Über die Performances des Parteien

Bei Nationalratswahlen in der Schweiz fand einmal eine Revolution statt. Das geschah 1919 bei der Einführung des Proporzwahlsystems. Die zuvor allmächtigen Freisinnigen verloren damals die absolute Mehrheit in der grossen Kammer (minus 43 Sitze, neu noch 60), die SP konnte ihre Deputation auf einen Schlag fast verdoppeln (neu 41), die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, die heutige SVP) holte 27 zusätzliche Sitze.

Der Ausgang der gestrigen Wahlen hat die Schweiz parteipolitisch umgepflügt, das Wort «historisch» ist schon oft gefallen. Es ist zugleich eine Klimawahl und eine Frauenwahl. Der Frauenanteil im Nationalrat stieg markant und knackte erstmals die 40-Prozent-Grenze. Dieses Plus von 10 Prozent ist grossartig!

Die grüne Welle wurde grösser als vorhergesagt, viel grösser: Die Grünen legen um 6.1 Prozentpunkte und 17 Nationalratssitze zu – Zweiteres ist ein neuer Rekord in 100 Jahren Proporzwahlrecht. Die Grünliberalen wiederum gewinnen 3.2 Prozentpunkte bzw. 9 Sitze hinzu.

Verloren haben alle Bundesratsparteien, aber auch die BDP und die Demoskopen. Betrachten wir die Resultate und Performances der einzelnen Parteien etwas genauer. Zunächst aber eine Grafik, die die Parteistärken in Prozentpunkten inkl. den Verschiebungen zu 2015 zeigt:

Die SVP bleibt in einem Formtief. Was sich seit fast drei Jahren bei kantonalen Wahlen zeigt, akzentuierte sich gestern. Sie verlor mit 3.8 Prozentpunkten mehr, als sie 2015 zugelegt hatte. Die Themenkonjunktur spielte nicht für sie, viele Supporter blieben der Urne fern, was auch Demobilisierung genannt wird. Die Volkspartei bleibt aber mit Abstand die stärkste Kraft.

Die SP verliert 2 Prozentpunkte, was sich aufgrund der Umfragen nicht abgezeichnet hatte. Statt der 20-Prozent-Marke wieder näher zu kommen, ist die Partei auf einem historischen Tiefststand gelandet. Noch nie seit der Einführung des Proporzwahlsystems schnitt sie so schlecht ab, noch nie zuvor hat sie weniger als 40 Sitze erobert. Was Öko-Themen betrifft, ist die SP praktisch deckungsgleich mit den Grünen positioniert. Aber die Wählerschaft belohnt sie nicht dafür, sondern wählt das grüne Original. Noch liegt die Wählerstromanalyse nicht vor. Für mich ist aber klar, dass die SP nicht nur an die Grünen verlor, sondern auch an die Grünliberalen.

Im letzten Winter wechselten die beiden Zürcher Nationalratsmitglieder Chantal Galladé und Daniel Frei von der SP zur GLP, was in den Medien grosse Welle schlug und intern für böses Blut sorgte. Offensichtlich machten ihnen das gestern auch viele Wähler nach, nicht zuletzt wegen des Rahmenabkommens, das die GLP in der vorliegenden Form begrüsst, während die SP herumeiert.

Vor vier Jahren schaffte es die FDP, den Abwärtstrend, der 1983 eingesetzt hatte, zu stoppen. Bei den kantonalen Wahlen legte sie drei Jahre lang fast überall kräftig zu. Im letzten Januar setzte der Richtungsstreit zur Klimapolitik ein und es dauerte bis im Sommer, bis die neue Position konsolidiert war. Offene Konflikte während eines Wahljahres sind ein Horrorszenario für jede Partei, die FDP bezahlte gestern den Preis dafür. Ihr Wähleranteil ist so tief wie nie zuvor. Sie dürfte Wählerinnen und Wähler an die GLP wie an die SVP verloren haben.

Die Grünen feiern einen epochalen Sieg; sie sind die neue Nummer 4 und lassen die CVP hinter sich. Das gibt Schwung, gerade auch für die zweiten Wahlgänge im Ständerat. Klar ist auch, dass die Zusammensetzung des Bundesrats wieder aufs Tapet kommt. Nach der gängigen Zauberformel könnten die Grünen den Sitz der CVP übernehmen, allein: Neo-Bundesrätin Viola Amherd wollen sie nicht angreifen. Dafür vielmehr den ungeliebten Ignazio Cassis.

Nachdem die Grünen in den letzten drei Jahren vor allem in der Romandie massiv zulegten, ritten sie die Klimawelle geschickt. Sie holten zweifellos am meisten Erst- und Neuwählerinnen ab. Diese wählten ein Gefühl. Das Gefühl, etwas für den Klimawandel zu tun. Dass die Grünen wieder zulegen, sagte ich schon am Tag nach den Wahlen 2015, wie der Schlussabschnitt aus den Tamedia-Zeitungen vom 19. Oktober 2015 zeigt:

In den letzten 40 Jahren hat sich das Elektorat der CVP fast halbiert. Dass die Christlichdemokraten auch dieses Mal verlieren würden, galt allseits als klar, die psychologisch wichtige 10-Prozent-Marke drohte zu fallen. Das Minus von 0.2 Prozentpunkten bzw. 2 Sitzen ist eine der grossen Überraschungen des gestrigen Tages (Zählt man die CSP Obwalden hinzu, sind es 3 Sitze.) Die Strategie der CVP, in ihren ehemaligen Hochburgen wieder zuzulegen – zulasten der SVP, die das konservative Klientel in den Neunzigerjahren eroberte hatte –, ging nicht auf. Tröstlich ist, dass die Partei von Gerhard Pfister in den nächsten vier Jahren wieder die Rolle der Mehrheitsbeschafferin übernehmen kann. Rechts sind FDP und SVP auf die CVP angewiesen, für Mitte-links-Allianzen braucht es ihre Stimmen genauso, wie die nachfolgende Grafik zeigt:

Die Grünliberalen sind die zweiten Sieger des gestrigen Tages. Die Partei positioniert sich als radikalliberale Kraft, die vor allem im urbanen Raum viel Zulauf hat. Die Kombination von Öko-Themen und europapolitischer Offenheit kommt bei vielen gut Ausgebildeten an. Die GLP dürfte aber auch Wechselwähler von FDP und SP abgeholt haben. 7.8 Prozentpunkte ist für sie ein neuer Höchststand. In den Kantonen Basel-Stadt und Genf holte sie zum ersten Mal ein Nationalratsmandat, in St. Gallen und Luzern eroberte sie sich das Mandat, das sie 2015 verloren hatte, wieder zurück.

Die BDP hatte ihre kurze Blütezeit in den Jahren 2011 und 2012. Seither geht es abwärts, die Neupositionierung als progressive Kraft bemerkte kaum jemand, Ende 2015 trat schliesslich ihre Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf zurück. Ohne deren Kopf und Einfluss wurde es für sie noch schwieriger, auf dem Wählermarkt um Aufmerksamkeit zu buhlen. Mit der Abwahl ihrer Nationalräte in den Kantonen Aargau (Bernhard Guhl), Bern (Heinz Siegenthaler), Graubünden (Duri Campell) und Zürich (Rosmarie Quadranti) schrumpft ihre Deputation auf drei Nationalräte. Damit verpasst sie die Fraktionsgrösse (mindestens fünf Mitglieder in einer Kammer), die Geld, Kommissionssitze, Einfluss und damit Profilierungsmöglichkeiten bringt. Die BDP dürfte 2023 auf der nationalen Ebene verschwinden. Die nächsten vier Jahre werden die drei verbleibenden BDP-Nationalräte in der CVP-Fraktion Unterschlupf finden – genauso wie das Trio der EVP.

