Es wäre der falsche Weg, jetzt ein Zeichen zu setzen

Das Leben normalisiert sich schrittweise, an Tischgesprächen geht es inzwischen wieder um Ferienpläne, Tinder und Kinder, die zahnen. Omnipräsent bleibt aber die Pandemie, die vorübergehend alles auf den Kopf gestellt hatte.

Am nächsten Sonntag stimmen wir über das Covid-19-Gesetz ab, das im Schatten der anderen vier Vorlagen steht. Wichtig ist es trotzdem, insbesondere wegen den Finanzhilfen für Künstlerinnen, Selbständige und Leute mit bescheidenen Einkommen.

Der Bundesrat managt die Corona-Krise seit Frühjahr 2020 auf Basis von Epidemiengesetz und Notrecht, das jeweils auf sechs Monate befristet ist. Das Parlament wiederum hat im letzten Herbst das neue Covid-19-Gesetz gutgeheissen und als dringlich erklärt, d.h. es ist seither in Kraft.

Mehrere Gruppierungen ergriffen das Referendum, weil ihnen die Macht des Bundesrats, die Verschuldung oder die Art der Pandemiebekämpfung missfällt. Deswegen können wir über das Covid-19-Gesetz abstimmen, und das ist gut so.

Das neue Gesetz verknüpft Teile, die nichts miteinander zu tun haben, zu einem Flickenteppich. Das entspricht nicht der reinen Lehre (hier die Einheit der Materie), aber erstens bleiben die politischen Rechte gewährleistet und, zweitens, ist die Schweiz noch immer in einer anspruchsvollen Lage.

Das Gesetz liefert die Basis, um Unternehmungen, Selbständige und Arbeitnehmer finanziell zu unterstützen. So sind beispielsweise die Kurzarbeitsgelder für schlecht Verdienende geregelt: Angestellte, die einen Monatslohn bis 3470 Franken haben, erhalten 100 Prozent ausbezahlt statt der üblichen 80 Prozent.

Die Vorgeschichte dieser Abstimmungsvorlage ist kurios und in der Schweizer Geschichte seit 1848 noch nie vorgekommen. Bei einem Nein würden die Finanzhilfen noch bis am 25. September weiterlaufen (ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes). Doch danach gäbe es eine Lücke. Bestehende Gesetze müssten stattdessen revidiert und dem Referendum unterstellt werden, um dasselbe Ziel zu erreichen. Wertvolle Zeit würde verstreichen, die finanzielle Unterstützung wäre vorübergehend blockiert, was zu tiefem Frust, Arbeitslosigkeit und Konkursen führte.

Unlängst an einem Tischgespräch, das sich um die Pandemie und das Covid-19-Gesetz drehte, bekannte jemand, Nein zu stimmen. «Damit will ich ein Zeichen setzen!», erklärte diese Person.

Es ist in der Tat so, dass der Bundesrat und die Kantone längst nicht alles richtig gemacht haben in den letzten 15 Monaten. Trotzdem mahne ich zur Vorsicht: Beim Abstimmen helfen Kopf und Herz deutlich zuverlässiger als negative Emotionen. Das gilt auch beim Covid-19-Gesetz.

Wer mehr Information möchte – seitens des Bundes und des Nein-Lagers:

Dossier des Bundes
Komitee «Covid-Gesetz Nein» (Freunde der Verfassung)

Virus-Kreation: Steven Götz, Bern. 

Was das CO2-Gesetz mit Appenzell zu tun hat

Seit einer Woche kursiert im Netz ein Videoclip über das C02-Gesetz, das eine alte Masche bedient: Angstmacherei. Autofahren werde ab dem Jahr 2030 verboten, wird da beispielsweise behauptet. Mit Verlaub, aber das ist Chabis.

Das C02-Gesetz, über das wir am 13. Juni abstimmen, kommt ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, das Verursacherprinzip und Lenkungsabgaben. Das ist liberal. Wer jeden Tag 200 Kilometer mit einem schweren SUV zurücklegt, bezahlt künftig jedes Jahr einige hundert Franken mehr. Wer Fahrrad fährt, erhält jeweils Ende Jahr Geld zurück. Wer viel fliegt, bezahlt mehr. Ein Beispiel: Anwalt Bucher (siehe Sujet am Ende dieses Postings) fliegt in diesem Jahr aus beruflichen Gründen viermal von Zürich nach Chicago. Das kostet seine Kanzlei zusätzlich 480 Franken. Wir dürfen vermuten, dass Herr Bucher wegen solchen Mehrkosten keine schlaflosen Nächte hat.

Die Hälfte der Flugticketabgabe und zwei Drittel der C02-Abgaben, die auf Benzin, Diesel, Heizöl und Gas erhoben werden, werden an die Bevölkerung zurückbezahlt; Kinder erhalten denselben Betrag wie Erwachsene (siehe Familie Baumgartner im Sujet unten). Menschen und Firmen mit einem kleineren C02-Fussabdruck haben Ende Jahr also mehr im Portemonnaie bzw. in der Kasse; es wird ihnen via Krankenkassenprämien zurückvergütet.

Die andere Hälfte der Flugticketabgabe geht in einen Klimafonds, der neu geschaffen wird. Mit diesem Geld werden beispielsweise das Gebäudeprogramm, Ladestationen für Elektroautos und Schutzbauten in den Bergen mitfinanziert. Es geht um Innovationen, die letztlich zu einer schrittweisen Dekarbonisierung führen.

Berechnungen der NZZ zeigen, dass Menschen mit bescheidenen Löhnen mehr profitieren als Gutverdienende. Leute aus Städten und Agglomerationen wiederum bezahlen mehr als solche aus Randregionen. Damit wäre eine weitere Mär, die die Gegner auftischen, entlarvt.

