lauf als grosse Siegerin Stöckli überholen könnte. Bei einem Duo Rytz/Salzmann wäre der Haussegen zwischen Roten und Grünen schief gehangen.

Schliesslich zu meinem neuen Prognosemodell (siehe unten): Der Zieleinlauf stimmt nach den Ständeratswahlen in Bern und Aargau vom 20. Oktober zum dritten Mal in Folge. Die prognostizierten Prozentzahlen weichen allerdings von den Resultaten deutlich ab. Das hat zwei Gründe: Ich ging, erstens, von einer deutlich tieferen Wahlbeteiligung aus. Zweitens war ich sicher, dass viele Leute aus taktischen Gründen nur einen Namen auf den Zettel schreiben würden. Die Analyse zeigt das Gegenteil: pro Wahlzettel wurden 1,73 Namen aufgeführt. Beim ersten Wahlgang waren es sogar 1,75 Namen gewesen.

Das Prognosemodell muss also verbessert werden. Der vierte Realitätscheck folgt am nächsten Sonntag im Kanton Aargau.

Über die Performances des Parteien

Bei Nationalratswahlen in der Schweiz fand einmal eine Revolution statt. Das geschah 1919 bei der Einführung des Proporzwahlsystems. Die zuvor allmächtigen Freisinnigen verloren damals die absolute Mehrheit in der grossen Kammer (minus 43 Sitze, neu noch 60), die SP konnte ihre Deputation auf einen Schlag fast verdoppeln (neu 41), die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, die heutige SVP) holte 27 zusätzliche Sitze.

Der Ausgang der gestrigen Wahlen hat die Schweiz parteipolitisch umgepflügt, das Wort «historisch» ist schon oft gefallen. Es ist zugleich eine Klimawahl und eine Frauenwahl. Der Frauenanteil im Nationalrat stieg markant und knackte erstmals die 40-Prozent-Grenze. Dieses Plus von 10 Prozent ist grossartig!

Die grüne Welle wurde grösser als vorhergesagt, viel grösser: Die Grünen legen um 6.1 Prozentpunkte und 17 Nationalratssitze zu – Zweiteres ist ein neuer Rekord in 100 Jahren Proporzwahlrecht. Die Grünliberalen wiederum gewinnen 3.2 Prozentpunkte bzw. 9 Sitze hinzu.

Verloren haben alle Bundesratsparteien, aber auch die BDP und die Demoskopen. Betrachten wir die Resultate und Performances der einzelnen Parteien etwas genauer. Zunächst aber eine Grafik, die die Parteistärken in Prozentpunkten inkl. den Verschiebungen zu 2015 zeigt:

Die SVP bleibt in einem Formtief. Was sich seit fast drei Jahren bei kantonalen Wahlen zeigt, akzentuierte sich gestern. Sie verlor mit 3.8 Prozentpunkten mehr, als sie 2015 zugelegt hatte. Die Themenkonjunktur spielte nicht für sie, viele Supporter blieben der Urne fern, was auch Demobilisierung genannt wird. Die Volkspartei bleibt aber mit Abstand die stärkste Kraft.

Die SP verliert 2 Prozentpunkte, was sich aufgrund der Umfragen nicht abgezeichnet hatte. Statt der 20-Prozent-Marke wieder näher zu kommen, ist die Partei auf einem historischen Tiefststand gelandet. Noch nie seit der Einführung des Proporzwahlsystems schnitt sie so schlecht ab, noch nie zuvor hat sie weniger als 40 Sitze erobert. Was Öko-Themen betrifft, ist die SP praktisch deckungsgleich mit den Grünen positioniert. Aber die Wählerschaft belohnt sie nicht dafür, sondern wählt das grüne Original. Noch liegt die Wählerstromanalyse nicht vor. Für mich ist aber klar, dass die SP nicht nur an die Grünen verlor, sondern auch an die Grünliberalen.

Im letzten Winter wechselten die beiden Zürcher Nationalratsmitglieder Chantal Galladé und Daniel Frei von der SP zur GLP, was in den Medien grosse Welle schlug und intern für böses Blut sorgte. Offensichtlich machten ihnen das gestern auch viele Wähler nach, nicht zuletzt wegen des Rahmenabkommens, das die GLP in der vorliegenden Form begrüsst, während die SP herumeiert.

Vor vier Jahren schaffte es die FDP, den Abwärtstrend, der 1983 eingesetzt hatte, zu stoppen. Bei den kantonalen Wahlen legte sie drei Jahre lang fast überall kräftig zu. Im letzten Januar setzte der Richtungsstreit zur Klimapolitik ein und es dauerte bis im Sommer, bis die neue Position konsolidiert war. Offene Konflikte während eines Wahljahres sind ein Horrorszenario für jede Partei, die FDP bezahlte gestern den Preis dafür. Ihr Wähleranteil ist so tief wie nie zuvor. Sie dürfte Wählerinnen und Wähler an die GLP wie an die SVP verloren haben.

Die Grünen feiern einen epochalen Sieg; sie sind die neue Nummer 4 und lassen die CVP hinter sich. Das gibt Schwung, gerade auch für die zweiten Wahlgänge im Ständerat. Klar ist auch, dass die Zusammensetzung des Bundesrats wieder aufs Tapet kommt. Nach der gängigen Zauberformel könnten die Grünen den Sitz der CVP übernehmen, allein: Neo-Bundesrätin Viola Amherd wollen sie nicht angreifen. Dafür vielmehr den ungeliebten Ignazio Cassis.