Ein Blick ins Wahljahr 2023: Dass die Parteien, die das Wort «grün» im Namen tragen, ihre Erfolge bestätigen können, glaube ich nicht. Es braucht viel Zeit und Energie, um Parteistrukturen auszubauen und Macht zu binden. Einige ihrer Kandidatinnen und Kandidaten wurden gestern von der grünen Welle ins Parlament gespült. Ihnen fehlen die Verankerung und die politische Erfahrung, um sich dort halten zu können. Es ist aber möglich, ja zu hoffen, dass das Parlament viele ihre Themenschwerpunkte systematisch vorantreibt. Die dramatische Entwicklung des Klimas lassen keine weiteren verlorenen Jahre mehr zu.

Und damit wende ich mich den Berichten und Kommentaren der Tageszeitungen zu – die Kanne Kaffee steht auch bereit. Ein Ritual nach Wahltagen.

Mark Balsiger

Der Wahlkampf wird hybrid

Auch heute Morgen standen ambitionierte Kandidatinnen und Kandidaten in den Bahnhöfen und verteilten Flyer. Sie tun das seit Wochen unermüdlich. Wer zusätzlich ein Schöggeli oder Öpfeli abgibt, kommt bei den Pendlern etwas besser an. Viele Flyer landen trotzdem auf dem Boden oder im Abfalleimer. Abends füttern die Kandidierenden ihre Social-Media-Kanäle – mit Fotos ihrer Flyeraktionen und dem x-ten Aufruf: «Jetzt wählen! Hugo Hugentobler zweimal auf Ihre Liste!» Die Postings sind austauschbar, die Schlagworte und Slogans und Köpfe auf den Flyern sowieso. Wer kann sich beim Ausfüllen des Wahlzettels noch an Hugentobler erinnern? Eben – willkommen in der Schlussphase des Wahlkampfs 2019.

Was die Kandidaten in ihrer fiebrigen Betriebsamkeit tun, basiert auf dem Prinzip Hoffnung. Werbung ist flüchtig, Wahlwerbung oftmals einfallslos und durchsetzt mit handwerklichen Fehlern, es fehlt das Geld, um eine druckvolle Kampagne zu führen. Wenn die politische Grosswetterlage nicht das Top-Thema der eigenen Partei in den Vordergrund geschoben hat, verpuffen die meisten Anstrengungen. Wissenschaftliche Erhebungen zeigen, dass traditionelle Wahlwerbung eine sehr bescheidene Wirkung hat.

Journalistinnen und Politbeobachter sind sich einig: der Wahlkampf 2019 war flau. Doch Hand aufs Herz: das waren die früheren Ausgaben auch. Die Gründe liegen auf der Hand: Das Milizsystem und die bescheidenen Kampagnenbudgets der Parteien setzen enge Grenzen, Volksabstimmungen sind wichtiger als Wahlen, die ausgeprägte Konsenskultur dämpft die Lust auf den Angriff. Die Ad-hoc-Allianzen im Parlament wechseln von Geschäft zu Geschäft – da will man es sich mit niemandem verderben.

Der grösste Aufreger im Wahljahr 2019 war das Wurmplakat der SVP, gefolgt von der CVP mit ihrer Irreführung der User auf Google – zwei Metathemen. Und sonst? Seit Januar ist der Klimawandel omnipräsent, allerdings ging die Debatte darüber nicht substanziell in die Tiefe. Andere Themen hatten keine Chance oder wurden bewusst links liegen gelassen, der Frauenstreik blieb die grosse Ausnahme. Er und die Kampagne «Helvetia Ruft» führten dazu, dass der Frauenanteil bei den Nationalratskandidaturen erstmals die 40-Prozent-Grenze übertrifft.

Dass der Wahlkampf flau ist, hat aber auch andere Gründe: Die «Selects»-Studien der Universität Lausanne zeigen seit 2007, dass die SVP jeweils rund 80 Prozent ihrer Basis an die Urne bringt. Bei allen anderen Parteien liegt diese Quote deutlich tiefer. Hier setzen sie an und kümmern sich vor allem um die eigene Klientel, zumal das Potenzial der Wechselwähler sehr bescheiden ist.

Die Generalsekretariate der grossen Parteien generierten Datenbanken mit allen Mitgliedern und Sympathisierenden im Land. Diese werden regelmässig postalisch und per E-Mail bedient, was Nähe schafft.

Die FDP macht «Door-to-door»-Wahlkampf (Foto oben), der dank Daten, die mit einer App stetig aktualisiert werden, zielgruppenspezifisch wird. Freisinnige klingeln nur dort, wo sie Leute antreffen, die der Partei und ihren Werten nahestehen.

Der Haustür-Wahlkampf erlebt also ein Comeback: Er wurde betrieben, als CVP, FDP und SP noch Milieuparteien waren und genau wussten, in welchen Quartieren sie ihre eigenen Leute finden. In der Schlussphase läuft das, was in US-Wahlkämpfen seit Jahrzehnten Standard ist: Telefon-Marketing, und zwar ausschliesslich bei Parteimitgliedern und Sympathisanten (Foto unten). «Get out the vote!», heisst die Devise.

Bei der ersten Wahlkampagne, die ich als Campaigner begleitete, 2002/2003 war’s, wiederholte ich einen Satz immer wieder: «Sammelt Adressen – postalisch und E-mail!» Der Wert von Daten ist erkannt, inzwischen werden sie als «das neue Gold» bezeichnet. Was heisst das für die Schweiz: Für die nationalen Parteien wird der datenbasierte Wahlkampf zum Standard. Aussenwerbung, Inserate, Banner, Standaktionen usw. verschwinden deshalb aber nicht. Vielmehr entwickelt sich eine hybride Form des Wahlkampfs.

Das A und O eines effektiven Personenwahlkampfs ist die präzise und personalisierte Ansprache der Wählersegmente, die einem gewogen sind, sowie von Bekannten und Nachbarn. Das funktioniert mit Newslettern, von Hand unterzeichneten Briefen, Facebook- und Instagram-Ads, kombiniert mit einem stetigen persönlichen Austausch. Der Dreiklang heisst Glaubwürdigkeit, Nähe und Identifikation.

– Glaubwürdigkeit: Wer die letzten drei Monate vor dem Wahltermin immer wieder «WÄHLT MICH, WÄHLT MICH!» schreit, kriegt sie sicher nicht. Kandidatinnen und Kandidaten müssen sie sich über Jahre hinaus erarbeiten. Mit Substanz und einprägsamen Hauptsätzen.

– Nähe: Der persönliche Kontakt ist in Bezug auf seine Qualität nicht zu toppen – vor der Haustüre, am Samstagmorgen auf dem Dorfmarkt, beim Bräteln mit Nachbarn, mit einer Grusssdresse während einer Vernissage. Jeder Händedruck, jeder Schwatz stärkt die Glaubwürdigkeit. Was auch Nähe herstellt, sind kurze Videos, weil so der Kandidat bzw. die Kandidatin spürbar wird.

– Identifikation: Potenzielle Wählerinnen und Wähler müssen sich grosso modo mit mehreren Themen des Kandidaten bzw. der Positionierung der Partei identifizieren.

Für den Dreiklang braucht es Zeit, Disziplin, Empathie und einen langen Atem. Das temporeiche Flyern in der Bahnhofsunterführung produziert keinen Dreiklang, sondern nur etwas: Abfall.

Mark Balsiger


>>> Dieser Text erschien, in einer etwas kürzeren Version, zuerst auf dem Online-Portal «Persönlich». Das Bildmaterial stammt von den Social-Media-Profilen einzelner Parteien und Politisierenden.