Ein weiterer Aspekt: Wie jedes andere Land ist auch die Schweiz von Erdöl und Erdgas abhängig. In den letzten zehn Jahren gaben wir 80 Milliarden Franken für den Import dieser beiden Rohstoffe aus. Pro Jahr entgehen uns also 8 Milliarden Franken an Wertschöpfung. Das soll nicht auf x Jahre so bleiben. Vielmehr geht es darum, einen immer grösser werdenden Anteil dieser Summe in der Schweiz selber zu investieren und die Wirtschaft schrittweise umzubauen. Utopie? Chabis, die findigen Köpfe und Unternehmungen sind längst daran. Sie brauchen aber noch einen kräftigen Schub. Das CO2-Gesetz hat ein paar Schwachstellen, ist aber insgesamt austariert und sozial. Glaubt man den Umfragen, steht es auf der Kippe.

Nötig ist es, weil die Schweiz 2015 zusammen mit 188 anderen Staaten das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet hat. Bis 2030 müssen wir es schaffen, den Ausstoss von Treibhausgas gegenüber 1990 zu halbieren. Die Schweiz ist nicht schlecht unterwegs, muss aber noch einen Gang höher schalten, um dieses Ziel zu erreichen. Klimaleugner gibt es inzwischen praktisch keine mehr, aber immer noch viele Leute mit einer «Fuck-the-Planet»-Einstellung.

Natürlich, die Schweiz rettet mit einem griffigen CO2-Gesetz das Weltklima nicht. Aber wir können doch nicht einfach am Strassenrand warten und mit hochgezogenen Augenbrauen auf die drei grössten CO2-Emittenten, die China, USA und Indien, zeigen. Stellen wir uns vor, die Appenzöller entscheiden an der nächsten Landsgemeinde, dass sie keine direkte Bundessteuer mehr erheben wollen. Ihr Anteil an den Einnahmen aller Kantone beträgt zurzeit gerade einmal 1,4 Prozent.

«Balsiger, schliiift’s?! Ein solcher Move würde den Appenzöllern nie in den Sinn kommen!»

Schon klar. Genauso wie Appenzell-Innerrhoden zur Schweiz gehört, gehört die Schweiz zur Weltgemeinschaft – beide müssen ihren Verpflichtungen nachkommen. Das Zauberwort heisst: Gemeinsinn.

Weitergehende Information: Das Dossier des Bundes «Co2-Gesetz und Klimaschutz» ist hier verlinkt.

Foto: appenzellerlinks.ch 

Ein Sieg für die Satire

Gestern hat die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) einen wichtigen Fall entschieden: Sie wies eine Beschwerde gegen die SRF-«Late-Night-Show» von Dominic Deville vom 22. November letzten Jahres ab.

Damals setzte sich die Sendung praktisch über die ganze Länge mit den Gegnern der Konzernverantwortungsinitiative auseinander. Deville sparte nicht mit irren Übertreibungen und beissendem Spott – Satire eben.

Eine Woche vor der Abstimmung war deren Ausgang offen, die Nerven lagen blank, beide Lager hatten sich schon seit Monaten eine wüste Abnützungsschlacht geliefert. Devilles Satire-Sendung lieferte neue Munition.

Die Gegner schossen aus allen Rohren, SRF erhielt eingeschriebene Briefe, man wollte die Chefs im «Leutschenbach» an die Kandare nehmen und Satire reglementieren, jawohl, reglementieren! Der Fernsehfabrik am Stadtrand Zürichs drohte noch mehr Bürokratie.

Die «Late-Night-Show» sei Propaganda und werde das Abstimmungsergebnis beeinflussen, wurde wütend proklamiert. Das ist absurd: Zum einen ist das Publikum am Sonntagabend mündig, um dieses Satire-Format richtig einschätzen zu können. Zum anderen ist der Meinungsbildungsprozess bei Abstimmungsvorlagen ausgesprochen komplex – ein paar derbe Nummern bringen die Leute nicht dazu, statt einem Nein ein Ja auf ihren Stimmzettel zu schreiben. Zudem ist Dominic Deville eine Kunstfigur, wie jetzt auch die UBI feststellte, und kein Journalist, der ein News- oder Hintergrundformat moderiert.

Satire darf nicht alles, klar. Sie muss aber weder sachgerecht, noch ausgewogen sein. Vielmehr muss sie wehtun – richtig wehtun. Ihr kennt den Schmerz, wenn man mit Merfen eine offene Wunde desinfiziert. Genau so.

Es geht bei der Beurteilung nicht darum, ob man Dominic Deville und seine Sendungen gut oder schlecht findet. Es geht auch nicht darum, ob man für oder gegen die Konzernverantwortungsinitiative war. Es geht lediglich um diese eine Sendung. Punkt.

Die einstimmige Entscheidung der achtköpfigen UBI ist ein Sieg für die Satire. Sie stärkt Deville und andere Satiriker in diesem Land. Dass Realsatire die Satire längst überholt hat, ist eine andere Geschichte.

Zum Nachschauen: Die Sendung vom 22. November 2020.

Die Crux mit dem Ständemehr

Im 19. Jahrhundert war das Ständemehr ein wichtiges Instrument zur Integration der katholisch-konservativen Kantone. In den letzten Jahrzehnten hat es den Zusammenhalt des Landes mehrmals strapaziert. Es bräuchte eine Debatte ohne Ressentiments und Abwehrreflexe. 

