“Bürgerlich” war ein politischer Kampfbegriff
Publiziert am 24. Februar 2015Spätestens seit den kantonalen Wahlen im Baselbiet vom 8. Februar werden die Begriffe “bürgerlich” und “Bürgerblock” wieder oft verwendet. Dort holte die geschlossene Allianz von CVP, FDP und SVP vier von fünf Regierungssitzen – ein souveräner Erfolg.
Schon im Januar hatte Markus Somm, Chefredaktor der “Basler Zeitung”, den bürgerlichen Präsidenten der nationalen Parteien in einem Leitartikel empfohlen: “Fahren Sie nach Liestal. Niemand spricht davon, dass sich alle drei bürgerlichen Parteien in allem einig sein müssen, im Gegenteil. (…) Nötig aber ist der Wille zum Erfolg. Zum bürgerlichen Erfolg.”
Letzte Woche legte Peter Keller, SVP-Nationalrat und “Weltwoche”-Redaktor nach (Artikel online nicht verfügbar). Er ruft dazu auf, der SP bei den Bundesratswahlen im Dezember einen Sitz wegzunehmen und stattdessen der SVP zu geben. Das sind neue Töne aus dem Lager der SVP: In den letzten Jahren galten ihre Angriffe stets BDP-Magistratin Eveline Widmer-Schlumpf und der FDP.
Doch welches Potential hat der oft proklamierte “bürgerliche Schulterschluss”? Fabian Renz, Bundeshausredaktor von “Bund” und “Tages-Anzeiger”, tat ihn gestern als Illusion ab, die Differenzen in der Europapolitik seien zu gross.
Dieser Befund ist schlüssig. Es gibt einen zweiten Grund, der eine Renaissance des Bürgerblocks verhindern dürfte: Die bescheidene Affinität der CVP-Wählern zur SVP.
Was die Nachwahlbefragung 2011 von “Selects” ergab:
Wie die Zusammenstellung des Politologen Daniel Bochsler zeigt, konnte sich also nicht einmal 30 Prozent der CVP-Basis vorstellen, SVP zu wählen. SP, GLP und BDP kamen auf Werte zwischen 52 und 58 Prozent, die FDP sogar auf 65 Prozent. Die Abneigung gegenüber der SVP dürfte sich in den letzten vier Jahren kaum stark verändert haben.
So viel zur aktuellen Debatte um den Bürgerblock. Werfen wir im zweiten Teil dieses Postings einen Blick zurück:
«Bürgerlich» ist ein politischer Kampfbegriff. Er bringt in der Schweiz die bürgerlichen Parteien – also CVP, FDP, SVP und LPS – unter ein Dach. Diese formierten sich gegen die Sozialdemokraten, die 1918 (nach dem Landesstreik) und 1919 (nach den ersten Nationalratswahlen im Proporzsystem) massiv stärker geworden waren. Im selben Jahr überliess der Freisinn den Katholisch-Konservativen (der heutigen CVP) einen zweiten Bundesratssitz; mit diesem geschickten Schachzug konnten die Verlierer des Sonderbundskriegs (1847), die einen zentralistischen Staat ablehnten, noch stärker eingebunden werden. So wurde der Bürgerblock homogen, und das Bollwerk gegen den Feind von links stand.
In ihren Positionen waren die bürgerlichen Parteien meistens deckungsgleich, obwohl ihre Mitglieder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus stammten. Dennoch dominierte die Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital die Politik während Jahrzehnten. Erste Risse im Bürgerblock wurden in den Siebzigerjahren sichtbar, als sich Teile der CVP von ihren konservativen Überzeugungen lösten und die FDP sich auf den Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» verständigte.
Die SVP, die ihren Wähleranteil zwischen 1987 und 2007 fast verdreifachen konnte, versucht seit langem, den Begriff «bürgerlich» zu monopolisieren. Eine Zeitlang bezeichneten ihre Spitzenleute die CVP und die FDP als Linke oder Weichsinnige. Mit dem Umbau der SVP von einer gemütlichen, ländlich geprägten Bauern- und Gewerblerpartei zu einer nationalkonservativen Massenbewegung, die seit 1992 das professionellste Polit-Marketing betreibt und die Top-down-Methode anwendet, entstand eine neue Konfliktlinie.
Auch wenn «bürgerlich» weiterhin oft gebraucht wird, gibt es den Bürgerblock heute faktisch nicht mehr, denn das Trennende wird stärker betont als das Gemeinsame. Zudem führte die Gründung der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP, im Jahr 2008) und der Grünliberalen Partei (GLP, Im Jahr 2004) zu einer weiteren Zersplitterung der ehemals «bürgerlichen» Parteienlandschaft.
Mark Balsiger
Grafik: Daniel Bochsler
Fotos: golcal.de, bazonline
Man sollte die Vergangenheit nicht romantisieren. So starb beispielsweise 1954 Bundesrat Escher im Nationalratssaal, u.a. weil der parteipolitische Druck immens war. Vier Jahre später traten drei Bundesräte zurück, welche nicht einmal fünf Jahre im Amt waren.
Letzthin hat jemand der SVP vorgeworfen, die “bewährte” Zauberformel 2003 grobfahrlässig verletzt zu haben. Selbstverständlich kein Wort, dass der Zauber dieser Formel seit Mitte der Neunzigerjahre vorbei ist und auch keine kritische Selbst-Reflexion. Früher haben Bundesräte nach verlorenen Volksabstimmungen noch ab und zu den Hut genommen, 1934 Häberlein oder 1953 Weber. Heute übernimmt keiner die Verantwortung, wenn z.B. die MEI angenommen oder der Gripen abgelehnt wird.
Selbstverständlich haben CVP-Wähler Mühe mit der SVP. Als 1986 Koller und Cotti Bundesrat wurden, war die CVP-Welt noch in Ordnung. In Luzern oder Zug konnte man noch z.T. mit absoluter Mehrheit regieren. Als sie 1999 gingen, musste Adalbert Durrer bereits tricksen, um die Sitze zu halten. Kein Wunder, hassen die CVP-Wähler die SVP, denn diese hat Mitte der Neunzigerjahr die schöne heile katholische Welt zerstört und die kommt nicht zurück.
Wenn die CVP wieder zu mehr Grösse kommen will, dann muss sie den Bürgerblock reanimieren! Es kann doch nicht sein, dass man weiter mit der SP gemeinsame Sache macht, obwohl diese in zwei fundamentalen Punkten (Abschaffung Armee, EU-Beitritt) ca. 70% gegen sich hat und auch alle “Bürgerlichen”.
Solange die CVP jedoch mit der SP bei Bundesratswahlen gemeinsame Sache macht (gegen die SVP), wird Darbellay kaum (mehr als Lippen-)Bekenntnisse für die Bilateralen von der SVP bekommen. Denn die sagen sich, solange die SP sich für die Bilateralen einsetzt, bei gleichzeitigem Ziel, die Bilateralen zu beerdigen um der EU beizutreten, ist auch deren Bekenntnis nicht glaubwürdig (so in etwa die Argumentation von Blocher).
Am Ende muss die CVP entscheiden, ob man mit der SP brechen will. Dann kriegt man auch von der SVP ein Ja zu den Bilateralen und kann wohl auch die meisten weiteren Differenzen mit der SVP bereinigen ( z.B. Famillieninitative).
Dies hat das Risiko, weiter an die SVP zu verlieren, wenn man es aber nicht macht, wird die CVP zumindest bis 2017 auf Kantonsebene eher weiter verlieren.