Die CVP betreibt Irreführung im grossen Stil

Die Verlockung, mithilfe des Internets mehr Aufmerksamkeit und neue Kunden zu erhalten, ist gross. So sind Trickser seit Monaten daran, mit Online-Inseraten, die sie jeweils mit dem Foto eines Prominenten wie zum Beispiel Medienpionier Roger Schawinski oder Fussballstar Xherdan Shaqiri ergänzen, auf ihre Websites zu locken. «Schawinski enthüllt die Wahrheit», wird dazu versprochen. Die Masche funktioniert, sonst wären diese Ads längst wieder verschwunden.

Seit heute Morgen versucht die CVP, auf ähnliche Weise zu mehr Aufmerksamkeit und bei den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober zu mehr Stimmen zu kommen: Wer bei Google nach Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien sucht, landet auf einer Werbeseite der CVP, bezahlte Werbung, sogenannte Google-Ads, machen das möglich.

Ein Beispiel: Wer im Kanton Luzern den Namen des dortigen FDP-Ständerats Damian Müller in die Suchmaske tippt, erhält zuobest in der Google-Auswahl diese Anzeige, wie dieser Printscreen belegt:


Natürlich, oben links steht «Anzeige»
, die Werbung ist also als solche deklariert. Erhebungen der letzten Jahre zeigen allerdings, dass die Surfer solche Hinweise im Netz meistens übersehen, man ist flüchtig unterwegs und will schnell zum Ziel kommen.

Wer also entdecken will, «wofür die FDP von Damian Müller steht» und auf den Link «Wahlen 2019 / Damian Müller / kandidaten2019.ch» klickt, wird auf eine Seite der CVP weitergeleitet. Dort erscheint die nachfolgende Information, die im Corporate Design der FDP gehalten sind. Allerdings kriegt die FDP hier ihr Fett ab:

Die Aufforderung
«Zeigt mir lieber echte Lösungen!» ist im CVP-Orange gehalten, und das irritiert womöglich sehr aufmerksame Surfer. «Was geht hier ab?», dürften sie sich fragen. Alle anderen machen einen weiteren Klick und dann landen sie bei den «echten Lösungen der CVP». Was die Christlichdemokraten mit dieser Kampagne betreiben, ist nicht Negative Campaigning, wie behauptet wird, sondern Irreführung. Mehrere Tausend Namen von parteifremden Kandidatinnen und Kandidaten werden auf Google für eigene Werbezwecke missbraucht. Dank Tracking-Tools können gleichzeitig auch noch Daten gesammelt werden. Schicklich ist ein solchen Vorgehen nicht.

Was die CVP tut, könnte rechtlich verfolgt werden, zum Beispiel wegen unlauterem Wettbewerb. Tatsache ist, dass die Partei gegen die Ads-Richtlinien von Google verstösst.

Dass potenzielle Wählerinnen und Wähler im Netz zuhauf die Namen von Kandidierenden googeln, trifft nicht zu, aber sie tun es. Clevere Kampagnenteams schalten bei Wahl- und Abstimmungskampagnen schon seit Jahren gezielt Ads auf Google, allerdings setzen sie vornehmlich auf Themen. Bekannt ist das nur in Insiderkreisen, der Fokus liegt bei Facebook, Twitter und, wegen des rasanten Wachstums, inzwischen auch bei Instagram.

«Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir»

Parteien beklagen sich seit Jahren über fehlende Resonanz in den Medien. Tatsächlich ist der Wettbewerb um Aufmerksamkeit entfesselt. Wer nicht schreit oder provoziert, wird oftmals nicht mehr wahrgenommen. Ueli Maurer erklärte das als Parteipräsident der SVP Schweiz einmal so: «Solange ich Neger sage, bleibt die Kamera bei mir. Also sage ich: Neger! Neger! Neger!»

Womöglich findet es die SVP-Basis gut, wenn ihr Präsident Neger sagt. Doch funktioniert für andere Parteien, namentlich solche aus der staatstragenden Mitte, die Masche mit der Provokation? Konkreter: Was hat die CVP davon, dass ihr jetzt die volle Aufmerksamkeit zuteil wird? Mehr Stimmen am 20. Oktober, nachdem der Wählerschwund seit 1983 anhält?

Die Strategie könnte aufgehen, wenn die CVP innerhalb von 48 Stunden mit überzeugenden Inhalten nachlegt. Und wenn sie zugleich erklärt, dass die Google-Ads nur geschaltet wurden, um die volle Aufmerksamkeit der Medien zu generieren. Das wäre ein gerissener Plan.

Auf Twitter war heute diese Kampagne das Thema Nr. 1. Viele «Angeschossene» und Parteigänger ausserhalb der CVP nutzten die Chance, um diesen Fall zu skandalisieren. Einzelne sprechen von «Hetze», Nationalrat Marcel Dobler twitterte, die CVP habe das «Senfgas ausgepackt». Solche Einschätzungen sind komplett überzeichnet, sie zeigen aber exemplarisch, wie «Debatten» auf diesem Social-Media-Kanal befeuert werden. Kriegsrhetorik funktioniert.

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Heute habe ich der SRF-«Tagesschau» (hier der Beitrag in der Hauptausgabe von 19.30 Uhr) und der SRF-Online-Redaktion ein paar Fragen beantwortet:

SRF: Was bedeutet die Kampagne der CVP aus politischer Sicht?

Mark Balsiger: Dass eine Partei in der heissen Phase des Wahlkampfes ganz bewusst Irreführung betreibt, hat es in diesem grossen Stil noch nie gegeben. Es entspricht nicht der politischen Kultur. Man spürt aufgrund der Reaktionen, dass viel Nervosität im Wahlkampf ist. Viele Akteure haben etwas zu verlieren. Es ist allerdings nicht das harte Diffamieren des politischen Gegners wie bei einer typischen Negativ-Kampagne.

Die Kampagne wurde innert kürzester Zeit zum Top-Trend in der Schweizer Twitterszene. Das kann der CVP ja auch helfen?

Wenn der Absender von einem politischen Pol kommt, zum Beispiel von den Jungsozialisten oder der jungen SVP, die auch schon Bundesräte zum Rücktritt aufgefordert hatte, dann würde es zu einer Profilierung der Jungpartei führen. Wenn nun aber eine staatstragende Partei wie die CVP, die seit jeher antritt und sagt, wir halten das Land zusammen und sind das Scharnier in der Mitte, dann ist eine solche Kampagne unschweizerisch.

Kann dies für die CVP zum Bumerang werden?

Ja, denn schon diverse CVP-Mitglieder haben sich auf Twitter von der Kampagne distanziert. Gerade in der Endphase muss eine Partei schauen, dass ihre Kommunikation kohärent ist – und das ist sie hier nicht. Es kann also sein, dass gewisse Parteimitglieder demobilisiert werden. Dann gefährdet man am Schluss gar die 10-Prozent-Grenze.

Laut CVP dauert die Kampagne mehrere Tage. Ausserdem hat man versucht, solche Google-Anzeigen für praktisch jeden Kandidaten für die nationalen Wahlen 2019 zu machen. Das sind über 3000 Personen. Die CVP muss für jeden Klick bezahlen. Kommt das die Partei teuer zu stehen?

Das finanziell zu beziffern ist schwierig.

«Negative Campaigning» heisst also, mit einer Negativ-Kampagne den politischen Gegner zu schwächen. Das kennt man sonst eher aus den USA. Kommt das nun auch in der Schweiz?

Nein. Negative Campaigning lohnt sich dann, wenn es nur wenige Kandidaten gibt. Ausserdem funktioniert bei uns die politische Kultur anders. Bei diesem Fall handelt es aber auch nicht um Negative Campaigning, denn da müsste man jede Kandidatin und jeden Kandidaten bis ins Innerste durchleuchten. Hier wird nicht dramatisiert, sondern es werden einfach politische Positionen der Kandidaten verglichen.

Die Fragen stellte SRF-Redaktor Stephan Weber.