Im Fussball gewinnt das Team, das am meisten Tore schiesst. Bei Verfassungsänderungen in der Schweiz wird es komplizierter: Es gewinnt nur, wer das Doppelte Mehr erreicht. Diese Hürde führt gelegentlich zu Resultaten, die das urschweizerische Prinzip der Machtteilung unterspülen. Gestern war das mit der Konzernverantwortungsinitiative wieder einmal so weit: Ein knappes Volks-Ja (50.7 Prozent, die Differenz beträgt 37’500 Stimmen) steht einem deutlichen Stände-Nein gegenüber (12 Kantone und 5 Halbkantone haben die Vorlage abgelehnt.)

Das Ständemehr wurde in den letzten 170 Jahren immer mächtiger. Ein Beispiel: Der Kanton Zürich zählt heute rund 1,5 Millionen Einwohner, Appenzell-Innerrhoden wiederum 16’000. Die Stimmkraft eines Zürchers ist heute 40 Mal schwächer als diejenige eines Innerrhödlers. Zum Vergleich: Um das Jahr 1850 herum differierte die Stimmkraft zwischen Zürich und Appenzell-Innerrhoden noch mit einem Verhältnis von 1 zu 10. Die Macht ballt sich auf dem Land, was bei Abstimmungen zu massiven Verzerrungen führen kann. So genügt inzwischen eine theoretische Sperrminorität von 9 Prozent, um Verfassungsänderungen zu verhindern.

Mit der Gründung des Modernen Bundesstaats 1848 wurde das Volksmehr eingeführt, für Verfassungsänderungen musste zudem das Ständemehr erreicht werden. Angesichts des Kulturkampfes, der damals tobte, war das eine kluge Entscheidung. Die katholisch-konservativen Kantone, im Sonderbundskrieg 1847 von den Liberalen besiegt, erhielten so ein Vetorecht. Ihre Ablehnung gegenüber dem Bundesstaat weichte sich weiter auf, als 1874 das Referendum eingeführt wurde – eine zweite starke Waffe. Die Integration der Katholisch-Konservativen konnte 1891 mit der Wahl des Luzerners Josef Zemp in den Bundesrat und der Einführung der Volksinitiative weiter vorangetrieben werden.

Historisch betrachtet war das Ständemehr für die politische Stabilität des Landes wichtig. Inzwischen wirkt es wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, der Kulturkampf ist vorbei, die Schweiz hat sich zu einer Willensnation zusammengerauft. Dafür ist der Stadt-Land-Konflikt inzwischen wieder allgegenwärtig, seine Sprengkraft beachtlich. Die konservativ-ländliche Schweiz und die progressiv-urbane Schweiz driften auseinander. Als Ende September das Jagdgesetz in einer Referendumsabstimmung knapp abgelehnt wurde, heulten einzelne Leute in den Bergkantone auf. Jetzt sind es die Befürworterinnen und Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative in den Ballungsräumen.

Eine lebendige Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Diese Qualität hat unser Land zum Erfolg geführt. Das Ständemehr ist kein Heiligtum, sondern sollte aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts und in Ruhe diskutiert werden dürfen. Der letzte Versuch, 2013 war’s, verhallte bald. Wie es scheint, kommt das Thema nur in einem direkten Kontext mit einer problematischen Abstimmung auf die Agenda – 2013 wegen des Familienartikels, jetzt wegen der Konzernverantwortungsinitiative. Das ist ungut, weil Emotionen einer sachlichen Auseinandersetzung zuwiderlaufen.

Verschiedene Reformvorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch. Einige setzen direkt beim Ständemehr an, andere machen eine Stärkung der urbanen Zentren beliebt. Politologe Sean Mueller hat in «Schweizerische Demokratie» (2017, Verlag Paul Haupt) fünf Reformvorschläge und ihre Auswirkungen zusammengetragen.

Nein, das Ständemehr «gehört nicht auf den Müllhaufen der Geschichte», wie das eine Jungsozialistin auf Twitter forderte. Aber eine sanfte und leicht verständliche Reform wäre aus meiner Sicht angezeigt: Erreicht das Volksmehr beispielsweise 53 oder 54 Prozent, ist das Ständemehr überstimmt. Das Volksmehr erhielte eine Aufwertung, gleichzeitig hätten die kleinen Kantone weiterhin eine Vetomacht.

Mit dem Ständemehr ist es eine Crux: Für eine Anpassung müsste die Verfassung geändert werden, und dafür bräuchte es das Ständemehr. Das Thema ist nicht neu, dieser Text in seinem Kern auch nicht, aber man müsste wenigstens den Mut aufbringen, eine Debatte darüber zu führen.

Ein dreistes Märchen zum Budget der Konzerninitiative

In Schweizer Abstimmungskampagnen kann selten mit der grossen Kelle angerichtet werden. Ausnahmen waren beispielsweise das EWR-Referendum (1992), der Betritt zur UNO (2002) oder die Weiterführung der Personenfreizügigkeit (2009). Bei der letztgenannten Vorlage wurden laut einer sotomo-Studie insgesamt 11.1 Millionen Franken ausgegeben (Pro und Contra).

«Big Money» ist auch bei der Konzernverantwortungsinitiative im Spiel, die am 29. November zur Abstimmung kommt. Die Zeitungen des Tamedia-Verbunds schreiben heute (hinter der Paywall), dass eine Rekordsumme in diesen Abstimmungskampf investiert werde (siehe Grafik unten). Laut den Additionen des Journalisten verfügen die Befürworter mit 13.25 Mio. Franken über ein deutlich höheres Budget als die Gegner mit 5.25 Mio. Franken.

Eine Zahl ist mir sofort ins Auge gestochen.