Nachdem die Grünen in den letzten drei Jahren vor allem in der Romandie massiv zulegten, ritten sie die Klimawelle geschickt. Sie holten zweifellos am meisten Erst- und Neuwählerinnen ab. Diese wählten ein Gefühl. Das Gefühl, etwas für den Klimawandel zu tun. Dass die Grünen wieder zulegen, sagte ich schon am Tag nach den Wahlen 2015, wie der Schlussabschnitt aus den Tamedia-Zeitungen vom 19. Oktober 2015 zeigt:

In den letzten 40 Jahren hat sich das Elektorat der CVP fast halbiert. Dass die Christlichdemokraten auch dieses Mal verlieren würden, galt allseits als klar, die psychologisch wichtige 10-Prozent-Marke drohte zu fallen. Das Minus von 0.2 Prozentpunkten bzw. 2 Sitzen ist eine der grossen Überraschungen des gestrigen Tages (Zählt man die CSP Obwalden hinzu, sind es 3 Sitze.) Die Strategie der CVP, in ihren ehemaligen Hochburgen wieder zuzulegen – zulasten der SVP, die das konservative Klientel in den Neunzigerjahren eroberte hatte –, ging nicht auf. Tröstlich ist, dass die Partei von Gerhard Pfister in den nächsten vier Jahren wieder die Rolle der Mehrheitsbeschafferin übernehmen kann. Rechts sind FDP und SVP auf die CVP angewiesen, für Mitte-links-Allianzen braucht es ihre Stimmen genauso, wie die nachfolgende Grafik zeigt:

Die Grünliberalen sind die zweiten Sieger des gestrigen Tages. Die Partei positioniert sich als radikalliberale Kraft, die vor allem im urbanen Raum viel Zulauf hat. Die Kombination von Öko-Themen und europapolitischer Offenheit kommt bei vielen gut Ausgebildeten an. Die GLP dürfte aber auch Wechselwähler von FDP und SP abgeholt haben. 7.8 Prozentpunkte ist für sie ein neuer Höchststand. In den Kantonen Basel-Stadt und Genf holte sie zum ersten Mal ein Nationalratsmandat, in St. Gallen und Luzern eroberte sie sich das Mandat, das sie 2015 verloren hatte, wieder zurück.

Die BDP hatte ihre kurze Blütezeit in den Jahren 2011 und 2012. Seither geht es abwärts, die Neupositionierung als progressive Kraft bemerkte kaum jemand, Ende 2015 trat schliesslich ihre Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf zurück. Ohne deren Kopf und Einfluss wurde es für sie noch schwieriger, auf dem Wählermarkt um Aufmerksamkeit zu buhlen. Mit der Abwahl ihrer Nationalräte in den Kantonen Aargau (Bernhard Guhl), Bern (Heinz Siegenthaler), Graubünden (Duri Campell) und Zürich (Rosmarie Quadranti) schrumpft ihre Deputation auf drei Nationalräte. Damit verpasst sie die Fraktionsgrösse (mindestens fünf Mitglieder in einer Kammer), die Geld, Kommissionssitze, Einfluss und damit Profilierungsmöglichkeiten bringt. Die BDP dürfte 2023 auf der nationalen Ebene verschwinden. Die nächsten vier Jahre werden die drei verbleibenden BDP-Nationalräte in der CVP-Fraktion Unterschlupf finden – genauso wie das Trio der EVP.

Ein Blick ins Wahljahr 2023: Dass die Parteien, die das Wort «grün» im Namen tragen, ihre Erfolge bestätigen können, glaube ich nicht. Es braucht viel Zeit und Energie, um Parteistrukturen auszubauen und Macht zu binden. Einige ihrer Kandidatinnen und Kandidaten wurden gestern von der grünen Welle ins Parlament gespült. Ihnen fehlen die Verankerung und die politische Erfahrung, um sich dort halten zu können. Es ist aber möglich, ja zu hoffen, dass das Parlament viele ihre Themenschwerpunkte systematisch vorantreibt. Die dramatische Entwicklung des Klimas lassen keine weiteren verlorenen Jahre mehr zu.

Und damit wende ich mich den Berichten und Kommentaren der Tageszeitungen zu – die Kanne Kaffee steht auch bereit. Ein Ritual nach Wahltagen.

Mark Balsiger

Der Wahlkampf wird hybrid

Auch heute Morgen standen ambitionierte Kandidatinnen und Kandidaten in den Bahnhöfen und verteilten Flyer. Sie tun das seit Wochen unermüdlich. Wer zusätzlich ein Schöggeli oder Öpfeli abgibt, kommt bei den Pendlern etwas besser an. Viele Flyer landen trotzdem auf dem Boden oder im Abfalleimer. Abends füttern die Kandidierenden ihre Social-Media-Kanäle – mit Fotos ihrer Flyeraktionen und dem x-ten Aufruf: «Jetzt wählen! Hugo Hugentobler zweimal auf Ihre Liste!» Die Postings sind austauschbar, die Schlagworte und Slogans und Köpfe auf den Flyern sowieso. Wer kann sich beim Ausfüllen des Wahlzettels noch an Hugentobler erinnern? Eben – willkommen in der Schlussphase des Wahlkampfs 2019.

