Volksvorschlag und Stichfrage oder Das Kreuz mit dem Kreuzchen
Publiziert am 16. Mai 2011In den guten alten Zeiten konnte das Stimmvolk zu einer Abstimmungsvorlage jeweils Ja oder Nein sagen – und damit hatte es sich. Seit der Volksabstimmung vom 5. April 1987 ist es auf eidgenössischer Ebene mehrschichtig und etwas komplizierter geworden: Das Parlament kann nämlich einer Volksinitative, die dank mindestens 100’000 Unterschriften zustande gekommen ist, einen sogenannten Gegenvorschlag (auch Gegenentwurf genannt) erarbeiten.
Dem Volk werden in solchen Fällen zwei Vorschläge unterbreitet, ergänzt mit einer Stichfrage. Diese kommt zum Zug, wenn beide Vorlagen angenommen werden, also ein doppeltes Ja resultiert. Der Haken: das Kreuzchen bei der Stichfrage wird oft vergessen.
Volksrechte fordern: Wird das Kreuzchen bei der Stichfrage vergessen, gilt sie als nicht beantwortet. Gestern “vergassen” rund 6200 Berner die Stichfrage – überfordert? (Musterstimmzettel: energievernunft.ch)
In den Kantonen Bern, Nidwalden und Zürich wurden die Volksrechte in den letzten Jahren ausgebaut. Dort kann einer Abstimmungsvorlage des kantonalen Parlaments jeweils eine modifizierte Vorlage gegenübergestellt werden. Der Meccano ist derselbe wie bei einem Referendum: Es müssen zunächst Unterschriften für diese modifizierte Vorlage gesammelt werden: Im Kanton Bern braucht es zum Beispiel mindestens 10’000 (innerhalb von 3 Monaten), in Nidwalden 250 Unterschriften (innerhalb von 60 Tagen).
Die Instrumente sind vergleichbar, heissen aber in den drei Kantonen anders:
– BE: Volksvorschlag (oder konstruktives Referendum)
– NW: Gegenvorschlag
– ZH: Gegenvorschlag von Stimmberechtigten
Der Begriff Volksvorschlag dürfte gestern unter den Berner Akteuren Unmut ausgelöst haben. Bei der Abstimmung über das kantonale Energiegesetz setzte sich ebendieser Volksvorschlag mit fast 68 Prozent Ja-Stimmen sehr deutlich durch. (Er unterschied sich in zwei relevanten Punkten von der Abstimmungsvorlage des Parlamentes.)
In einem Tweet lamentiert jemand:
“Woher hat der Volksvorschlag seinen Namen? […] Allein der Begriff ist abstimmungsverfälschend.”
Diese Einschätzung scheint mir überzeichnet. In der Tat suggeriert allerdings der Name, dass irgendjemand aus dem Volk die Bürde auf sich nimmt, Unterschriften für eine modifizierte Vorlage zu sammeln. Dabei waren es beim Energiegesetz die Wirtschaftsverbände, die Know-how, Zeit und Geld für die Unterschriftensammlung und die Abstimmungskampagne anzapften. In anderen Fällen waren Gewerkschaften oder Parteien die treibenden Kräfte hinter den Volksvorschlägen.
Unvergessen und gleichzeitig erhellend bleibt die Abstimmung über die Senkung der Motofahrzeugsteuer vom 13. Februar 2011: Damals stimmten
– 52,7% für die Vorlage des Parlaments
– 50,4% für den Volksvorschlag
In der Stichfrage obsiegte allerdings der Volksvorschlag – mit einem Zufallsmehr von 134 Stimmen. Rund 20’300 Stimmberechtigte (6 Prozent!) machten bei der Stichfrage kein Kreuzchen – aus Nachlässigkeit, Vergesslichkeit – oder weil sie schlicht überfordert waren.
Mark Balsiger
Bei Volksinitiativen läuft es ja leider nicht viel anders: Sie stammen von allerlei Körperschaften, nur nicht vom Volk selber. Ich denke nicht, dass die Verwendung dieser Bürgerrechte durch Parteien und Verbänden der ursprünglichen Idee entspricht.
Zum fehlenden Kreuz: Wie viele Wahllisten wären wohl ungültig, dürften sie nicht vorgedruckt werden, sondern müssten sie einzeln von Hand ausgefüllt werden?
Lamentieren ist wohl ebenfalls überzeichnet. Fakt ist: Das Wort “Gegenvorschlag” ist sachlich neutral, während der Begriff “Volksvorschlag” mit einer positiven Bedeutung aufgeladen, somit in sich tendenziös ist. Deshalb ist der “Volksvorschlag” im Vorteil.
‘@ Titus
Das nehme ich anders wahr, es sind nur in Ausnahmefällen “allerlei Körperschaften”. In der Regel werden Volksinitiativen von Parteien lanciert – aus strategischen Gründen und um möglich viel Aufmerksamkeit zu erreichen. Ob ihr Anliegen auch wirklich zentral ist, steht auf einem anderen Papier.
Hier Einschränkungen zu versuchen wäre allerdings auch danebengeschossen.
@ ubuntubru
1:1 – es wäre vermutlich möglich, dass Verwaltung und Politik in Zukunft konsequent den Terminus “konstruktiven Referendum” brauchen. Das ginge ganz ohne Gesetzesänderung.
Der “Bund” nimmt sich der Sache heute auch an. Mit einem anderen Dreh: der tiefen Stimmbeteiligung.
http://bit.ly/iiZHi5
‘@ Mark Balsiger
Wir sprechen schon vom Gleichen, nur wollte ich es nicht bloss auf die politischen Parteien beschränken. Es gibt auch noch andere Organisationen, die damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit suchen.