Es geht es um die Postwurfsendungen der Befürworter, in der Grafik als «Briefeinwürfe» bezeichnet, die 8 Mio. Franken verschlungen haben sollen.

Dröseln wir das auf:

In der Schweiz gibt es derzeit knapp vier Millionen Privathaushalte. Für eine Vollabdeckung braucht es gemäss der Post eine Auflage von knapp 4,4 Millionen Exemplaren. Die Zustellung kostet 639’400 Franken (siehe Printscreen am Schluss dieses Postings). Zusammen mit den Aufwendungen für den Druck kommen die 800’000 Franken, die von Tamedia genannt werden, grosszügig aufgerundet hin.

Der Journalist erwähnt aber, dass «mindestens zehn Briefwurfsendungen in der ganzen Schweiz» gemacht wurden. Man muss sich das einmal vorstellen: In den wenigen Monaten einer Abstimmungskampagne werden insgesamt zehn Mal in alle vier Millionen Haushaltungen Flyer und andere Drucksachen verteilt! Das wäre, als bekannte Referenz, zehnmal das «Extrablatt» der SVP!

Dass bei der KVI oder Unternehmensverantwortungsinitiative (UVI), wie sie auch genannt wird, Goliath gegen Goliath kämpft, ist schon seit Langem klar. Das Initiativkomitee konnte für sein Anliegen zahllose Spenden generieren. Dass es aber zehn verschiedene Postwurfsendungen in alle Haushaltungen des Landes finanzierte und durchzog, können wir als dreistes Märchen abbuchen. Nebst all den Irreführungen und Diffamierungen durch beide Lager ist das ein weiterer Tiefpunkt dieses Abstimmungskampfes.

Eine mehrfache Vollabdeckung wäre auch ausgesprochen ungeschickt gewesen: In den USA verzichtete das demokratische Präsidentschaftsduo Biden/Harris in diesem Jahr in den traditionell blau wählenden Gliedstaaten Kalifornien und New York weitgehend auf Wahlkampf. Vergleichbar präsentiert sich die Situation für das Ja-Lager der KVI: Die Westschweiz und Basel-Stadt sind «safe». Dort müssen die Stimmbürgerinnen und -bürger nicht mehr intensiv massiert werden. Vielmehr sind wegen dem Ständemehr «Swing Cantons» wie Basel-Landschaft oder Solothurn zentral.

Was in der Auflistung der Tamedia-Zahlen auch nicht stimmen kann, sind die Agenturkosten. Die genannten 200’000 Franken pro Lager sind ein schlechter Treppenhauswitz.

Die echten Kosten für alle Budgetposten könnten rechererchiert werden; mir fehlt die Zeit dazu.

Nicht noch ein zweites Mal ein 49.7%-Fiasko

Vor fünf Jahren stritten wir lange und heftig über die Masseneinwanderungsinitiative (MEI). 50.3 Prozent stimmten ihr am 9. Februar 2014 schliesslich zu. Dieser Abstimmungstermin brannte sich bei vielen Menschen ins Gedächtnis ein. «Never again!» haben sie sich damals im «49.7-Lager» vorgenommen.

Tausende entschuldigten sich noch am Abstimmungssonntag auf Facebook bei ihren internationalen «friends», empört, wortreich und weinerlich, oft in englischer Sprache. Wie viele von ihnen die Abstimmung verpennt haben, ist nicht bekannt.

Die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» (SBI) ist eine Art Zwillingsschwester der MEI: Auch die SBI ist schwammig formuliert, sie setzt Bewährtes aufs Spiel und schadet der Exportnation Schweiz enorm. Zudem beschneidet sie Grundrechte, die für Minderheiten und Einzelpersonen von zentraler Bedeutung sind.

Am 9. Februar 2014 betrug die Differenz gerade einmal 19’300 Stimmen. Am nächsten Sonntag geht es wieder knapp aus: Ich schätze, dass die Stimmbeteiligung zwischen 52 und 55 Prozent beträgt. Die Kernstädte werden die SBI sehr deutlich ablehnen, auf dem Land hingegen ist die Zustimmung gross. Matchentscheidend könnte die Agglomeration werden: Drehen Arlesheim, Dietikon, Emmen, Zollikofen, Gossau (SG) usw. ins Ja- oder ins Nein-Lager? Ein zweites Mal bei einem Nein-Anteil von 49.7 Prozent steckenbleiben, wäre ein Fiasko. Wir haben es in der Hand.

Die Umsetzung der MEI wurde begleitet von einer dreijährigen Knatschphase. Sie kann auf zwei Hauptsätze eingedampft werden: «Der Volkswille wird nicht umgesetzt!», lärmten die Initianten. «Sagt endlich, wie viele Leute pro Jahr einwandern dürfen!», konterte die Gegenseite. Das hat Risse in unserer Gesellschaft hinterlassen.

Ein letzter Punkt betrifft den Stil: Kritik sollte sich meiner Meinung nach stets auf die Vorlage konzentrieren, nicht auf die Absender. Gerade in diesem Abstimmungskampf zeigt sich allerdings, dass die Supporter der SBI immer wieder als «dumm», «ewiggestrig», «Nazis» usw. betitelt werden. In gewissen Fällen kommt das der Realität vielleicht nahe, ist aber überheblich und ausgrenzend. Wer jetzt einwendet, die Anderen hätten angefangen – was zwar stimmt -, erinnert sich hoffentlich an die tränenreichen Streitereien im Sandkasten.