Was die Kandidaten in ihrer fiebrigen Betriebsamkeit tun, basiert auf dem Prinzip Hoffnung. Werbung ist flüchtig, Wahlwerbung oftmals einfallslos und durchsetzt mit handwerklichen Fehlern, es fehlt das Geld, um eine druckvolle Kampagne zu führen. Wenn die politische Grosswetterlage nicht das Top-Thema der eigenen Partei in den Vordergrund geschoben hat, verpuffen die meisten Anstrengungen. Wissenschaftliche Erhebungen zeigen, dass traditionelle Wahlwerbung eine sehr bescheidene Wirkung hat.

Journalistinnen und Politbeobachter sind sich einig: der Wahlkampf 2019 war flau. Doch Hand aufs Herz: das waren die früheren Ausgaben auch. Die Gründe liegen auf der Hand: Das Milizsystem und die bescheidenen Kampagnenbudgets der Parteien setzen enge Grenzen, Volksabstimmungen sind wichtiger als Wahlen, die ausgeprägte Konsenskultur dämpft die Lust auf den Angriff. Die Ad-hoc-Allianzen im Parlament wechseln von Geschäft zu Geschäft – da will man es sich mit niemandem verderben.

Der grösste Aufreger im Wahljahr 2019 war das Wurmplakat der SVP, gefolgt von der CVP mit ihrer Irreführung der User auf Google – zwei Metathemen. Und sonst? Seit Januar ist der Klimawandel omnipräsent, allerdings ging die Debatte darüber nicht substanziell in die Tiefe. Andere Themen hatten keine Chance oder wurden bewusst links liegen gelassen, der Frauenstreik blieb die grosse Ausnahme. Er und die Kampagne «Helvetia Ruft» führten dazu, dass der Frauenanteil bei den Nationalratskandidaturen erstmals die 40-Prozent-Grenze übertrifft.

Dass der Wahlkampf flau ist, hat aber auch andere Gründe: Die «Selects»-Studien der Universität Lausanne zeigen seit 2007, dass die SVP jeweils rund 80 Prozent ihrer Basis an die Urne bringt. Bei allen anderen Parteien liegt diese Quote deutlich tiefer. Hier setzen sie an und kümmern sich vor allem um die eigene Klientel, zumal das Potenzial der Wechselwähler sehr bescheiden ist.

Die Generalsekretariate der grossen Parteien generierten Datenbanken mit allen Mitgliedern und Sympathisierenden im Land. Diese werden regelmässig postalisch und per E-Mail bedient, was Nähe schafft.

Die FDP macht «Door-to-door»-Wahlkampf (Foto oben), der dank Daten, die mit einer App stetig aktualisiert werden, zielgruppenspezifisch wird. Freisinnige klingeln nur dort, wo sie Leute antreffen, die der Partei und ihren Werten nahestehen.

Der Haustür-Wahlkampf erlebt also ein Comeback: Er wurde betrieben, als CVP, FDP und SP noch Milieuparteien waren und genau wussten, in welchen Quartieren sie ihre eigenen Leute finden. In der Schlussphase läuft das, was in US-Wahlkämpfen seit Jahrzehnten Standard ist: Telefon-Marketing, und zwar ausschliesslich bei Parteimitgliedern und Sympathisanten (Foto unten). «Get out the vote!», heisst die Devise.

Bei der ersten Wahlkampagne, die ich als Campaigner begleitete, 2002/2003 war’s, wiederholte ich einen Satz immer wieder: «Sammelt Adressen – postalisch und E-mail!» Der Wert von Daten ist erkannt, inzwischen werden sie als «das neue Gold» bezeichnet. Was heisst das für die Schweiz: Für die nationalen Parteien wird der datenbasierte Wahlkampf zum Standard. Aussenwerbung, Inserate, Banner, Standaktionen usw. verschwinden deshalb aber nicht. Vielmehr entwickelt sich eine hybride Form des Wahlkampfs.

Das A und O eines effektiven Personenwahlkampfs ist die präzise und personalisierte Ansprache der Wählersegmente, die einem gewogen sind, sowie von Bekannten und Nachbarn. Das funktioniert mit Newslettern, von Hand unterzeichneten Briefen, Facebook- und Instagram-Ads, kombiniert mit einem stetigen persönlichen Austausch. Der Dreiklang heisst Glaubwürdigkeit, Nähe und Identifikation.

– Glaubwürdigkeit: Wer die letzten drei Monate vor dem Wahltermin immer wieder «WÄHLT MICH, WÄHLT MICH!» schreit, kriegt sie sicher nicht. Kandidatinnen und Kandidaten müssen sie sich über Jahre hinaus erarbeiten. Mit Substanz und einprägsamen Hauptsätzen.

– Nähe: Der persönliche Kontakt ist in Bezug auf seine Qualität nicht zu toppen – vor der Haustüre, am Samstagmorgen auf dem Dorfmarkt, beim Bräteln mit Nachbarn, mit einer Grusssdresse während einer Vernissage. Jeder Händedruck, jeder Schwatz stärkt die Glaubwürdigkeit. Was auch Nähe herstellt, sind kurze Videos, weil so der Kandidat bzw. die Kandidatin spürbar wird.

– Identifikation: Potenzielle Wählerinnen und Wähler müssen sich grosso modo mit mehreren Themen des Kandidaten bzw. der Positionierung der Partei identifizieren.

