Das neue Gerangel in der politischen Mitte – wird der “neue Berner Geist” ein Modell?
Publiziert am 17. Juni 2009In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Parteien, die sich zur politischen Mitte bekennen wie in Bern. Diese neue Konstellation gilt im Stadtparlament erst seit rund fünf Monaten.
Zunächst eine Auflistung der Mitte-Parteien:
– BDP
– CVP
– Die Mitte
– EVP
– GFL
– GLP
Von diesen sechs Mitte-Parteien haben nur CVP und EVP eine jahrzehntelange Tradition. Die GFL wurde vor 25 Jahren gegründet, alle anderen Parteien entstanden erst in den letzten Jahren, und zwar aus Abspaltungen bzw. Fusionen.
– BDP: Wurde vor ziemlich genau einem Jahr gegründet, nachdem die SVP-Kantonalsektion Graubünden kollektiv aus der SVP Schweiz ausgeschlossen worden war. Streitpunkt: Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die auf die ultimative Forderung von der SVP Schweiz, aus der Volkspartei auszutreten, nicht eintrat.
– Die Mitte: Diese Gruppierung entstand im letzten Jahr um den damaligen Sicherheitsdirektor Stephan Hügli, nachdem dieser von der FDP fallengelassen worden war. Claude Grosjean eroberte einen Sitz, politisiert heute allerdings in der GLP-Fraktion. Wie aktiv die Mitte heute noch ist, weiss ich nicht. Medial tritt sie auf alle Fälle seit Dezember letzten Jahres nicht mehr in Erscheinung.
– GFL: Die Grüne Freie Liste, bis 1997 Freie Liste genannt, entstand Anfang der achtziger Jahre um Leni Robert, einer ehemaligen FDP-Politikerin. Das Junge Bern fusionierte 1991 mit der Freien Liste. (Die wohl bekanntesten Mitglieder des Jungen Bern waren, in den sechziger und Anfang der siebziger Jahren, Mani Matter und Klaus Schädelin.) Leni Robert war u.a. National- und Regierungsrätin für die GFL. 2006 fusionierte die GFL auf kantonaler Ebene mit dem Grünen Bündnis (GB) und firmiert jetzt unter Grüne Kanton Bern. In der Stadt blieb die GFL aber eigenständig.
– GLP: Entstand vor fünf Jahren im Kanton Zürich aus einer Abspaltung von den Grünen. Auslöser: die beiden Alphatiere Daniel Vischer und Martin Bäumle, beides Nationalräte, vertrugen sich nicht. Bäumle gründete die erste Kantonalsektion der Grünliberalen, die seither von Erfolg zu Erfolg eilen.
Am Tag nach den Stadtratswahlen in Bern im Herbst 2008 prophezeite ich in meinem damaligen Posting, dass der Parlamentsbetrieb in seiner neuen Zusammensetzung entkrampft würde. Das ist in den letzten Monaten weitgehend eingetroffen. Es ist ungleich spannender, heute auf der Zuschauertribüne die Debatten zu verfolgen als früher.
Das liegt auch daran, dass die beiden grossen erratischen Blöcke, die sich seit vielen Jahren unversöhnlich gegenüberstanden, erhebliche Verluste erlitten haben. Auf der Seite von RGM (Rot-Grün-Mitte bestehend aus SP, GB und GFL) erwischte es die SP kalt. Sie verlor 4 Sitze. Im Bürgerblock büsste die FDP 5 Sitze, die SVP 2 Sitze ein.
Mit der BDP (6 Sitze) und der GLP (4 Sitze), die auf Anhieb im Parlament Einzug hielten, kommt es zu einem regelrechten Gerangel in der politischen Mitte. Der realpolitische Alltag zeigt, dass die GFL sich vom RGM-Bündnis emanzipiert hat und selbstbewusster als früher eine eigenständige Meinung sucht. Zur Irritation – oder zum Ärger – von SP und vom GB (Grünes Bündnis).
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums vermerken FDP-Exponenten, dass sie nun nicht mehr chronisch auf verlorenem Posten stünden. Heute sind Mitte-Rechts genauso Mehrheiten möglich wie Mitte-Links. Das ist unter dem Strich positiv, weil die Sache vermehrt im Vordergrund steht und weniger die Parteipolitik.
Die neue Zusammensetzung des Parlaments, das aufgrund seiner zu hohen Sitzungskadenz faktisch eine Art Zweitregierung ist, finde ich hochspannend. Da ist Bewegung drin – und es stellen sich erste Fragen:
– Hat es überhaupt genug Platz in der politischen Mitte?
– Übernimmt eine Fraktion den klaren Lead?
– Ist die erstarkte politische Mitte ein vorübergehendes Phänomen?
– Hat die GFL auf die Dauer eine Existenzberechtigung oder drängt sich eine Fusion mit der GLP auf?
– Welche Auswirkungen hat die neue Konstellation auf die Gestaltung der Gemeinderatslisten im Jahr 2012? (Für Nicht-Berner: Gemeinderat = Exekutive)
Sollte der “neue Berner Geist” sich weiterentwickeln und festigen, könnte das ein Modell sein für die Zukunft – gerade auch in anderen Städten. Die Dynamik kommt nicht mehr in der ersten Linie von den grossen historischen Parteien SP und FDP, die ihre Erneuerung bislang nicht schafften, sondern von den neueren Kräften aus der politischen Mitte.
Heute Abend diskutieren verschiedene Vertreter der Mitte-Parteien auf einem Podium. über diese politische Mitte. Eine Diskussion, die hoffentlich auch hier ihren Anfang nimmt.
Mark Balsiger
Sujet: www.gfl-bern.ch
Claude Longchamp weist seit mehr als zwei Jahren auf einen Trend in Kommunalwahlen hin: weg von klassischen Parteien und hin zu Bürgerbewegungen, freien Listen und Splitterparteien.
Tatsächlich bilden auch in diesem Berner Modell nebst den beiden „klassischen“ Mitteparteien CVP und EVP vor allem Splitterparteien und Zweckbündnisse die selbstdeklarierte „Mitte“. Auch wenn es lohnen würde, Nuancen und Distanzen herauszuarbeiten, lassen wir es für einmal und wenden uns „der Mitte“ als Konstrukt zu.
Wie ist diese neue Mitte entstanden? Teilweise, wie beschrieben, als Abspaltung von anderen Parteien. Die Originale vertreten in vielen Punkten unversöhnlichere, weil extremere politische Ansichten, oftmals gepaart mit einer gewissen ideologischen Verbissenheit ihrer Exponenten. In diesem Falle würde Mitte nichts anderes bedeuten als der Versuch, die Ideologie zugunsten des politisch Machbaren hintan zu stellen.
Ist dies nun einfach ein normaler Ausdifferenzierungs-Prozess (einstmals) grosser Volksbewegungen? Oder ist es die Morgenröte, welche das Ende der Polarisierung einläutet? Fast will es scheinen. Für eine Prognose – weil das Licht zwischen Tag und Morgen noch fahl – ist es zwar noch zu früh. Zu wünschen aber wäre es allemal.
Bilanz der “Berner Zeitung” nach dem ersten Jahr im Stadtberner Parlament:
http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Mittelmaessige-Performance-des-Stadtrats/story/15513105
[…] beide Fraktionen noch um je einen Sitz.) Die neuen Kräfteverhältnisse führen seit Anfang 2009 zu einer Entkrampfung des Parlamentsbetriebs und Mehrheiten von Fall und […]