Auge um Auge, Zahn um Zahn – wer Auseinandersetzungen so durchzieht, macht die politische Kultur kaputt. Als Teil der neuen Bewegung Courage Civil werde ich mich stets für Anstand und Respekt starkmachen. Gerade bei hart umkämpften Abstimmungsvorlagen.

Der Name ist Programm: Courage Civil

Seit Jahren wird der Rechtsstaat in der Schweiz attackiert. Volksinitiativen sind regelmässig nur noch ein Vehikel für politisches Marketing. Fake News untergraben das Vertrauen in die Medien. Populismus hat auch bei uns Einzug gehalten. Das alles ist Gift für die direkte Demokratie und das politische Klima.

Aus diesen Gründen habe ich in den letzten sechs Monaten damit begonnen, eine neue Bewegung aufzubauen: Sie heisst Courage Civil Civil und steht ein für rechtsstaatliche Prinzipien, Gewaltenteilung, unabhängige Medien sowie Respekt und Anstand im politischen Diskurs. Ihr Name ist Programm: Courage bedeutet Mut – courage wiederum ist vom französischen Wort cœur abgeleitet, also vom «Herz».

Die Bewegung ist parteipolitisch unabhängig. Sie erhebt ihre Stimme zu staats-, medien- und gesellschaftspolitischen Themen. Courage Civil will für breite Bevölkerungsschichten zu einem glaubwürdigen Anker werden. Dieses Ziel will die Bewegung unter anderem mit Positionspapieren, Diskussionsrunden und Kampagnen erreichen. Ihre Facebook-Seite, die sie von der Kampagne gegen «No Billag» übernehmen konnte, zählt 28’000 Likes. Somit hat sie eine grössere Reichweite als die Facebook-Seiten der etablierten Parteien. Das macht Courage Civil als Partner für andere Akteure interessant. Allerdings: «Wir wollen mit Argumenten überzeugen, Lärm machen andere schon genug. Vermutlich wenden sich deshalb viele Leute von der Politik ab», schreiben wir auf unserer Website.

In der Schlussphase dabei im Kampf gegen die Selbstbestimmungsinitiative

Courage Civil ist von heute Montag an aktiv: Im Abstimmungskampf gegen die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) nutzt die Bewegung ihre reichweitenstarke Facebook-Seite sowie ihr Twitter-Konto. In den verbleibenden drei Wochen verbreitet sie dort Inhalte, die ihr die breite Allianz gegen die SBI zur Verfügung stellt. In der ersten Phase will sich Courage Civil als zuverlässige Partnerin empfehlen.

Courage Civil wird begleitet von einem Beirat. Dieser umfasst zurzeit 40 Personen aus Wirtschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft. Vertreten sind drei Generationen aus den verschiedensten Regionen der Schweiz, unterschiedliche Berufe und Lebensentwürfe. Courage Civil ist rechtlich ein Verein; er will sich vorläufig mit Mitgliederbeiträgen und Spenden finanzieren.

Jackpot-Demokratie mit Geld aus dem Ausland


Das neue Geldspielgesetz
ist kein gutes Gesetz. Aber es ist besser als der Status Quo. Vor diesem Hintergrund ist das Ja von heute positiv. 72,9 Prozent der Stimmberechtigten entschieden pragmatisch.

Auch ich stimmte Ja. Zudem wurde meine Agentur Mitte April vom Komitee «Gemeinnütziges Geldspielgesetz Ja!» an Bord geholt. Weil keine Partei den Lead übernehmen wollte, übernahm ich diese Aufgabe. Ich wurde also quasi in der 75. Spielminute als Joker eingewechselt.

Mein Engagement hat in meinem beruflichen und privaten Umfeld viele Rückfragen ausgelöst. Es gibt zwei eminent wichtige Gründe, weshalb ich für ein Ja kämpfte und diese will ich hier erläutern.

1. Politik ist kein Game

Es muss möglich sein, dass so genannte Behördenvorlagen auch die Volksabstimmung überstehen. Sonst droht der Stillstand und das Parlament verliert an Gewicht. Das Geldspielgesetz war nach sechs Jahren Arbeit austariert. Der Ständerat stimmte ihm mit 43 Ja gegen 1 Nein zu, der Nationalrat mit 124 Ja gegen 61 Nein (bei 9 Enthaltungen). Eine klare Sache, wie man damals dachte.

Die Hürden für Volksinitiativen und Referenden sind tief, selbst ungeübte Akteure schaffen es oft, genügend Unterschriften zu sammeln. Beim Referendum gegen das Geldspielgesetz pumpten ausländische Online-Casinos eine erkleckliche Summe in die Schweiz. Ein paar bürgerliche Jungpolitiker packten die Chance, um sich zu profilieren.

Das einzige Thema, das die Referendumsführer und später auch die linken Jungparteien einte, hiess Netzsperren. In der Vernehmlassungsantwort der Jungfreisinnigen (jf) sucht man dieses Schlagwort allerdings vergeblich, ihr wichtigstes Argument existierte noch gar nicht.

Fazit: Ein paar Jungpolitiker sind als opportunistische Spieler aufgeflogen. Politik ist aber kein Game. In der Politik haben Spielernaturen nichts zu suchen!

2. Referenden und Abstimmungen sind nicht käuflich!

Der Referendumskampf von jf, Junger SVP und Junger GLP wurde von ausländischen Online-Casinos mit 500’000 Franken alimentiert. Was für ein Gewicht hat diese Summe? Eine Faustregel besagt, dass ein Referendum in der Schweiz zwischen 150’000 und 300’000 Franken «kostet». Als im März die Finanzierung aus dem Ausland ruchbar wurde und die Medien ihren Job machten (siehe «Tages-Anzeiger» vom 23. März, PDF), traten die Jungpolitiker die Flucht nach vorne an. Das Wort «Transparenz» brauchten sie von da an regelmässig. Mehrere Schlüsselfiguren erklärten zudem, man nehme aus dem Ausland kein Geld mehr an.