Für den Dreiklang braucht es Zeit, Disziplin, Empathie und einen langen Atem. Das temporeiche Flyern in der Bahnhofsunterführung produziert keinen Dreiklang, sondern nur etwas: Abfall.

Mark Balsiger


>>> Dieser Text erschien, in einer etwas kürzeren Version, zuerst auf dem Online-Portal «Persönlich». Das Bildmaterial stammt von den Social-Media-Profilen einzelner Parteien und Politisierenden.

Die CVP betreibt Irreführung im grossen Stil

Die Verlockung, mithilfe des Internets mehr Aufmerksamkeit und neue Kunden zu erhalten, ist gross. So sind Trickser seit Monaten daran, mit Online-Inseraten, die sie jeweils mit dem Foto eines Prominenten wie zum Beispiel Medienpionier Roger Schawinski oder Fussballstar Xherdan Shaqiri ergänzen, auf ihre Websites zu locken. «Schawinski enthüllt die Wahrheit», wird dazu versprochen. Die Masche funktioniert, sonst wären diese Ads längst wieder verschwunden.

Seit heute Morgen versucht die CVP, auf ähnliche Weise zu mehr Aufmerksamkeit und bei den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober zu mehr Stimmen zu kommen: Wer bei Google nach Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien sucht, landet auf einer Werbeseite der CVP, bezahlte Werbung, sogenannte Google-Ads, machen das möglich.

Ein Beispiel: Wer im Kanton Luzern den Namen des dortigen FDP-Ständerats Damian Müller in die Suchmaske tippt, erhält zuobest in der Google-Auswahl diese Anzeige, wie dieser Printscreen belegt:


Natürlich, oben links steht «Anzeige»
, die Werbung ist also als solche deklariert. Erhebungen der letzten Jahre zeigen allerdings, dass die Surfer solche Hinweise im Netz meistens übersehen, man ist flüchtig unterwegs und will schnell zum Ziel kommen.

Wer also entdecken will, «wofür die FDP von Damian Müller steht» und auf den Link «Wahlen 2019 / Damian Müller / kandidaten2019.ch» klickt, wird auf eine Seite der CVP weitergeleitet. Dort erscheint die nachfolgende Information, die im Corporate Design der FDP gehalten sind. Allerdings kriegt die FDP hier ihr Fett ab:

Die Aufforderung
«Zeigt mir lieber echte Lösungen!» ist im CVP-Orange gehalten, und das irritiert womöglich sehr aufmerksame Surfer. «Was geht hier ab?», dürften sie sich fragen. Alle anderen machen einen weiteren Klick und dann landen sie bei den «echten Lösungen der CVP». Was die Christlichdemokraten mit dieser Kampagne betreiben, ist nicht Negative Campaigning, wie behauptet wird, sondern Irreführung. Mehrere Tausend Namen von parteifremden Kandidatinnen und Kandidaten werden auf Google für eigene Werbezwecke missbraucht. Dank Tracking-Tools können gleichzeitig auch noch Daten gesammelt werden. Schicklich ist ein solchen Vorgehen nicht.

Was die CVP tut, könnte rechtlich verfolgt werden, zum Beispiel wegen unlauterem Wettbewerb. Tatsache ist, dass die Partei gegen die Ads-Richtlinien von Google verstösst.

Dass potenzielle Wählerinnen und Wähler im Netz zuhauf die Namen von Kandidierenden googeln, trifft nicht zu, aber sie tun es. Clevere Kampagnenteams schalten bei Wahl- und Abstimmungskampagnen schon seit Jahren gezielt Ads auf Google, allerdings setzen sie vornehmlich auf Themen. Bekannt ist das nur in Insiderkreisen, der Fokus liegt bei Facebook, Twitter und, wegen des rasanten Wachstums, inzwischen auch bei Instagram.

«Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir»

Parteien beklagen sich seit Jahren über fehlende Resonanz in den Medien. Tatsächlich ist der Wettbewerb um Aufmerksamkeit entfesselt. Wer nicht schreit oder provoziert, wird oftmals nicht mehr wahrgenommen. Ueli Maurer erklärte das als Parteipräsident der SVP Schweiz einmal so: «Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir. Also sage ich: Neger! Neger! Neger!»

Womöglich findet es die SVP-Basis gut, wenn ihr Präsident Neger sagt. Doch funktioniert für andere Parteien, namentlich solche aus der staatstragenden Mitte, die Masche mit der Provokation? Konkreter: Was hat die CVP davon, dass ihr jetzt die volle Aufmerksamkeit zuteil wird? Mehr Stimmen am 20. Oktober, nachdem der Wählerschwund seit 1983 anhält?

Die Strategie könnte aufgehen, wenn die CVP innerhalb von 48 Stunden mit überzeugenden Inhalten nachlegt. Und wenn sie zugleich erklärt, dass die Google-Ads nur geschaltet wurden, um die volle Aufmerksamkeit der Medien zu generieren. Das wäre ein gerissener Plan.

Auf Twitter war heute diese Kampagne das Thema Nr. 1. Viele «Angeschossene» und Parteigänger ausserhalb der CVP nutzten die Chance, um diesen Fall zu skandalisieren. Einzelne sprechen von «Hetze», Nationalrat Marcel Dobler twitterte, die CVP habe das «Senfgas ausgepackt». Solche Einschätzungen sind komplett überzeichnet, sie zeigen aber exemplarisch, wie «Debatten» auf diesem Social-Media-Kanal befeuert werden. Kriegsrhetorik funktioniert.