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Was Negative Campaigning ist, habe ich in meinem Buch «Wahlkampf statt Blindflug» (2014, als E-Book noch verfügbar) knapp zusammengefasst:

Nachtrag vom 22. September 2019: Der Karikaturist Chappatte setzt die «Offensive» der CVP mit einem klaren Strich um:

Weshalb die Grünen keinen Sitz im Bundesrat erobern werden

Keine Partei hat bei den kantonalen Wahlen seit Anfang 2016 ähnlich viele Sitze gewonnen wie die Grünen (42). Dieses robuste Wachstum wird seit geraumer Zeit auch im Wahlbarometer der SRG bestätigt. Gemäss der Umfrage, die gestern veröffentlicht wurde, erreichen sie 10.5 Prozentpunkte.

Das ist der Höchstwert der Grünen, die damit die CVP mit ihren 10.2% knapp hinter sich lässt. Reflexartig folgern nun viele Medien, dass nun eine grüne Vertretung im Bundesrat Tatsache werden könnte – etwa die Blätter von Tamedia:

Die Zauberformel, die seit 1959 (mit einer Pause zwischen 2008 und 2015) gilt, lautet, dass die drei grössten Parteien je zwei Sitze in der Landesregierung beanspruchen dürfen, die vierstärkste kriegt noch einen Sitz.

Ein Blick zurück zeigt, dass erstarkte Parteien nie sofort mit einem Bundesratssitz belohnt wurden:

– Bei den Nationalratswahlen 1999 wurde die SVP ex aequo mit der SP stärkste Partei (mit 22.5%), aber erst 2003 konnte sie sich den zweiten Sitz erkämpfen. Wir erinnern uns: Sprengkandidat Christoph Blocher verdrängte die bisherige CVP-Magistratin Ruth Metzler nach einem dramatischen Wahlherbst.

– Dank der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 konnte die SP ihre Sitzzahl im Nationalrat beinahe verdoppelt. Seit damals ist sie stets unter den drei grössten Parteien, aber erst 1943 wurde ihr der Einzug in den Bundesrat erlaubt (mit Ernst Nobs); sogar erst 1959 konnte sie sich einen zweiten Sitz ergattern.

– Die ersten Wahlen nach Proporz waren auch aus einem weiteren Grund revolutionär: Die Bauern- und Bürgerpartei, eine Abspaltung des Freisinns, erreichte 1919 auf Anhieb 15.3 Prozentpunkte und 30 Sitze im Nationalrat, war also auf einen Schlag die viertstärkste Partei im Land. Ihr Anführer war der legendäre Berner Rudolf Minger. Zehn Jahre später, also 1929, wurde Minger Bundesrat und seine Partei damit in der Landesregierung eingebunden. Im Verlaufe der Dreissigerjahre sammelten sich die verschiedenen kantonalen Bauern- und Bürgerparteien und einem neuen Namen: Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB; die BDP beruft sich gerne auf sie!). Er hatte bis 1971 Bestand, dann erfolgte die Umbenennung in Schweizerische Volkspartei (SVP).

Es gibt einen zweiten Grund, der gegen einen Grünen – oder eine Grüne – im Bundesrat spricht: Derzeit umfasst die grüne Fraktion (inkl. PdA) 13 Mitglieder. Sollte sie bei den eidgenössischen Wahlen zehn Sitze zulegen, was einem Erdrutsch gleich käme, hätte sie neu 23 Mitglieder. Die CVP-Fraktion (inkl. 2 EVP und 1 CSP) wiederum zählt zurzeit 43 Sitze. Verlöre sie zehn Sitze, käme sie noch auf 33 Sitze, wäre also immer noch deutlich stärker als die grüne Fraktion.

Selbst wenn die Grünen die CVP am 20. Oktober überholen sollten: Dass sich bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats im Dezember eine Mehrheit bildet, die den Grünen den Einzug in die Landesregierung ermöglicht, können wir ausschliessen. In seiner Konsequenz würde das bedeuten, dass die populäre Viola Amherd nach just einem Jahr bereits wieder weg wäre. Ausgerechnet sie, die einen guten Start hinlegte und im VBS kräftige Spuren zieht, was ihren beiden Vorgängern Ueli Maurer und Guy Parmelin nicht gelingen wollte. Freisinnige und SVP’ler wären für einen solchen Putsch nichts zu haben. Ihnen liegt Amherd – oder auch FDP-Cassis – viel näher als irgendjemand mit einem grünen Parteibuch.

Regula Rytz, die Parteipräsidentin der Grünen, weiss um die Gefahren und hält den Ball deshalb routiniert flach. Das Thema komme nach dem 20. Oktober aufs Tapet, vermeldete sie nüchtern.

Fazit: Der Wirbel um einen grünen Bundesratssitz haben die Medien entfacht. Möglich, dass die Grünen ab dem 20. Oktober mit dem Säbel rasseln werden. Aber am 11. Dezember wird die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung nicht ernsthaft zur Debatte stehen.

Vom Messerstecher-Inserat bis zum wurmstichigen Schweizer Apfel: Provokation funktioniert noch immer

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren. Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen.

Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in dieselbe Falle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU.

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Am Ende dieses Postings wird ein Sujet aus der antisemitischen Nazi-Zeitung «Der Stürmer» gezeigt. Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Dieselbe Bildsprache wurde bereits in den Dreissigerjahren verwendet

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.

Analogie zu den Dreissigerjahren: Die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» publizierte einmal dieses Sujet namens «Der Wurm». Es war gegen die Juden gerichtet.
Quelle: AZMedien/TeleM1

«Jede Partei möchte Prominente auf der Liste, die den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden»

Quereinsteiger gibt es schon lange immer wieder: In der Regel sind es Unternehmerinnen und Unternehmer, die den Sprung in die Bundespolitik versuchen, aber auch Medienleute und ehemalige Spitzensportler. Viele scheiterten dabei, anderen glückte es, etwa Johann Schneider-Ammann (1999, FDP), Matthias Aebischer (2011, SP) oder Roger Köppel (2015, SVP). Mit Tamy Glauser setzt ein Model zum Sprung in den Nationalrat an. «Blick» hat mir zu dieser Kandidatur ein paar Fragen gestellt. Das ganze Interview gibt’s aber nur hier.

Den Grünen ist ein Coup gelungen: Tamy Glauser, ein international erfolgreiches Model, kandidiert in Zürich für den Nationalrat. Was sagen Sie dazu, dass die Grünen sie zur Kandidatin nominiert haben?

Mark Balsiger: Am Anfang war es ein Flirt. Er wird seit Tamy Glauser bei den Bundesratswahlen im letzten Dezember dabei war medial begleitet. Mit ihrer Nomination ist die Sache nun ernster. Jede Partei wünscht sich, auf ihrer Nationalratsliste Quersteigerinnen und Quereinsteiger präsentieren zu können. Am liebsten solche, die zusätzliche Stimmen für die Liste holen, den Spitzenleuten aber nicht gefährlich werden.

Tamy Glauser ist eine klassische Quereinsteigerin in der Politik, sie hat nicht die Ochsentour von der Baukommission in einer Gemeinde bis in ein kantonales Parlament hinter sich, sondern will gleich auf Bundesebene einsteigen. Ist das ein Nachteil, oder ein Vorteil für Glauser?

Wählerinnen und Wählern gewichten politische Erfahrung stark. Das kann Tamy Glauser nicht bieten und dieser Malus wiegt schwer. Ein anderer Punkt: Gerade den Grünen ist es wichtig, dass Leute belohnt werden, die sich jahrelang mit grossem Engagement für die Partei eingesetzt haben. Deshalb erntet Glausers Kandidatur an der Basis der Grünen nicht nur Applaus, sondern wird auch skeptisch beurteilt. Einige Parteigängerinnen und Parteigänger werden ihren Namen auf der Liste streichen.

Ist ihr Status als Prominente ein Vor- oder ein Nachteil?