Ende Mai wurde publik, dass ausländische Online-Casinos auch die Abstimmungskampagne finanziert haben – Jackpot-Demokratie. Wie hoch die Spende war, wollen die Jungpolitiker aber bis heute nicht sagen. Das schöne Wort «Transparenz» verschwand flugs im dunklen Keller. Wer die «Arena» vom 25. Mai jetzt schaut, ist erschüttert, wie in dieser Sendung gelogen wird! (Die entscheidende Sequenz beginnt ab Minute 42, rund um den «Prüfstand».)

Laut groben Schätzungen hatte das bürgerlichen Nein-Komitee zwischen einer und zwei Millionen Franken zur Verfügung. Die Ja-Allianz wiederum konnte drei Millionen in die Abstimmungskampagne investieren. Diese Summe machten die Befürworter schon vor langer Zeit öffentlich. Das Geld stammte je zur Hälfte von den Schweizer Casinos und der Sport-Toto-Gesellschaft. Diese finanzierte ihren Anteil übrigens mit Erträgen aus Immobilien. jf-Präsident Andri Silberschmidt sagte am Abstimmungssonntag in jedes Mikrofon, die Befürworter hätten nie Transparenz hergestellt. Das nennt man lügen.

Fazit: Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Schweizer Demokratie wurde versucht, ein Referendum und eine Abstimmung mit viel Geld aus dem Ausland zu kaufen. Es handelt sich um Firmen, die von Steueroasen wie Malta oder Gibraltar aus operieren, in der Schweiz keine Steuern bezahlen und sich um nationale Gesetze foutieren. Diese Einmischung finde ich ungeheuerlich.

So, jetzt dürfen Sie mich einen «digitalen Analphabeten» schelten. Über «Netzsperren» und dergleichen mag ich hier aber nicht diskutieren, sorry. Dieses Thema drehte zwei Monate lang in einer Endlos-Schleife – unflätig und mit viel Lärm!

Die Wir-Schweiz bleibt stärker als die Ich-Menschen

Der Abstimmungskampf dauerte fünf Monate, war ausgesprochen intensiv und leider oftmals gehässig. In der Schweizer Mediendatenbank werden vom 1. Oktober letzten Jahres bis am 28. Februar rund 7500 verschiedene Artikel referenziert. Pro Tag erschienen über dieses Thema also durchschnittlich 50 Texte. Das ist rekordverdächtig. «No Billag» liess kaum jemanden kalt, es ging faktisch nur um die SRG, die Vorlage spaltete das Land. Umso wichtiger ist das klare Resultat: Das Volk sagte mit 71,6 Prozent wuchtig Nein zur Verstümmelung bestehender Radio- und TV-Sender.

Über Monate hinweg arbeiteten sich Zehntausende von Menschen an der SRG und ihren Angestellten ab – von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer bis zur Wutbürgerin in der hinterfinstersten Gasse in Klein-Basel. Er war eine Abrechnung, unversöhnlich, demagogisch, mitunter sogar hasserfüllt. Das Reizwort «Flüchtlinge» wurde ersetzt durch «SRG» und sie musste für alles hinhalten, am Schluss sogar für die sibirische Kälte der letzten Wochen. In ihren Kommentaren liessen allerdings auch viele «No Billag»-Gegner Anstand und Respekt vermissen.

Es gibt Parallelen zur Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative vor zwei Jahren: Auch damals machte die Zivilgesellschaft den Unterschied. (Okay, der Begriff wurde in den letzten Jahren sehr oft verwendet.) Zehntausende von Einzelpersonen haben sich erneut für ein Nein stark gemacht. Dazu kamen die Efforts von Künstlerinnen, Comedians wie Giacobbo/Müller, Schauspielern, Volksmusik- und Sportverbänden. Operation Libero ist inzwischen auf derselben Flughöhe wie die grossen Parteien, das Komitee «Nein zum Sendeschluss» wiederum konnte 1,5 Millionen Franken an Spenden generieren. Zudem erhielt es von den Kreativen unentgeltlich rund hundert Videos zur Verbreitung, viele davon waren hochwertig produziert. Die Reichweite war mit 200’000 Leuten pro Tag so gross wie nie zuvor.

Die Wir-Schweiz bleibt also deutlich stärker als die Gruppe von Menschen, deren immergleiche «Ich-ich-ich»-Voten wir die letzten Monate gehört haben. Sie blenden aus, das Gemeinsinn unser Land stark gemacht hat.
Die Schlacht ist geschlagen, das Wasser bleibt unruhig, die SRG geht aber gestärkt aus dieser Abstimmung hervor. Sie sollte dem Kredit, den sie mit diesem Plebiszit erhalten hat, mit Demut und Offenheit begegnen. Es muss ihr gelingen, das Gärtchendenken, das sich mit der Konvergenz noch verstärkte, zu beenden. Die Arbeit der Leute in den Online-Abteilungen ist genauso wichtig wie bei Radio und Fernsehen. Ebenso wichtig ist ein Kulturwandel: Es reicht nicht mehr, wenn die Angestellten des Rundfunks einen guten Job machen. Die Programmschaffenden müssen in einen stetigen Austausch mit dem Publikum treten, zuhören, Inputs aufnehmen und vor allem: berührbar werden. Das kann in Schulen, Beizen und bei Service Clubs passieren, in der Stadt und auf dem Land. Mit Anbiederung hat das nichts zu tun. Die «Republik» zeigt, wie dieser Dialog funktionieren soll: «Wir wollen Gastgeber sein, nicht nur digital, auch physisch.»