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Heute habe ich der SRF-«Tagesschau» (hier der Beitrag in der Hauptausgabe von 19.30 Uhr) und der SRF-Online-Redaktion ein paar Fragen beantwortet:

SRF: Was bedeutet die Kampagne der CVP aus politischer Sicht?

Mark Balsiger: Dass eine Partei in der heissen Phase des Wahlkampfes ganz bewusst Irreführung betreibt, hat es in diesem grossen Stil noch nie gegeben. Es entspricht nicht der politischen Kultur. Man spürt aufgrund der Reaktionen, dass viel Nervosität im Wahlkampf ist. Viele Akteure haben etwas zu verlieren. Es ist allerdings nicht das harte Diffamieren des politischen Gegners wie bei einer typischen Negativ-Kampagne.

Die Kampagne wurde innert kürzester Zeit zum Top-Trend in der Schweizer Twitterszene. Das kann der CVP ja auch helfen?

Wenn der Absender von einem politischen Pol kommt, zum Beispiel von den Jungsozialisten oder der jungen SVP, die auch schon Bundesräte zum Rücktritt aufgefordert hatte, dann würde es zu einer Profilierung der Jungpartei führen. Wenn nun aber eine staatstragende Partei wie die CVP, die seit jeher antritt und sagt, wir halten das Land zusammen und sind das Scharnier in der Mitte, dann ist eine solche Kampagne unschweizerisch.

Kann dies für die CVP zum Bumerang werden?

Ja, denn schon diverse CVP-Mitglieder haben sich auf Twitter von der Kampagne distanziert. Gerade in der Endphase muss eine Partei schauen, dass ihre Kommunikation kohärent ist – und das ist sie hier nicht. Es kann also sein, dass gewisse Parteimitglieder demobilisiert werden. Dann gefährdet man am Schluss gar die 10-Prozent-Grenze.

Laut CVP dauert die Kampagne mehrere Tage. Ausserdem hat man versucht, solche Google-Anzeigen für praktisch jeden Kandidaten für die nationalen Wahlen 2019 zu machen. Das sind über 3000 Personen. Die CVP muss für jeden Klick bezahlen. Kommt das die Partei teuer zu stehen?

Das finanziell zu beziffern ist schwierig.

«Negative Campaigning» heisst also, mit einer Negativ-Kampagne den politischen Gegner zu schwächen. Das kennt man sonst eher aus den USA. Kommt das nun auch in der Schweiz?

Nein. Negative Campaigning lohnt sich dann, wenn es nur wenige Kandidaten gibt. Ausserdem funktioniert bei uns die politische Kultur anders. Bei diesem Fall handelt es aber auch nicht um Negative Campaigning, denn da müsste man jede Kandidatin und jeden Kandidaten bis ins Innerste durchleuchten. Hier wird nicht dramatisiert, sondern es werden einfach politische Positionen der Kandidaten verglichen.

Die Fragen stellte SRF-Redaktor Stephan Weber.

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Was Negative Campaigning ist, habe ich in meinem Buch «Wahlkampf statt Blindflug» (2014, als E-Book noch verfügbar) knapp zusammengefasst:

Nachtrag vom 22. September 2019: Der Karikaturist Chappatte setzt die «Offensive» der CVP mit einem klaren Strich um:

Weshalb die Grünen keinen Sitz im Bundesrat erobern werden

Keine Partei hat bei den kantonalen Wahlen seit Anfang 2016 ähnlich viele Sitze gewonnen wie die Grünen (42). Dieses robuste Wachstum wird seit geraumer Zeit auch im Wahlbarometer der SRG bestätigt. Gemäss der Umfrage, die gestern veröffentlicht wurde, erreichen sie 10.5 Prozentpunkte.

Das ist der Höchstwert der Grünen, die damit die CVP mit ihren 10.2% knapp hinter sich lässt. Reflexartig folgern nun viele Medien, dass nun eine grüne Vertretung im Bundesrat Tatsache werden könnte – etwa die Blätter von Tamedia:

Die Zauberformel, die seit 1959 (mit einer Pause zwischen 2008 und 2015) gilt, lautet, dass die drei grössten Parteien je zwei Sitze in der Landesregierung beanspruchen dürfen, die vierstärkste kriegt noch einen Sitz.

Ein Blick zurück zeigt, dass erstarkte Parteien nie sofort mit einem Bundesratssitz belohnt wurden:

– Bei den Nationalratswahlen 1999 wurde die SVP ex aequo mit der SP stärkste Partei (mit 22.5%), aber erst 2003 konnte sie sich den zweiten Sitz erkämpfen. Wir erinnern uns: Sprengkandidat Christoph Blocher verdrängte die bisherige CVP-Magistratin Ruth Metzler nach einem dramatischen Wahlherbst.

– Dank der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 konnte die SP ihre Sitzzahl im Nationalrat beinahe verdoppelt. Seit damals ist sie stets unter den drei grössten Parteien, aber erst 1943 wurde ihr der Einzug in den Bundesrat erlaubt (mit Ernst Nobs); sogar erst 1959 konnte sie sich einen zweiten Sitz ergattern.

