Bei Nationalratswahlen in der Schweiz fand einmal eine Revolution statt. Das geschah 1919 bei der Einführung des Proporzwahlsystems. Die zuvor allmächtigen Freisinnigen verloren damals die absolute Mehrheit in der grossen Kammer (minus 43 Sitze, neu noch 60), die SP konnte ihre Deputation auf einen Schlag fast verdoppeln (neu 41), die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, die heutige SVP) holte 27 zusätzliche Sitze.
Der Ausgang der gestrigen Wahlen hat die Schweiz parteipolitisch umgepflügt, das Wort «historisch» ist schon oft gefallen. Es ist zugleich eine Klimawahl und eine Frauenwahl. Der Frauenanteil im Nationalrat stieg markant und knackte erstmals die 40-Prozent-Grenze. Dieses Plus von 10 Prozent ist grossartig!
Die grüne Welle wurde grösser als vorhergesagt, viel grösser: Die Grünen legen um 6.1 Prozentpunkte und 17 Nationalratssitze zu – Zweiteres ist ein neuer Rekord in 100 Jahren Proporzwahlrecht. Die Grünliberalen wiederum gewinnen 3.2 Prozentpunkte bzw. 9 Sitze hinzu.
Verloren haben alle Bundesratsparteien, aber auch die BDP und die Demoskopen. Betrachten wir die Resultate und Performances der einzelnen Parteien etwas genauer. Zunächst aber eine Grafik, die die Parteistärken in Prozentpunkten inkl. den Verschiebungen zu 2015 zeigt:
Die SVP bleibt in einem Formtief. Was sich seit fast drei Jahren bei kantonalen Wahlen zeigt, akzentuierte sich gestern. Sie verlor mit 3.8 Prozentpunkten mehr, als sie 2015 zugelegt hatte. Die Themenkonjunktur spielte nicht für sie, viele Supporter blieben der Urne fern, was auch Demobilisierung genannt wird. Die Volkspartei bleibt aber mit Abstand die stärkste Kraft.
Die SP verliert 2 Prozentpunkte, was sich aufgrund der Umfragen nicht abgezeichnet hatte. Statt der 20-Prozent-Marke wieder näher zu kommen, ist die Partei auf einem historischen Tiefststand gelandet. Noch nie seit der Einführung des Proporzwahlsystems schnitt sie so schlecht ab, noch nie zuvor hat sie weniger als 40 Sitze erobert. Was Öko-Themen betrifft, ist die SP praktisch deckungsgleich mit den Grünen positioniert. Aber die Wählerschaft belohnt sie nicht dafür, sondern wählt das grüne Original. Noch liegt die Wählerstromanalyse nicht vor. Für mich ist aber klar, dass die SP nicht nur an die Grünen verlor, sondern auch an die Grünliberalen.
Im letzten Winter wechselten die beiden Zürcher Nationalratsmitglieder Chantal Galladé und Daniel Frei von der SP zur GLP, was in den Medien grosse Welle schlug und intern für böses Blut sorgte. Offensichtlich machten ihnen das gestern auch viele Wähler nach, nicht zuletzt wegen des Rahmenabkommens, das die GLP in der vorliegenden Form begrüsst, während die SP herumeiert.
Vor vier Jahren schaffte es die FDP, den Abwärtstrend, der 1983 eingesetzt hatte, zu stoppen. Bei den kantonalen Wahlen legte sie drei Jahre lang fast überall kräftig zu. Im letzten Januar setzte der Richtungsstreit zur Klimapolitik ein und es dauerte bis im Sommer, bis die neue Position konsolidiert war. Offene Konflikte während eines Wahljahres sind ein Horrorszenario für jede Partei, die FDP bezahlte gestern den Preis dafür. Ihr Wähleranteil ist so tief wie nie zuvor. Sie dürfte Wählerinnen und Wähler an die GLP wie an die SVP verloren haben.
Die Grünen feiern einen epochalen Sieg; sie sind die neue Nummer 4 und lassen die CVP hinter sich. Das gibt Schwung, gerade auch für die zweiten Wahlgänge im Ständerat. Klar ist auch, dass die Zusammensetzung des Bundesrats wieder aufs Tapet kommt. Nach der gängigen Zauberformel könnten die Grünen den Sitz der CVP übernehmen, allein: Neo-Bundesrätin Viola Amherd wollen sie nicht angreifen. Dafür vielmehr den ungeliebten Ignazio Cassis.