Die SRG hat eine privilegierte Position. Als gebührenfinanziertes Medienhaus muss sie für die Menschen in unserem Land ein Anker im Sturm sein. Das ist möglich mit überzeugenden Inhalten, mit Dialog und mit Chefs, die intern geschätzt und extern glaubwürdig und empathisch sind. Das neue Generaldirektorengespann Gilles Marchand und Ladina Heimgartner kann diese Erwartungen hoffentlich einlösen.
Der US-Präsidentschaftskampf 2016 hat uns vor Augen geführt, wie mächtig Facebook, Algorithmen, russische Trollarmeen und Fake-News sind. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist anfällig auf eine ähnliche Entwicklung. Umso wichtiger ist die Rolle starker und unabhängiger Medien. Fakt ist: Die privaten Medien stecken in einer tiefen Finanzierungskrise. Die Presse hat von 2011 bis 2016 satte 37 Prozent ihrer Werbeeinnahmen eingebüsst. Das ist dramatisch. Insgesamt generierten sie 2016 noch 1,26 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Der Erlös der Online-Werbung in der Schweiz betrug 2016 bereits 1,09 Milliarden Franken. Der Löwenanteil dieser Summe fliesst zu den IT-Giganten im Silicon Valley, Apple, Amazon, Facebook und Google. Dort sitzt der Feind, nicht im Leutschenbach.

Ende der Neunzigerjahre führten die privaten Medienhäuser ohne Not die Gratiskultur ein. Damit haben sie sich selbst an die Klippen manövriert. Die Medienmanager glauben inzwischen nicht mehr daran, dass man mit Journalismus Geld verdienen kann. Entsprechend bauen sie die Portfolios um. Es geht darum, wer im kommerziellen Digitalgeschäft überlebt. Das Kerngeschäft von früher – die Information – wird dabei komplett marginalisiert. Nach 20 Jahren Gratiskultur ist die Bereitschaft, für Inhalte zu bezahlen, sehr bescheiden.

Übernahmen und Entlassungen werden auch die nächsten Jahre den Medienplatz Schweiz prägen. Das Trauerspiel um die Schweizerische Nachrichtenagentur sda ist ein aktuelles Beispiel. Umso wichtiger ist es, wenn sich das öffentliche Medienhaus SRG behaupten kann. Es hat eine Chance, wenn seine Vorgesetzten nun vieles richtigmachen.

Mark Balsiger

Disclaimer:
Ich war bei dieser Volksabstimmung Kampagnenleiter des Komitees «Nein zum Sendeschluss», also Partei.


Weitere Abstimmungskommentare:

Die «Aber» der schlechten Demokraten (Matthias Zehnder, privater Blog)
Die SRG kann nicht bleiben, wie sie ist (Patrick Feuz, Der Bund)
Es braucht dennoch eine SRG-Reform (Rainer Stadler, NZZ)
Was für ein Signal! (Kasper Surber, WOZ)
Volk beerdigt No Billag – Bürgerliche wursteln weiter
(Gabriel Brönnimann, Tageswoche)
Warum der No-Billag-Streit der Schweiz gut getan hat
(Jacqueline Büchi, Watson)
Nach der Schlacht ist vor der Schlacht (Dennis Bühler, Norwestschweiz)
Jubeltag für die SRG – Reformen sind dennoch nötig
(Claudia Blumer, Tages-Anzeiger)
Die Medienrevolution kommt sowieso (Dominik Feusi, Basler Zeitung)
SRG-Demut ist deplatziert (Erich Gysling, Infosperber)

Ein Rush Limbaugh wäre Gift für die Schweiz

Die Libertären wollen die AHV abschaffen, das Gesundheitswesen privatisieren und unrentable Postautolinien stilllegen. Für sie gibt es eine Maxime: „Der Markt soll es richten.“ Mit No Billag führen sie derzeit einen verdeckten Kreuzzug gegen die SRG. Tatsache ist: Der Markt richtet zuweilen hin, beispielsweise wenn in der kleinräumigen Schweiz Radio- und TV-Sender ohne Gebühren auskommen müssten. Eine Abstimmungsempfehlung gegen die No-Billag-Initiative, über die wir am 4. März abstimmen.  

Die Volksinitiative ist eine grossartige Errungenschaft und ein Motor der Demokratie. Seit ihrer Einführung vor bald 130 Jahren haben Volksinitativen viele Themen angestossen, innovativen Ideen zum Durchbruch verholfen und uns zu verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern gemacht. Die No-Billag-Initiative hingegen ist nicht innovativ, wie der Staatsrechtler und SRG-Kritiker Urs Saxer Ende Dezember in einem NZZ-Gastbeitrag monierte. Im Gegenteil, sie ist destruktiv. Sie schafft nicht Neues, sondern zerschlägt mit ihrer radikalen Formulierung die Medienvielfalt, die seit 1983 im audio-visuellen Bereich entstanden ist.

«No Billag» klingt beim ersten Hinhören attraktiv, ist aber irreführend. Ohne Radio- und TV-Empfangsgebühren verschwindet auf den 1. Januar 2019 auch die Finanzierungsgrundlage der SRG und von 34 privaten Radio- und Regional-TV-Sendern. Natürlich würden nach einem Ja einige Private versuchen, mit noch weniger Personal und noch tieferen Löhnen ein noch dünneres Programm anzubieten. Das Bundesparlament wiederum würde alles unternehmen, damit eine verstümmelte SRG wenigstens noch eine Informationssendung pro Tag produzieren könnte. Die Demokratie geht deswegen nicht unter, aber: Was einmal kaputt ist, ist kaputt. Die angepasste Bundesverfassung würden einen Wiederaufbau verunmöglichen.

