Im 19. Jahrhundert war das Ständemehr ein wichtiges Instrument zur Integration der katholisch-konservativen Kantone. In den letzten Jahrzehnten hat es den Zusammenhalt des Landes mehrmals strapaziert. Es bräuchte eine Debatte ohne Ressentiments und Abwehrreflexe.
Im Fussball gewinnt das Team, das am meisten Tore schiesst. Bei Verfassungsänderungen in der Schweiz wird es komplizierter: Es gewinnt nur, wer das Doppelte Mehr erreicht. Diese Hürde führt gelegentlich zu Resultaten, die das urschweizerische Prinzip der Machtteilung unterspülen. Gestern war das mit der Konzernverantwortungsinitiative wieder einmal so weit: Ein knappes Volks-Ja (50.7 Prozent, die Differenz beträgt 37’500 Stimmen) steht einem deutlichen Stände-Nein gegenüber (12 Kantone und 5 Halbkantone haben die Vorlage abgelehnt.)
Das Ständemehr wurde in den letzten 170 Jahren immer mächtiger. Ein Beispiel: Der Kanton Zürich zählt heute rund 1,5 Millionen Einwohner, Appenzell-Innerrhoden wiederum 16’000. Die Stimmkraft eines Zürchers ist heute 40 Mal schwächer als diejenige eines Innerrhödlers. Zum Vergleich: Um das Jahr 1850 herum differierte die Stimmkraft zwischen Zürich und Appenzell-Innerrhoden noch mit einem Verhältnis von 1 zu 10. Die Macht ballt sich auf dem Land, was bei Abstimmungen zu massiven Verzerrungen führen kann. So genügt inzwischen eine theoretische Sperrminorität von 9 Prozent, um Verfassungsänderungen zu verhindern.
Mit der Gründung des Modernen Bundesstaats 1848 wurde das Volksmehr eingeführt, für Verfassungsänderungen musste zudem das Ständemehr erreicht werden. Angesichts des Kulturkampfes, der damals tobte, war das eine kluge Entscheidung. Die katholisch-konservativen Kantone, im Sonderbundskrieg 1847 von den Liberalen besiegt, erhielten so ein Vetorecht. Ihre Ablehnung gegenüber dem Bundesstaat weichte sich weiter auf, als 1874 das Referendum eingeführt wurde – eine zweite starke Waffe. Die Integration der Katholisch-Konservativen konnte 1891 mit der Wahl des Luzerners Josef Zemp in den Bundesrat und der Einführung der Volksinitiative weiter vorangetrieben werden.
Historisch betrachtet war das Ständemehr für die politische Stabilität des Landes wichtig. Inzwischen wirkt es wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, der Kulturkampf ist vorbei, die Schweiz hat sich zu einer Willensnation zusammengerauft. Dafür ist der Stadt-Land-Konflikt inzwischen wieder allgegenwärtig, seine Sprengkraft beachtlich. Die konservativ-ländliche Schweiz und die progressiv-urbane Schweiz driften auseinander. Als Ende September das Jagdgesetz in einer Referendumsabstimmung knapp abgelehnt wurde, heulten einzelne Leute in den Bergkantone auf. Jetzt sind es die Befürworterinnen und Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative in den Ballungsräumen.
Eine lebendige Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Diese Qualität hat unser Land zum Erfolg geführt. Das Ständemehr ist kein Heiligtum, sondern sollte aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts und in Ruhe diskutiert werden dürfen. Der letzte Versuch, 2013 war’s, verhallte bald. Wie es scheint, kommt das Thema nur in einem direkten Kontext mit einer problematischen Abstimmung auf die Agenda – 2013 wegen des Familienartikels, jetzt wegen der Konzernverantwortungsinitiative. Das ist ungut, weil Emotionen einer sachlichen Auseinandersetzung zuwiderlaufen.
Verschiedene Reformvorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch. Einige setzen direkt beim Ständemehr an, andere machen eine Stärkung der urbanen Zentren beliebt. Politologe Sean Mueller hat in «Schweizerische Demokratie» (2017, Verlag Paul Haupt) fünf Reformvorschläge und ihre Auswirkungen zusammengetragen.
Nein, das Ständemehr «gehört nicht auf den Müllhaufen der Geschichte», wie das eine Jungsozialistin auf Twitter forderte. Aber eine sanfte und leicht verständliche Reform wäre aus meiner Sicht angezeigt: Erreicht das Volksmehr beispielsweise 53 oder 54 Prozent, ist das Ständemehr überstimmt. Das Volksmehr erhielte eine Aufwertung, gleichzeitig hätten die kleinen Kantone weiterhin eine Vetomacht.
Mit dem Ständemehr ist es eine Crux: Für eine Anpassung müsste die Verfassung geändert werden, und dafür bräuchte es das Ständemehr. Das Thema ist nicht neu, dieser Text in seinem Kern auch nicht, aber man müsste wenigstens den Mut aufbringen, eine Debatte darüber zu führen.