Erhebungen zeigen, dass ein grosser Bekanntheitsgrad zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren bei Wahlen gehören. Prominente generiert die Aufmerksamkeit der Medien, und Glauser bringt Glamour in den Wahlkampf der Grünen. Aber das alleine reicht noch lange nicht für die Wahl in den Nationalrat. Sie muss als kompetent wahrgenommen werden.

Was muss Tamy Glauser nun machen, um reale Chancen zu haben, im Herbst als Nationalrätin der Grünen gewählt zu werden?

Wenn sie sich sofort in die Politik kniet, in den wichtigsten Themen der Grünen sattelfest wird, ein schlagkräftiges Wahlkampfteam zusammenstellt und eine professionelle Kampagne fährt, wird ihre Kandidatur ernst genommen. Das schafft sie nur, wenn sie die nächsten fünf Monate voll auf die Karte Politik und Wahlen setzt. Das wird sie nicht tun. Ein anderer Aspekt: Glauser kriegte den Listenplatz 10 – eine clevere Entscheidung der Parteileitung. Von dort aus hat sie faktisch keine Wahlchancen, kann aber der Partei und deren Themen als öffentliche Figur zu mehr Publizität verhelfen.  

Kann oder soll sie weiter als Model, DJane und Teil von «Tamynique» auftreten?

Natürlich, Medienverleger, Gymnasiastinnen und Bauern kandidieren ja auch für den Nationalrat und bei ihnen stellen wir diese Frage nicht. Klar, Glauser stejt unter besonderer Beobachtung: Für viele Leute ist schon der Gedanke herausfordernd, dass ein Model politisieren will.

Tamy Glauser am Montagabend an der Nominationsversammlung der Grünen Zürich.

Inwiefern profitieren die Grünen nun von Tamy Glauser als Nationalratskandidatin – ihre Kandidatur ruft ja auch viele Kritiker auf den Plan?

Glauser ist eine glaubwürdige Vertreterin der LGBT-Community und sie kämpft gegen die Klimakrise. Davon können die Grünen profitieren. Zudem ist sie zusammen mit den beiden bisherigen Nationalräten Bastien Girod und Balthasar Glättli die bekannteste Figur auf der Liste. Das hilft der Partei, aber der ökologische Fussabdruck der Vielfliegerin ist problematisch. Und ja, sie polarisiert. Glauser versteht sich als Aktivistin, nicht als «Schätzeli der Nation».

Wie und auf welche Art muss die Partei nun Glauser bei ihrer Kandidatur unterstützen, was ist in den nächsten Monaten besonders wichtig?

Am besten wäre es, wenn sie Glauser eine «Gotte» zur Seite stellt, die selber keine Ambitionen hat und die Mechanismen der Politik und des Wahlkampfs kennt. Auch Skifahren lernt man nicht von einem Tag auf den anderen. Die Zürcher Grünen werden im Herbst einen, allenfalls sogar zwei zusätzliche Sitze gewinnen. Im Idealfall kämpfen alle Kandidierenden für die gemeinsame Sache. Der Regelfall ist allerdings ein anderer: Das Gerangel ist oft unsportlich, die grössten Feinde sind immer in derselben Partei.

Welche Rolle spielt Glausers Partnerin Dominique Rinderknecht in Bezug auf Glausers Wahlchancen? Was muss, sollte Rinderknecht in den nächsten Monaten tun?

Wenn Rinderknecht voll hinter diesem Projekt steht, ist das sehr wertvoll für Glauser. Wahlkampf braucht sehr viel Zeit und noch mehr Energie. Da hilft es, wenn man regelmässig tanken kann. 

Im Schweizer Wahlkampf ist nicht «Big Money» im Spiel

Seit Jahrzehnten wabert eine Hypothese durch unser Land. Sie lautet:

Mit Geld lässt sich ein Sitz im eidgenössischen Parlament kaufen.

Bemüht wird sie von Politikerinnen und Politikern, deren persönliche Ambitionen nicht von Erfolg gekrönt wurden. Die Medien greifen das Thema in Wahljahren regelmässig und gerne auf, und womöglich untermauert PR-Altmeister Rudolf Farner den Plot. Er sagte vor mehr als 50 Jahren einmal: «Mit einer Million Franken mache ich aus jedem Kartoffelsack einen Bundesrat.» Seither wird dieses Bonmot von Hinz und Kunz rezitiert, bei zahllosen Podien kommt es zur Sprache.

Würde die Hypothese stimmen, müsste das Parlament hauptsächlich mit FDP- und SVP-Mitgliedern besetzt sein. Das ist allerdings nicht der Fall. In der aktuellen Legislaturperiode haben die beiden genannten Parteien 46 Prozent der Sitze inne. Die Hypothese zerfällt also wie Staub. Auch wissenschaftlich konnte bis heute der Nachweis nicht erbracht werden, dass man mit Geld einen Sitz im National- oder Ständerat kaufen kann.

Dessen ungeachtet hat die Hypothese immer wieder Konjunktur. Dieser Tage wurde sie von der NZZ aufgegriffen, was mich zu dieser Replik herausfordert.

It’s the title, stupid! So riss die NZZ am 15. April ihren Artikel über Wahlkampfkosten im Allgemeinen und Rogel Köppel im Speziellen an.

Zerlegen wir Titel und Lead dieses Artikels.

1.  Die Situation im Kanton Bern:

Einer der beiden Ständeratssitze wird durch den ordentlichen Rücktritt von Werner Luginbühl (BDP) frei, was zu mehr Dynamik führt. Dass die Wahlkampagnen der sieben Kandidierenden insgesamt etwa eine Million Franken kosten werden, ist plausibel. Die Aussage im Titel, dass «die Parteien für einen Sitz im Ständerat immer mehr Geld ausgeben», wird aber nirgendwo belegt. Ein Vergleich mit früheren Wahlen fehlt, sei es 2015, 2011 oder noch früher.

Die «Kriegskasse» eines Ständeratswahlkampfs wird alimentiert durch

– einen Beitrag der Partei;
– Spenden von Verbänden, Firmen und Privaten;
– eigene Mittel.

Der Blick auf die Berner Ständeratswahlen zeigt exemplarisch: Was die Kantonalparteien an die Kampagnen ihres Spitzenpersonals beisteuern, ist sehr bescheiden, liegt es gemäss einer Erhebung der «Berner Zeitung» doch bei weniger als 200’000 Franken. Wie kommt die NZZ darauf, von «immer mehr Geld» zu schreiben?

2.  Insider schätzen die Kosten von Roger Köppels Wahlkampagne auf mindestens eine halbe Million Franken:

Keine Frage, 500’000 Franken sind eine erkleckliche Summe. Damit kann man eine robuste Wahlkampagne fahren, die allerdings vor allem wegen den Medien, die jedes Augenzwinkern Köppels thematisieren, druckvoll wird. Dass sein Budget eine neue Höchstmarke bedeutet, wie der Titel insinuiert, ist allerdings schlicht falsch. Die Ausmarchungen um die beiden Zürcher Sitze sind schon lange ausgesprochen kompetitiv, was während der Offline-Wahlkämpfe der Achtziger-, Neunziger- und zu Beginn der Nullerjahre ins Geld ging. (Ich machte 2003 eine Erhebung von rund 1400 Wahlkämpfen in der Schweiz und kenne deshalb auch die Budgets aus dem Kanton Zürich.)

 

Betrachten wir das grosse Ganze: Die Realität in den USA zeigt, wie Partikularinteressen und Geld die Politik deformiert hat. Political Action Commitees (PAC) und Super-Pacs beherrschen die Szene, weil sie immens viel Geld für die Wahlkämpfe ihrer Favoriten generieren können. Die Schweizer Parteien hingegen sind arm wie Kirchenmäuse, bei uns ist nicht «Big Money» im Spiel. Trotzdem erachte ich es als wertvoll, dass die Transparenz-Initiative bald eine vertiefte Debatte über die Parteien- und Wahlkampffinanzierung ermöglicht.

«Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung.»

Mark Balsiger

Wissen Sie, was einzelne Posten im Wahlkampf kosten? Vermutlich nicht. Bloss ein Beispiel: Für ein halbseitiges Inserat im «Tages-Anzeiger», schwarz-weiss, bezahlt man 14’520 Franken, für eines mit Textanschluss übrigens bereits 24’288 Franken. Man kann unendlich viel Geld in die Wahlwerbung buttern. Die Kreativwirtschaft, die gebeutelten Medienverlagen und die Tech-Giganten Google, Facebook & Co. freut’s. Etwas darf man dabei nicht vergessen: Wenn weder die politische Grosswetterlage stimmt, noch das Framing durchschlägt, erzielt Wahlwerbung auch bei einem Budget von 500’000 Franken keine Wirkung. Und wer glaubt im Ernst, dass wegen ein paar Inseraten, Plakaten, gesponserten Facebook-Ads und einer 20-Sekunden-Interaktion an einem Öpfeli-Flugblätter-Stand auf dem Bahnhofplatz plötzlich viele Nichtwähler zu Wählern werden?

Die Fixierung auf die Wahlwerbung halte ich ohnehin für unzureichend. Wenn ein Dutzend Supporter einer ambitionierten Kandidatin während Monaten ihre Freizeit für sie opfern, sei es beim Adressen Generieren, beim Haustür-Wahlkampf usw., so müsste diese Unterstützung ein Preisschild haben. Wenn Profi-Campaigner mitwirken, wie das bei Cédric Wermuths Ständeratskandidatur der Fall ist (sie wechselten vom Generalsekretariat der SP Schweiz zum Aargauer), hat das mehr Wert als viele Werbefranken.

Geld ist zwar wichtig im Wahlkampf, das 26-Erfolgsfaktoren-Modell, das ich 2006 entwickelt hatte, zeigt aber, dass die Anker-Faktoren wichtiger sind:

Gemäss der Studie, die zu meinem Buch «Wahlkampf in der Schweiz» (2007) führte, haben Anker-Faktoren (unten) die grösste Bedeutung. Es folgen die Engagement-Faktoren (Mitte) und an dritter Stelle die Verpackungsfaktoren. Tatsache ist, dass eine Mehrheit der Wahlkampagnen in der Schweiz auf Verpackungs-Faktoren und dabei insbesondere auf Medienmix und Slogans fokussieren.

Über den Formstand der Parteien im eidgenössischen Wahljahr

Die kantonalen Wahlen im Frühling brachten den Parteien, die «grün» im Namen tragen, spektakuläre Gewinne. Die SVP wiederum stürzte dreimal ab. Welche Schlüsse lassen sich daraus für die nationalen Wahlen vom 20. Oktober ziehen? Eine Auslegeordnung.
Lesebeispiel: Die Grünen haben bei allen Parlamentswahlen in den Kantonen seit dem 18. Oktober 2015 insgesamt 42 Sitze dazugewonnen. Insgesamt besetzen sie nun 216 Sitze.

Bei den Nationalratswahlen 2015 legte die SVP massiv zu (+ 2.8%, + 11 Sitze), die FDP schaffte nach einem Niedergang, der 1983 begonnen hatte, die Trendwende (+ 1.3%, + 3). Grüne (- 1.3%, – 4 Sitze), GLP (- 0.8%, – 5) , BDP (- 1.3%, – 2) und CVP (- 0.7%, – 1) verloren. Ein grobes Muster: Nach eidgenössischen Wahlterminen fahren die Parteien bei den nachfolgenden Kantonalwahlen während rund eines Jahres ähnliche Resultate ein.

Das war auch in der Phase von Herbst 2015 bis Frühling 2017 so, wie eine Nahaufnahme bei den Grünen und der SVP zeigt. Im Oktober 2016, nach sieben kantonalen Wahlen, lagen die Grünen im Minus und Medien orteten eine substanzielle Krise. Die Trendwende erfolgte im Frühling 2017 im Wallis, seither reiten die Grünen auf einer Erfolgswelle. In nicht weniger als neun Kantonen haben sie inzwischen die 10-Prozent-Grenze überschritten. Die stärkste Kantonalpartei ist diejenige in Baselland mit 15.2 Prozentpunkten, was zwei Gründe haben dürfte: die geografische Nähe zu Kaiseraugst, wo in den Achtzigerjahren ein neues Atomkraftwerk hätte gebaut werden sollen, sowie die deutlich moderatere Ausprägung als in anderen Sektionen.

Dass die Grünen in Zürich mit Newcomer Martin Neukom wieder einen Regierungsrat stellen, ist eine Sensation. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass vier Jahre zuvor ihr bisheriger Vertreter in der Regierung, Martin Graf, abgewählt worden war.

Ein Schlaglicht auf die SVP: Sie legte bis im März 2017, bei zehn kantonalen Wahlen in Folge, stetig zu. Dieser Trend wurde in Neuenburg abrupt gebrochen, danach verlor sie überall in Prozentpunkten und Sitzen: Neuenburg war ein Debakel (- 11 Sitze), die Verluste in Zürich (- 9), Luzern (- 7) und Baselland (- 7) sind massiv.

Die Kantonsbilanz mit der Anzahl gewonnener bzw. verlorener Sitze gibt Anhaltspunkte über den Formstand der Parteien. Präziser ist eine gewichtete Erhebung, bei der die Grösse der jeweiligen Kantone berücksichtigt wird.

Ziehen wir ein Fazit: Seit zwei Jahren rollt eine grüne Welle übers Land, die in der Romandie losgetreten wurde und in den letzten Monaten nochmals an Druck gewonnen hat. Der Klimawandel hat sich zu einem Megathema entwickelt, der Greta-Effekt spielt. Es gibt Beobachter, die das Klima inzwischen als Strukturthema bezeichnen, will heissen: es bleibt sichtbar und deshalb dauerhaft auf der Agenda.

Zugleich kann man von einem Linksrutsch sprechen. Beachtlich ist auch, wie sich jüngst der Frauenanteil in den Kantonsparlamenten vergrösserte. Im Kanton Zürich beispielsweise legte er um 6.7 Prozentpunkte zu und liegt jetzt bei 39.4 – ein neuer Rekordwert für alle Kantonsparlamente. Die Kampagne «Helvetia ruft», die im Sommer 2018 einsetzte, scheint zu wirken.

Die Resultate auf kantonaler Ebene, gerade diejenigen dieses Frühlings, geben wichtige Anhaltspunkte. Die Prognosen für die eidgenössischen Wahlen von 20. Oktober, die mehrere Sachverständige gemacht haben, sehen einen Zuwachs für Grüne, SP und Grünliberale.  Dabei dürften die Erkenntnis, dass die Zürcher Resultate die eidgenössischen vorwegnehmen, eine Rolle gespielt haben.

Dieses Modell zeigt lediglich die Tendenz, Aussagen über die Gewinne und Verluste gibt es nicht.

Es gibt Gründe, mit Prognosen für den 20. Oktober vorsichtig zu sein. Ich benenne drei:

1. Wahlbeteiligung:

Bei den meisten kantonalen Wahlen liegt die Wahlbeteiligung bei 30 bis 40 Prozent. Bei eidgenössischen Wahlen wurde 1995 der Tiefpunkt erreicht, als noch 42.2 Prozent mitmachten. Seither ist sie wieder stetig angestiegen und liegt inzwischen bei 48.5 Prozent. Für etliche Schweizerinnen und Schweizer haben die eidgenössischen Wahlen einen deutlich höheren Stellenwert als kantonale. Sie können einzelne Segmente überdurchschnittlich mobilisieren. Die selects-Studien zeigten schon mehrfach, dass die SVP rund 80 Prozent ihres Potentials ausschöpft, währendem die anderen Parteien auf eine Quote von 28 bis 60 Prozent kommen.