Wie in jedem anderen europäischen Land wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch in der Schweiz von der Allgemeinheit finanziert. Drei Viertel des SRG-Budgets kommen aus dem Billag-Topf, bei den privaten Regional-TV-Sendern macht der Gebührenanteil durchschnittlich 53 Prozent aus. Es wäre illusorisch, den Ausfall mit Bezahlmodellen und noch mehr Werbung kompensieren zu können. Genau das fordert aber der wirre «Plan B» des Gewerbeverbands. Die Initianten wiederum präsentierten vor wenigen Wochen ihre Vorschläge, die jährlich bis zu 300 Millionen Franken Subventionen vorsehen, also Steuergelder. Damit zerlöchern sie ihre eigene Volksinitiative.

Beide Akteure blenden drei Realitäten aus:

– Das Werbevolumen für Radio und TV ist ausgeschöpft;
– Das TV-Publikum ist nur bereit, für Serien, Spielfilme, Porno sowie ein paar wenige Sportarten (insbesondere Fussball, Tennis, Boxen und Formel 1) zu bezahlen;
– Für das Medium Radio gibt es technisch noch keine Möglichkeiten, um Inhalte nur für Abonnenten bereitzustellen.

Natürlich, die SRG hat in der Vergangenheit Fehler gemacht; natürlich, ein paar ihrer Repräsentanten sind nicht volksnah; natürlich, das Medienhaus muss reformiert werden. Aber man kann nur eine SRG reformieren, die Substanz hat. Laut Wirtschaftsführern ist es nicht möglich, ein Unternehmen mit 6000 Angestellten innerhalb weniger Monate komplett neu auszurichten. Deshalb hinkt der Vergleich mit der Swisscom, die ab Ende der Neunzigerjahre schrittweise in den freien Markt entlassen wurde.

Was passiert, wenn die No-Billag-Initiative angenommen wird? Investoren träten auf den Plan, womöglich haben sie eine politische Agenda und verbreiten ihre Meinung ungefiltert. Mit Sicherheit sind sie gewinnorientiert, ihr Programm orientiert sich ausschliesslich an kommerziellen Kriterien: Gezeigt wird, was Quote bringt. Die Sparten Information und Kultur bringen keine guten Quoten und sind teuer; am Markt lassen sie sich nicht refinanzieren. Das ist in allen Ländern so. Eine solide Demokratie braucht aber unabhängige Medien.

Was im emotional geführten Abstimmungskampf untergeht: No Billag würde auch Radio SRF treffen. Gerade seine Programme sind aber beim Publikum sehr beliebt und erreichen täglich 2,6 Millionen Menschen, die im Durchschnitt 105 Minuten zuhören. Radio SRF und seine Pendants in den anderen Sprachregionen liefern in den Sparten Information, Kultur und Unterhaltung seit jeher hohe Qualität. Bei Befragungen belegen Radio SRF, RTS, RSI und RTR nach den Kriterien Glaubwürdigkeit, Vielfalt und Professionalität Jahr für Jahr den ersten Platz.

Das komplette Medienangebot kostet ab 2019 jeden Privathaushalt nur noch einen Franken pro Tag. Die Abgabe von 365 Franken pro Jahr muss man in ein Verhältnis stellen: In jedem Haushalt werden für den Medienkonsum im Durchschnitt 2770 Franken jährlich ausgegeben. Die Radio- und TV-Empfangsgebühr entspricht also etwa 14 Prozent.

Richten wir unser Augenmerk abschliessend auf die Bundesverfassung: Bei einer Annahme der Initiative würden im Artikel 93 zwei zentrale Absätze gestrichen:

2   (…) Radio und Fernsehen stellen die Ereignisse sachgerecht dar und bringen die Vielfalt der Ansichten angemessen zum Ausdruck.

5   Programmbeschwerden können einer unabhängigen Beschwerdeinstanz vorgelegt werden.

Was bedeutet das konkret? Radio- und TV-Sender müssen sich nicht mehr an Minimalstandards halten. Sie können ausgrenzen, lügen und nur noch Protagonisten, die ihnen passen, einladen. Ombudsstellen und die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) gibt es nicht mehr, das kostenlose Beschwerdeverfahren ist abgeschafft. Ombudsmann Roger Blum spricht von Wild-West-Verhältnissen, die drohen würden.

Wohin die Reise gehen könnte, zeigt die «Rush Limbaugh Show» in den USA. Diese Radio-Talksendung erreicht wöchentlich bis zu 20 Millionen Leute, Gastgeber Limbaugh pöbelt und hetzt, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Seit Ronald Reagan 1987 die «Fairness Doctrine» abgeschafft hat, sind die amerikanischen Medien nicht mehr auf Ausgewogenheit verpflichtet.

Roger Köppel stünde zwar bereit, eine Show nach Limbaughs Vorbild wäre allerdings Gift für den Zusammenhalt in der Schweiz. Mit einem Nein am 4. März können wir eine Entwicklung in diese Richtung verhindern.

Mark Balsiger


Ergänzend:

Ich zahle nur, was ich brauche (Die Zeit, 3. Februar 2018, Matthias Daum/Aline Wanner)
Wie das Gedankengut der Libertären in der Mitte der Gesellschaft landen konnte.

Transparenz:
Ich bin Kampagnenleiter beim Komitee «Nein zum Sendeschluss», das gegen die No-Billag-Initiative kämpft.