– Die ersten Wahlen nach Proporz waren auch aus einem weiteren Grund revolutionär: Die Bauern- und Bürgerpartei, eine Abspaltung des Freisinns, erreichte 1919 auf Anhieb 15.3 Prozentpunkte und 30 Sitze im Nationalrat, war also auf einen Schlag die viertstärkste Partei im Land. Ihr Anführer war der legendäre Berner Rudolf Minger. Zehn Jahre später, also 1929, wurde Minger Bundesrat und seine Partei damit in der Landesregierung eingebunden. Im Verlaufe der Dreissigerjahre sammelten sich die verschiedenen kantonalen Bauern- und Bürgerparteien und einem neuen Namen: Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB; die BDP beruft sich gerne auf sie!). Er hatte bis 1971 Bestand, dann erfolgte die Umbenennung in Schweizerische Volkspartei (SVP).

Es gibt einen zweiten Grund, der gegen einen Grünen – oder eine Grüne – im Bundesrat spricht: Derzeit umfasst die grüne Fraktion (inkl. PdA) 13 Mitglieder. Sollte sie bei den eidgenössischen Wahlen zehn Sitze zulegen, was einem Erdrutsch gleich käme, hätte sie neu 23 Mitglieder. Die CVP-Fraktion (inkl. 2 EVP und 1 CSP) wiederum zählt zurzeit 43 Sitze. Verlöre sie zehn Sitze, käme sie noch auf 33 Sitze, wäre also immer noch deutlich stärker als die grüne Fraktion.

Selbst wenn die Grünen die CVP am 20. Oktober überholen sollten: Dass sich bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats im Dezember eine Mehrheit bildet, die den Grünen den Einzug in die Landesregierung ermöglicht, können wir ausschliessen. In seiner Konsequenz würde das bedeuten, dass die populäre Viola Amherd nach just einem Jahr bereits wieder weg wäre. Ausgerechnet sie, die einen guten Start hinlegte und im VBS kräftige Spuren zieht, was ihren beiden Vorgängern Ueli Maurer und Guy Parmelin nicht gelingen wollte. Freisinnige und SVP’ler wären für einen solchen Putsch nichts zu haben. Ihnen liegt Amherd – oder auch FDP-Cassis – viel näher als irgendjemand mit einem grünen Parteibuch.

Regula Rytz, die Parteipräsidentin der Grünen, weiss um die Gefahren und hält den Ball deshalb routiniert flach. Das Thema komme nach dem 20. Oktober aufs Tapet, vermeldete sie nüchtern.

Fazit: Der Wirbel um einen grünen Bundesratssitz haben die Medien entfacht. Möglich, dass die Grünen ab dem 20. Oktober mit dem Säbel rasseln werden. Aber am 11. Dezember wird die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung nicht ernsthaft zur Debatte stehen.

Vom Messerstecher-Inserat bis zum wurmstichigen Schweizer Apfel: Provokation funktioniert noch immer

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren. Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen.

Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in dieselbe Falle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU.

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Am Ende dieses Postings wird ein Sujet aus der antisemitischen Nazi-Zeitung «Der Stürmer» gezeigt. Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Dieselbe Bildsprache wurde bereits in den Dreissigerjahren verwendet

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.

Analogie zu den Dreissigerjahren: Die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» publizierte einmal dieses Sujet namens «Der Wurm». Es war gegen die Juden gerichtet.
Quelle: AZMedien/TeleM1

«Jede Partei möchte Prominente auf der Liste, die den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden»

Quereinsteiger gibt es schon lange immer wieder: In der Regel sind es Unternehmerinnen und Unternehmer, die den Sprung in die Bundespolitik versuchen, aber auch Medienleute und ehemalige Spitzensportler. Viele scheiterten dabei, anderen glückte es, etwa Johann Schneider-Ammann (1999, FDP), Matthias Aebischer (2011, SP) oder Roger Köppel (2015, SVP). Mit Tamy Glauser setzt ein Model zum Sprung in den Nationalrat an. «Blick» hat mir zu dieser Kandidatur ein paar Fragen gestellt. Das ganze Interview gibt’s aber nur hier.

Den Grünen ist ein Coup gelungen: Tamy Glauser, ein international erfolgreiches Model, kandidiert in Zürich für den Nationalrat. Was sagen Sie dazu, dass die Grünen sie zur Kandidatin nominiert haben?

Mark Balsiger: Am Anfang war es ein Flirt. Er wird seit Tamy Glauser bei den Bundesratswahlen im letzten Dezember dabei war medial begleitet. Mit ihrer Nomination ist die Sache nun ernster. Jede Partei wünscht sich, auf ihrer Nationalratsliste Quersteigerinnen und Quereinsteiger präsentieren zu können. Am liebsten solche, die zusätzliche Stimmen für die Liste holen, den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden.

Tamy Glauser ist eine klassische Quereinsteigerin in der Politik, sie hat nicht die Ochsentour von der Baukommission in einer Gemeinde bis in ein kantonales Parlament hinter sich, sondern will gleich auf Bundesebene einsteigen. Ist das ein Nachteil, oder ein Vorteil für Glauser?