2. Mobilisierungseffekte:

Gerade bei den kantonalen Wahlen in Zürich, Baselland und Luzern wurde das linksgrüne Elektorat stärker als sonst mobilisiert. Viele SVP-Wähler und -Sympathisanten hingegen blieben der Urne fern, wurden also demobilisiert, weil die Themen ihrer Partei keine Konjunktur haben. Leider liegen bislang noch keine Wählerstromanalysen vor, welche die Bewegungen innerhalb der Parteien aufzeigen. So können wir nur vermuten, dass beispielsweise eine Absatzbewegung von FDP, CVP und BDP zur GLP passierte.

3. Wahlsystem:

Das Wahlsystem mit dem Sitzzuteilungsverfahren im Hagenbach-Bischoff-Verfahren begünstigt die grossen Parteien. Die Hürden für Sitzgewinne sind für Kleinparteien wie die GLP und die Grünen hoch, gerade in kleinen und mittelgrossen Kantonen. Die GLP ist zunächst ein Zürcher Phänomen, im Kanton Bern hat sie einen soliden Stand. In den urbanen Kantonen Basel-Stadt und Genf kommt sie hingegen nicht vom Fleck, und auch in den bevölkerungsreichen Kantonen Waadt und St. Gallen köchelt sie auf kleiner Flamme.

Rund ein halbes Jahr vor den eidgenössischen Wahlen sieht es danach aus, dass Grüne, GLP und SP dann zulegen können. Bei SVP, BDP und CVP sind Verluste zu erwarten. Die Ausschläge dürften allerdings nicht so spektakulär ausfallen wie bei einigen kantonalen Wahlen im Frühling.

Mark Balsiger


Die Mitte darbt, FDP und Grüne ziehen davon

Bald einmal zweieinhalb Jahre sind seit den Nationalratswahlen 2015 verstrichen. Wo stehen die Parteien, nachdem seither 15 kantonalen Wahlen stattgefunden haben? Für eine Zwischenbilanz beantwortete ich «20Minuten»-Redaktor Sandro Büchler ein paar Fragen. Das Interview in seiner ganzen Länge wird hier wiedergegeben:

15 Kantone haben seit dem 15. Oktober 2015 ihre Parlamente neu bestellt. Was hat Sie überrascht?

Mark Balsiger: Die GLP. Sie hat 2015 einen doppelten Kinnhacken erhalten: Zuerst schiffte ihre erste Volksinitiative komplett ab, ein halbes Jahr später verlor sie sieben Sitze. Doch sie ist wieder da. Inzwischen holte sie auch in Städten wie St. Gallen, Schaffhausen, Luzern und Zürich je einen Sitz in der Regierung. Dazu hat die Partei mit dem «GLP Lab», einem Politlabor, 2016 eine Innovation geschaffen, die junge Leute anzieht und neue Ideen anstösst. Das war clever!

Auf der linken Seite hat die SP, aber vor allem die Grünen Sitze gewonnen. Mit welchen Rezepten haben sie gepunktet?

Bei den Nationalratswahlen 2015 kam es zu einem Rechtsrutsch (SVP: + 2,6%, FDP: +1,1%). Das hat die linke Seite geweckt, und bei den kantonalen Wahlen beobachten wir seither ein Korrektiv. Davon profitieren vor allem die Grünen, die sich als Gegengewicht der Rechtsbürgerlichen positioniert haben. Die SP wiederum betreibt einen professionellen Wahlkampf, Stichwort: Telefonmarketing. Das zahlt sich aus.

Die CVP hat massiv Sitzverluste zu verzeichnen: Was hat diese Krise ausgelöst?

Der Verlust an Wähleranteilen und Sitzen ist seit mehr als 30 Jahren im Gang. Der katholische Glauben ist kein Wahlkriterium mehr. Damit hat die CVP die wichtigste Bindung zum Volk verloren. Deshalb versucht sie es mit einem neuen Kurs, Stichwort Wertedebatte.

Wo steht die BDP zurzeit?

Die BDP zeigt in einigen Kantonen Auflösungserscheinungen, in St. Gallen und Freiburg ist sie beispielsweise aus dem Parlament geflogen. Ihr fehlt im Gegensatz zur GLP das Alleinstellungsmerkmal, und sie geht im lauten Konzert der anderen Player unter. Die Abspaltung von der SVP und die Hexenjagd im Jahr 2008 auf die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf liegen weit zurück. Davon kann die BDP nicht mehr profitieren.

Die FDP scheint auf Kurs. Was hat zu diesen Sitzgewinnen beigetragen?

Nachdem sie auf nationaler Ebene seit 1983 immer nur verloren hat, schaffte sie 2015 den Turnaround, weil das Pendel Richtung Wirtschaftsthemen ausschlug. Das ist die Domäne der FDP, und das gab ihr Schwung und Selbstbewusstsein. Sie tritt seither anders auf und hat wieder den Anspruch, zu führen. Das macht sie für Mittewähler wieder attraktiv.

2015 war die SVP zusammen mit der FDP Siegerin bei den eidgenössischen Wahlen. Jetzt stagniert die SVP. Was ist passiert?

Sie scheiterte mit ihrem Prestigeobjekt, der Durchsetzungsinitiative – ein arger Dämpfer. Zudem reisst ihr Spitzenpersonal nicht mit: Bundesrat Guy Parmelin bleibt blass, Parteipräsident Albert Rösti geht die Volkstümlichkeit eines Toni Brunner ab, Christoph Blocher wird nicht mehr jünger.

Welche Aussagekraft haben die kantonalen Ergebnisse für die nationalen Wahlen 2019?

Erst die Wahlen in Baselland und Zürich im nächsten Frühling geben klare Anhaltspunkte über den Formstand der Parteien. Weil Zürich die Medienhauptstadt des Landes ist und dieser Kanton der mit Abstand einwohnerstärkste, haben die Zürcher Wahlen Einfluss auf die Nationalratswahlen ein halbes Jahr später. In Zürich gilt darum für jede Partei: Verlieren verboten!

Wird der links-grüne Höhenflug weitergehen?

Das links-grüne Lager erreicht jeweils 25 bis 28 Wählerprozente. Standard ist: Wenn die SP zulegt, verlieren die Grünen – und umgekehrt. Die beiden Parteien müssten sich absprechen, stärker differenzieren und so zusammen ein grösseres Wählerpotential erreichen. Eine der beiden Parteien sollte in die politische Mitte ausstrahlen.

Hat die CVP die Talsohle überschritten und geht es wieder aufwärts?

Viele Beobachter sagen, die Neupositionierung durch Präsidenten Gerhard Pfister sei gescheitert. Doch dieses Fazit kommt zu früh, man kann es nach den nationalen Wahlen 2019 ziehen. Eine bösartige Auslegung wäre, dass die CVP ihre historische Aufgabe erfüllt hat. Der Kulturkampf ist überwunden, seit den Siebzigerjahren gibt es mehr Katholiken als Protestanten. In ihren (ehemaligen) Stammlanden wie der Zentralschweiz oder in St. Gallen ist die SVP inzwischen die stärkere Kraft. Das ist bitter.

Kann die FDP ihren aktuellen Schwung mitnehmen?

Ein Rücktritt von Bundesrat Johann Schneider-Ammann innerhalb der nächsten 12 Monate wäre für die Partei ideal. Die Nachfolgeregelung sorgte für viel mediale Beachtung und Dynamik.

Was kann die BDP tun, damit sie nicht weiter verschwindet?