Nachdem die Grünen in den letzten drei Jahren vor allem in der Romandie massiv zulegten, ritten sie die Klimawelle geschickt. Sie holten zweifellos am meisten Erst- und Neuwählerinnen ab. Diese wählten ein Gefühl. Das Gefühl, etwas für den Klimawandel zu tun. Dass die Grünen wieder zulegen, sagte ich schon am Tag nach den Wahlen 2015, wie der Schlussabschnitt aus den Tamedia-Zeitungen vom 19. Oktober 2015 zeigt:
In den letzten 40 Jahren hat sich das Elektorat der CVP fast halbiert. Dass die Christlichdemokraten auch dieses Mal verlieren würden, galt allseits als klar, die psychologisch wichtige 10-Prozent-Marke drohte zu fallen. Das Minus von 0.2 Prozentpunkten bzw. 2 Sitzen ist eine der grossen Überraschungen des gestrigen Tages (Zählt man die CSP Obwalden hinzu, sind es 3 Sitze.) Die Strategie der CVP, in ihren ehemaligen Hochburgen wieder zuzulegen – zulasten der SVP, die das konservative Klientel in den Neunzigerjahren eroberte hatte –, ging nicht auf. Tröstlich ist, dass die Partei von Gerhard Pfister in den nächsten vier Jahren wieder die Rolle der Mehrheitsbeschafferin übernehmen kann. Rechts sind FDP und SVP auf die CVP angewiesen, für Mitte-links-Allianzen braucht es ihre Stimmen genauso, wie die nachfolgende Grafik zeigt:
Die Grünliberalen sind die zweiten Sieger des gestrigen Tages. Die Partei positioniert sich als radikalliberale Kraft, die vor allem im urbanen Raum viel Zulauf hat. Die Kombination von Öko-Themen und europapolitischer Offenheit kommt bei vielen gut Ausgebildeten an. Die GLP dürfte aber auch Wechselwähler von FDP und SP abgeholt haben. 7.8 Prozentpunkte ist für sie ein neuer Höchststand. In den Kantonen Basel-Stadt und Genf holte sie zum ersten Mal ein Nationalratsmandat, in St. Gallen und Luzern eroberte sie sich das Mandat, das sie 2015 verloren hatte, wieder zurück.
Die BDP hatte ihre kurze Blütezeit in den Jahren 2011 und 2012. Seither geht es abwärts, die Neupositionierung als progressive Kraft bemerkte kaum jemand, Ende 2015 trat schliesslich ihre Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf zurück. Ohne deren Kopf und Einfluss wurde es für sie noch schwieriger, auf dem Wählermarkt um Aufmerksamkeit zu buhlen. Mit der Abwahl ihrer Nationalräte in den Kantonen Aargau (Bernhard Guhl), Bern (Heinz Siegenthaler), Graubünden (Duri Campell) und Zürich (Rosmarie Quadranti) schrumpft ihre Deputation auf drei Nationalräte. Damit verpasst sie die Fraktionsgrösse (mindestens fünf Mitglieder in einer Kammer), die Geld, Kommissionssitze, Einfluss und damit Profilierungsmöglichkeiten bringt. Die BDP dürfte 2023 auf der nationalen Ebene verschwinden. Die nächsten vier Jahre werden die drei verbleibenden BDP-Nationalräte in der CVP-Fraktion Unterschlupf finden – genauso wie das Trio der EVP.
Ein Blick ins Wahljahr 2023: Dass die Parteien, die das Wort «grün» im Namen tragen, ihre Erfolge bestätigen können, glaube ich nicht. Es braucht viel Zeit und Energie, um Parteistrukturen auszubauen und Macht zu binden. Einige ihrer Kandidatinnen und Kandidaten wurden gestern von der grünen Welle ins Parlament gespült. Ihnen fehlen die Verankerung und die politische Erfahrung, um sich dort halten zu können. Es ist aber möglich, ja zu hoffen, dass das Parlament viele ihre Themenschwerpunkte systematisch vorantreibt. Die dramatische Entwicklung des Klimas lassen keine weiteren verlorenen Jahre mehr zu.
Und damit wende ich mich den Berichten und Kommentaren der Tageszeitungen zu – die Kanne Kaffee steht auch bereit. Ein Ritual nach Wahltagen.
Mark Balsiger