Das Milizparlament ist ein Mythos
Publiziert am 13. Juni 2012Die Löhne der National- und Ständeräte werden zum ersten Mal seit vier Jahren wieder der Teuerung angepasst. Diese Entscheidung von gestern führte zu einem reflexartigen Aufheulen: Gegen die “Classe Politique” Stimmung zu machen ist so einfach wie erprobt. Dass einige Parlamentarier, die jeweils besonders laut heulen, von den Honigtöpfen des Staates kräftig abschöpfen, zeigt ihre Doppelzüngigkeit.
Es sei bedenklich, dass sich das Parlament gleich selber eine Lohnerhöhung genehmige, wird kritisiert. Prima vista ist das in der Tat nicht elegant, bloss: Welche andere Instanz sollte die Kompetenz erhalten, diese Entscheidung zu treffen? Der Bundesrat? Das Volk – notabene wegen 1,3 Millionen Franken? Dass die Schweiz hinter Portugal das günstigste Parlament Europas hat, sei auch einmal erwähnt.
Politiker ist ein Beruf – auch in der Schweiz. Es wird an der Zeit, dass wir das akzeptieren und respektieren. Der Mythos Milizparlament wird zwar sorgsam gepflegt und er wurde auch in der gestrigen Debatte immer wieder bemüht. Der Realität entspricht er nicht mehr: Etwa 70 Prozent der Ständeratsmitglieder sind Berufspolitiker. Das ergab eine Untersuchung der Zürcher Politologin Sarah Bütikofer. Bei den Nationalräten ist nur noch jeder siebte zu höchstens 30 Prozent in einem anderen Beruf tätig.
Die Professionalisierung entwickelte sich schleichend, auch weil sich noch kaum ein Parlamentarier offen als Berufspolitiker bezeichnen will. Etwas mehr Mut und Offenheit würde helfen. Dazu gehörte auch, kein Verwirrspiel um Lohn, Entschädigungen und Taggelder zu betreiben. Insgesamt erhalten National- und Ständeräte pro Jahr zwischen 110’000 und 140’000 Franken brutto. (Die Anzahl Kommissionen, in denen ein Bundesparlamentarier mitwirkt. sowie die Anzahl Sitzungen erklären den Grossteil des Unterschieds.) Bei einem Arbeitspensum zwischen 70 und 100 Prozent sind solche Beträge nicht vermessen.
Hintergründiges:
Auf dem Weg zum Berufsparlament (Sarah Bütikofer, NZZ, 4. Mai 2010; PDF)
Denselben Text Bütikofers gibts auch online, dort mit ein paar Kommentaren, die erkennen lassen, wie kontrovers dieses Thema taxiert wird.
Alles richtig. Nur fehlt es an Elöeganz oder Demut. Bevor die Erhöhung in Kraft tritt, sollten Wahlen stattfinden. In den USA ist das zwingend so geregelt.
Was heisst “ersten Mal seit vier Jahren”? Die Entschädigungen werden jeweils vor einer neuen Legislatur festgelegt. Das ist nun mal bloss alle vier Jahre.
Ausserdem ist ein Monatsgehalt von über 10’000 Franken für einen “Teilzeitjob” mehr als ausreichend. Von all den anderen Vergütungen und Vergünstigungen und Geschenken, von denen ein Eidg. Parlamentarier so profitiert, wurde noch gar nicht gesprochen.
Und auf die Frage, wer über eine Lohnerhöhung entscheiden soll: von mir aus gerne das Parlament. Jedoch sollte sowas dem fakultativen Referendum unterstellt werden.
Manche Parlamentarier vergessen gelegentlich, dass sie im Dienste des Volkes stehen und meinen stattdessen, sie stünden über allem. Insofern: Ja, natürlich hat wie überall die “vorgesetzte Stelle”, sprich: das Volk darüber zu befinden.
Ich würde das mit den Wahlen kombinieren, denn Wahltag ist bekanntlich Zahltag. Das heisst, das Stimmvolk entscheidet anlässlich der alle vier Jahre stattfindenden Wahlen, ob den (teilweise abtretenden) Parlamentariern rückwirkend eine Gehaltserhöhung zugesprochen wird oder nicht (das klingt komplizierter als es ist). Um den administrativen Aufwand steuertechnisch in Grenzen zu halten, müsste der allfällig erhöhte Betrag nicht nachversteuert werden. Stattdessen könnte der Bund ja direkt einen pauschalen Betrag als Steuer abziehen.
Doch zum eigentlichen Thema: Was heisst denn “in einem anderen Beruf tätig”? Die schier unzähligen Verwaltungsrats- und andere Mandate gewisser Parlamentarier werden da wohl nicht mitgezählt.
Vermutlich ist es auch genau das, weshalb sich viele davor scheuen, sich als Berufspolitiker zu bezeichnen, denn: Wer sich als Berufspolitiker bezeichnet, ist somit mit der Politik zu 100 % ausgelastet. Da passt es dann einfach nicht zusammen, wenn einer so “hobbymässig” in zahlreichen Verwaltungsräten sitzt.
Wer das dennoch schafft, dürfte bestimmt auch die nötige Zeit finden um ein Buch über Zeitmanagement zu schreiben. Es würde mich nämlich brennend interessieren, wie manche alle ihre Aktivität seriöse unter einen Hut bringen.
[…] Auch wenn das noch Seltenheitswert hat: Eine Befragung der Bundesparlamentarier von 2007 hat gezeigt, dass sich nur noch rund 13 Prozent aller Mitglieder des Nationalrats als «Milizpolitiker» sieht. Beim Ständerat sieht sich gar niemand mehr als Milizpolitiker. Dort bezeichnen sich sogar rund 57 Prozent als Berufspolitiker. Damit verkommt der Glaube an ein Milizparlament definitiv zu einem Mythos. […]
[…] vielbeschäftigten Milizparlamentariers passt (den es im Schweizer Parlament allerings in Wahrheit kaum mehr gibt). Hierauf beruft sich etwa der SVP-Nationalrat und Unternehmer Peter Spuhler, einer der […]
[…] eine Befragung der Bundesparlamentarier der letzten Legislaturperiode, deren Resultate (via) Sarah Büttikofer und Simon Hug im Mai 2010 in der NZZ […]
Am 5. Oktober 2012 hat die “Arena” den Mythos Milizparlament zum Thema gemacht. Die Zusammenfassung:
http://bit.ly/QLVMIJ
Seit vielen Jahren beschäftigt sich Claude Longchamp auch mit institutionellen Fragen. Die Mitglieder des nationales Parlaments hätten zu wenig Zeit, schreibt er auf seinem Blog.
Sein Pladoyer für einen Ausweg aus dem Dilemma:
http://bit.ly/OJie6y