Als junge, bürgerliche Partei müsste sie profilierten Kandidaten Karrieremöglichkeiten eröffnen, um attraktiv zu bleiben. Das Augenmerk gilt nun Bern, einer ihren drei Hochburgen, wo am 25. März die nächsten kantonalen Wahlen stattfinden. Ihr Abschneiden hat Signalwirkung. Parteipräsident Martin Landolt spricht von einem «Heimspiel». Auch wer kein Fussballexperte ist, weiss: Bei Heimspielen sollte man gewinnen oder wenigstens Remis spielen. Ich bin gespannt, ob das der BDP am nächsten Sonntag gelingt.

Wie kann sich die SVP bis 2019 in Szene setzen?

Im Herbst dieses Jahres kommt ihre Selbstbestimmungsinitiative («Fremde Richter») vors Volk. Dann findet sie sich in ihrer Lieblingsposition wieder: Alle anderen gegen die SVP. Verliert sie, gehen die anderen Parteien gestärkt ins eidgenössische Wahljahr.

Ein Teamplayer wird Parteipräsident

Jürg Grossen übernimmt bei der GLP im August das Parteipräsidium von Martin Bäumle. Ich porträtierte ihn in meinem letzten Buch und komme in diesem Posting zum Schluss: Der Berner Nationalrat könnte für die 5-Prozent-Partei zu einem Glücksfall werden.

Nach etwas Nachdenken ist es nur logisch, dass Nationalrat Jürg Grossen (BE) nun Präsident der GLP Schweiz werden soll. Seine beiden Parteikolleginnen Tiana Angelina Moser (ZH) und Kathrin Bertschy (BE) sind zu wichtig in ihren aktuellen Ämtern, die Grünliberalen brauchen Stabilität, nachdem sie 2015 bös gerupft worden waren.

Moser ist seit Ende 2011 Fraktionschefin der Grünliberalen. Sie hat sich in den letzten Jahren quer durch alle politischen Lager viel Respekt erarbeitet, in der „Arena“ wie im „SonnTalk“ setzt sie sich selbstbewusst in Szene, und sie macht ihren Job weiterhin lustvoll und engagiert, ohne verbissen zu wirken.

Bertschy ist Präsidentin des „glp lab“, einem politischen Labor und Think Tank. Erst vor Jahresfrist gegründet, sorgt dieser Verein bereits für frische Ideen, er zieht unabhängige Köpfe und Nachwuchstalente an. Seit zweieinhalb Jahren ist Bertschy zudem Co-Präsidentin von alliance F, dem Bund Schweizer Frauenorganisationen. Gesellschaftspolitisch hat er eine starke Stimme, und Gesellschaftspolitik ist eines der Steckenpferde der Berner Nationalrätin und Ökonomin.

Den medialen Schlagabtausch liebt sie nicht, ihr liegt die Arbeit im Hintergrund, das Formen eines Geschäfts, was schon zu ihrer Zeit als Parlamentarierin in der Stadt Bern so war. Im öffentlichen Auftritt kann Bertschy arrogant werden, etwa wenn ihr ein anderer Podiumsteilnehmer das Wasser nicht reichen kann, und das kommt oft vor. Als Parteipräsidentin liegt ein solches Verhalten nicht drin.

Doch zurück zu Jürg Grossen. Er ist in vieler Hinsicht das Gegenteil seines Vorgängers Martin Bäumle. Die Gegensätze:

– Bergler vs. Zürcher
– Berner vs. Schnellsprecher
– Unternehmer vs. Berufspolitiker
– Teamplayer vs. Einzelkämpfer
– volksnah vs. unnahbar
– gesellig vs. rastlos

Bäumle war 2004 einer der Gründer der Grünliberalen. Er ist ihre Vaterfigur, ein Getriebener, der die Partei mit riesigem Engagement aufbaute und ihre Mitglieder unermüdlich antrieb. Er selber schonte sich nie, was 2014 zu einem Herzinfakt führte. Parteiintern wird das Wirken des Chrampfers in den höchsten Tönen gelobt, die Medien sind ihm gegenüber ambivalent, Bäumle ist ihnen zu rational, zu besserwisserisch und frei von Charisma. Die Öffentlichkeit wurde mit ihm nie richtig warm, sonst hätte er den Sprung in den Zürcher Regierungsrat geschafft.

Als Präsident kann Grossen für seine Partei zu einem Glückfall werden. Er ist einer der wenigen Unternehmer unter der Bundeshauskuppel. Seine beiden Firmen, die er 1994 und 2009 gegründet hatte, beschäftigen heute rund 40 Mitarbeitende und setzen Photovoltaikanlagen, Gebäudesteuerung und Elektroinstallationen in Betrieb. Damit verkörpert Grossen den idealtypischen Grünliberalen, der Unternehmergeist und grünes Gedankengut vereint. Das verleiht ihm Glaubwürdigkeit.

Der 48-jährige Berner Oberländer ist ausgeglichen und empathisch, er schöpft Kraft aus seiner Familie und den Bergen. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern macht er sein Glück nicht von einem Amt abhängig. Die ausgeprägte Ego-Mentalität, die in Bundesbern allgegenwärtig ist, hat Grossen nicht befallen. Er ist nicht laut und kein Blender, sondern ein Teamplayer, der die Menschen mag. Und die Menschen mögen ihn. Was viele nicht wissen: Grossen trainierte früher Fussball-Junioren. Das ist eine Lebensschule, wenn man es richtig macht, und Grossen machte es richtig, erzählte man mir in seiner Heimat.

In der politischen Arena trifft Grossen nicht auf Teenager, sondern auf Alphatiere, die mit allen Wassern gewaschen sind: Martin Landolt (BDP), Christian Levrat (SP), Gerhard Pfister (CVP) und Regula Rytz (Grüne). Ob Petra Gössi (FDP) und Albert Rösti (SVP), die ihre Parteien seit Frühling 2016 präsidieren, auch zu überzeugenden Figuren werden, ist noch offen. In jedem Fall muss Grossen kräftig zulegen, wenn er im Scheinwerferlicht der Medien nicht untergehen will.

Die GLP verloren bei den eidgenössischen Wahlen 2015 die Hälfte ihrer Mandate (von 14 auf 7). Das war ein herber Schlag, auch wenn in Erinnerung gerufen werden muss, dass sie 2011 nicht weniger als 6 Restmandate ergattern konnte. Das letzte Mal war ihr das Proporzglück nicht mehr hold, was auch eine Einbusse von rund 200’000 Franken (Fraktionsbeiträge) pro Jahr bedeutet.

Die Grünliberalen wollen 2019 wieder zulegen. Sie behaupten, in der politischen Mitte bestünde eine „grosse Lücke“. Das halte ich für übertrieben, aber: Es gibt eine Nische und diese konnten sie besetzen. Wählerstromanalysen zeigen, dass sie im Teich von FDP, SP und den Grünen fischen konnten – und sie wirken attraktiv auf (ehemalige) Nichtwählerinnen. Laut der jüngsten Verortung von smartvote ist die GLP die mit Abstand liberalste Partei. Dass muss sie auf dem Markt zu verkaufen wissen.

Bei der Bilanz nach 12 kantonalen Wahlen seit den eidgenössischen Wahlen 2015 steht sie leicht im Plus (+ 2 Mandate) da, während die anderen Mitteparteien massiv verloren haben: die CVP rund 5 Prozent (- 22), die BDP sogar 10 Prozent (- 8) ihrer Sitze.

Nachtrag: Andere Beiträge und Einschätzungen vom 30. Juni/1. Juli 2017:

Ein Landei als Fackelträger der Progressiven (NZZ, Simon Hehli)
Der neue GLP-Präsident sieht sich als Teamchef (Der Bund, Claudia Blumer)
Berner soll GLP aus Krise führen (Radio SRF, Echo der Zeit/Andrea Jaggi)
Jürg Grossen wird neuer Chef der Grünliberalen (SRF-Tagesschau)
Teamplayer folgt auf Workaholic (Berner Zeitung, Christoph Aebischer)