Wählerinnen und Wählern gewichten politische Erfahrung stark. Das kann Tamy Glauser nicht bieten und dieser Malus wiegt schwer. Ein anderer Punkt: Gerade den Grünen ist es wichtig, dass Leute belohnt werden, die sich jahrelang mit grossem Engagement für die Partei eingesetzt haben. Deshalb erntet Glausers Kandidatur an der Basis der Grünen nicht nur Applaus, sondern wird auch skeptisch beurteilt. Einige Parteigängerinnen und Parteigänger werden ihren Namen auf der Liste streichen.

Ist ihr Status als Prominente ein Vor- oder ein Nachteil?

Erhebungen zeigen, dass ein grosser Bekanntheitsgrad zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren bei Wahlen gehören. Prominente generiert die Aufmerksamkeit der Medien, und Glauser bringt Glamour in den Wahlkampf der Grünen. Aber das alleine reicht noch lange nicht für die Wahl in den Nationalrat. Sie muss als kompetent wahrgenommen werden.

Was muss Tamy Glauser nun machen, um reale Chancen zu haben, im Herbst als Nationalrätin der Grünen gewählt zu werden?

Wenn sie sich sofort in die Politik kniet, in den wichtigsten Themen der Grünen sattelfest wird, ein schlagkräftiges Wahlkampfteam zusammenstellt und eine professionelle Kampagne fährt, wird ihre Kandidatur ernst genommen. Das schafft sie nur, wenn sie die nächsten fünf Monate voll auf die Karte Politik und Wahlen setzt. Das wird sie nicht tun. Ein anderer Aspekt: Glauser kriegte den Listenplatz 10 – eine clevere Entscheidung der Parteileitung. Von dort aus hat sie faktisch keine Wahlchancen, kann aber der Partei und deren Themen als öffentliche Figur zu mehr Publizität verhelfen.  

Kann oder soll sie weiter als Model, DJane und Teil von «Tamynique» auftreten?

Natürlich, Medienverleger, Gymnasiastinnen und Bauern kandidieren ja auch für den Nationalrat und bei ihnen stellen wir diese Frage nicht. Klar, Glauser stejt unter besonderer Beobachtung: Für viele Leute ist schon der Gedanke herausfordernd, dass ein Model politisieren will.

Tamy Glauser am Montagabend an der Nominationsversammlung der Grünen Zürich.

Inwiefern profitieren die Grünen nun von Tamy Glauser als Nationalratskandidatin – ihre Kandidatur ruft ja auch viele Kritiker auf den Plan?

Glauser ist eine glaubwürdige Vertreterin der LGBT-Community und sie kämpft gegen die Klimakrise. Davon können die Grünen profitieren. Zudem ist sie zusammen mit den beiden bisherigen Nationalräten Bastien Girod und Balthasar Glättli die bekannteste Figur auf der Liste. Das hilft der Partei, aber der ökologische Fussabdruck der Vielfliegerin ist problematisch. Und ja, sie polarisiert. Glauser versteht sich als Aktivistin, nicht als «Schätzeli der Nation».

Wie und auf welche Art muss die Partei nun Glauser bei ihrer Kandidatur unterstützen, was ist in den nächsten Monaten besonders wichtig?

Am besten wäre es, wenn sie Glauser eine «Gotte» zur Seite stellt, die selber keine Ambitionen hat und die Mechanismen der Politik und des Wahlkampfs kennt. Auch Skifahren lernt man nicht von einem Tag auf den anderen. Die Zürcher Grünen werden im Herbst einen, allenfalls sogar zwei zusätzliche Sitze gewinnen. Im Idealfall kämpfen alle Kandidierenden für die gemeinsame Sache. Der Regelfall ist allerdings ein anderer: Das Gerangel ist oft unsportlich, die grössten Feinde sind immer in derselben Partei.

Welche Rolle spielt Glausers Partnerin Dominique Rinderknecht in Bezug auf Glausers Wahlchancen? Was muss, sollte Rinderknecht in den nächsten Monaten tun?

Wenn Rinderknecht voll hinter diesem Projekt steht, ist das sehr wertvoll für Glauser. Wahlkampf braucht sehr viel Zeit und noch mehr Energie. Da hilft es, wenn man regelmässig tanken kann. 

Im Schweizer Wahlkampf ist nicht «Big Money» im Spiel

Seit Jahrzehnten wabert eine Hypothese durch unser Land. Sie lautet:

Mit Geld lässt sich ein Sitz im eidgenössischen Parlament kaufen.

Bemüht wird sie von Politikerinnen und Politikern, deren persönliche Ambitionen nicht von Erfolg gekrönt wurden. Die Medien greifen das Thema in Wahljahren regelmässig und gerne auf, und womöglich untermauert PR-Altmeister Rudolf Farner den Plot. Er sagte vor mehr als 50 Jahren einmal: «Mit einer Million Franken mache ich aus jedem Kartoffelsack einen Bundesrat.» Seither wird dieses Bonmot von Hinz und Kunz rezitiert, bei zahllosen Podien kommt es zur Sprache.

Würde die Hypothese stimmen, müsste das Parlament hauptsächlich mit FDP- und SVP-Mitgliedern besetzt sein. Das ist allerdings nicht der Fall. In der aktuellen Legislaturperiode haben die beiden genannten Parteien 46 Prozent der Sitze inne. Die Hypothese zerfällt also wie Staub. Auch wissenschaftlich konnte bis heute der Nachweis nicht erbracht werden, dass man mit Geld einen Sitz im National- oder Ständerat kaufen kann.

Dessen ungeachtet hat die Hypothese immer wieder Konjunktur. Dieser Tage wurde sie von der NZZ aufgegriffen, was mich zu dieser Replik herausfordert.

It’s the title, stupid! So riss die NZZ am 15. April ihren Artikel über Wahlkampfkosten im Allgemeinen und Rogel Köppel im Speziellen an.

Zerlegen wir Titel und Lead dieses Artikels.

1.  Die Situation im Kanton Bern:

Einer der beiden Ständeratssitze wird durch den ordentlichen Rücktritt von Werner Luginbühl (BDP) frei, was zu mehr Dynamik führt. Dass die Wahlkampagnen der sieben Kandidierenden insgesamt etwa eine Million Franken kosten werden, ist plausibel. Die Aussage im Titel, dass «die Parteien für einen Sitz im Ständerat immer mehr Geld ausgeben», wird aber nirgendwo belegt. Ein Vergleich mit früheren Wahlen fehlt, sei es 2015, 2011 oder noch früher.

Die «Kriegskasse» eines Ständeratswahlkampfs wird alimentiert durch

– einen Beitrag der Partei;
– Spenden von Verbänden, Firmen und Privaten;
– eigene Mittel.

Der Blick auf die Berner Ständeratswahlen zeigt exemplarisch: Was die Kantonalparteien an die Kampagnen ihres Spitzenpersonals beisteuern, ist sehr bescheiden, liegt es gemäss einer Erhebung der «Berner Zeitung» doch bei weniger als 200’000 Franken. Wie kommt die NZZ darauf, von «immer mehr Geld» zu schreiben?

2.  Insider schätzen die Kosten von Roger Köppels Wahlkampagne auf mindestens eine halbe Million Franken:

Keine Frage, 500’000 Franken sind eine erkleckliche Summe. Damit kann man eine robuste Wahlkampagne fahren, die allerdings vor allem wegen den Medien, die jedes Augenzwinkern Köppels thematisieren, druckvoll wird. Dass sein Budget eine neue Höchstmarke bedeutet, wie der Titel insinuiert, ist allerdings schlicht falsch. Die Ausmarchungen um die beiden Zürcher Sitze sind schon lange ausgesprochen kompetitiv, was während der Offline-Wahlkämpfe der Achtziger-, Neunziger- und zu Beginn der Nullerjahre ins Geld ging. (Ich machte 2003 eine Erhebung von rund 1400 Wahlkämpfen in der Schweiz und kenne deshalb auch die Budgets aus dem Kanton Zürich.)

 

Betrachten wir das grosse Ganze: Die Realität in den USA zeigt, wie Partikularinteressen und Geld die Politik deformiert hat. Political Action Commitees (PAC) und Super-Pacs beherrschen die Szene, weil sie immens viel Geld für die Wahlkämpfe ihrer Favoriten generieren können. Die Schweizer Parteien hingegen sind arm wie Kirchenmäuse, bei uns ist nicht «Big Money» im Spiel. Trotzdem erachte ich es als wertvoll, dass die Transparenz-Initiative bald eine vertiefte Debatte über die Parteien- und Wahlkampffinanzierung ermöglicht.

«Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung.»

Mark Balsiger

Wissen Sie, was einzelne Posten im Wahlkampf kosten? Vermutlich nicht. Bloss ein Beispiel: Für ein halbseitiges Inserat im «Tages-Anzeiger», schwarz-weiss, bezahlt man 14’520 Franken, für eines mit Textanschluss übrigens bereits 24’288 Franken. Man kann unendlich viel Geld in die Wahlwerbung buttern. Die Kreativwirtschaft, die gebeutelten Medienverlagen und die Tech-Giganten Google, Facebook & Co. freut’s. Etwas darf man dabei nicht vergessen: Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung. Und wer glaubt im Ernst, dass wegen ein paar Inseraten, Plakaten, gesponserten Facebook-Ads und einer 20-Sekunden-Interaktion an einem Öpfeli-Flugblätter-Stand auf dem Bahnhofplatz plötzlich viele Nichtwähler zu Wählern werden?

Die Fixierung auf die Wahlwerbung halte ich ohnehin für unzureichend. Wenn ein Dutzend Supporter einer ambitionierten Kandidatin während Monaten ihre Freizeit für sie opfern, sei es beim Adressen Generieren, beim Haustür-Wahlkampf usw., so müsste diese Unterstützung ein Preisschild haben. Wenn Profi-Campaigner mitwirken, wie das bei Cédric Wermuths Ständeratskandidatur der Fall ist (sie wechselten vom Generalsekretariat der SP Schweiz zum Aargauer), hat das mehr Wert als viele Werbefranken.

Geld ist zwar wichtig im Wahlkampf, das 26-Erfolgsfaktoren-Modell, das ich 2006 entwickelt hatte, zeigt aber, dass die Anker-Faktoren wichtiger sind:

Gemäss der Studie, die zu meinem Buch «Wahlkampf in der Schweiz» (2007) führte, haben Anker-Faktoren (unten) die grösste Bedeutung. Es folgen die Engagement-Faktoren (Mitte) und an dritter Stelle die Verpackungsfaktoren. Tatsache ist, dass eine Mehrheit der Wahlkampagnen in der Schweiz auf Verpackungs-Faktoren und dabei insbesondere auf Medienmix und Slogans fokussieren.