Das politische System der Schweiz: eigentümlich oder einzigartig?
Publiziert am 31. Juli 2009
Geoff Mungham schaute mich lange an. Der Politologieprofessor, der mich bei meiner Abschlussarbeit an der Uni Cardiff (GB) betreute, deutete auf das Papier vor sich. “Does it work?”, fragte Mungham. Auf 15 Seiten hatte ich das politische System der Schweiz zusammengefasst. So wie er fragte, schwang die Antwort schon mit.
In den letzten Jahren hörte ich im Ausland dieselbe Frage immer wieder. Und bei Diskussionen beschlicht mich oft das Gefühl, dass man der Schweiz insgeheim das Etikett als politisch “exotisches Alpenparadies” umhängt.
Does it work, funktioniert unser eigentümliches System? Diese Frage darf uns am Vorabend des Nationalfeiertags beschäftigen – oder gerade auch im Kontext mit der Bundesratsersatzwahl von Mitte September.
Das politische System unseres Landes ist gekennzeichnet von Besonderheiten, die man weltweit nirgendwo findet. Ein paar herausstechende Merkmale:
– Die 246 Mitglieder des Eidgenössischen Parlaments sind Milizpolitiker;
– In keinen anderen Land werden die Stimmbürger so oft an die Urnen gerufen wie in der Schweiz. Am Laufmeter entscheiden wir abschliessend über Gesetzesänderungen, Volksintiativen und Referenden. In einer Legislaturperiode (4 Jahre) stimmt ein Schweizer etwa gleich oft ab wie ein Deutscher in seinem ganzen Leben mitbestimmen kann;
– Die Mitglieder der Landesregierung werden vom Parlament gewählt. Der Bundespräsident wechselt alljährlich, er ist aber auch in seinem Präsidialjahr nur ein “primus inter pares”, der Erste unter Gleichen;
– Bundesräte sind im Prinzip auf Lebzeiten gewählt, sie allein entscheiden, wann es Zeit ist für den Rücktritt. Die Bundesverfassung sieht keinen Misstrauensantrag an einzelne Mitglieder vor und keine Auflösung der gesamten Regierung;
– Im Bundesrat sind seit 1943 alle grossen Parteien vertreten – abgesehen von einem Intermezzo ohne SP, das von 1953 bis 1959 dauerte. Eine Koalitionsregierung gab es allerdings noch nie.
Regieren ohne Koalitionsvertrag – “does it work?”
Genau diese Konstellation sorgt bei Diskussionen im Ausland stets für Irritationen, ja komplettes Unverständnis. Alle starken politischen Kräfte sind in die Regierung eingebunden, aber es gibt keinen Koalitionsvertrag, nicht einmal minimale Vereinbarungen werden zu Beginn einer neuen Legislatur ausgehandelt und festgehalten. “Does it work?”
Ja, bislang hat es funktioniert, ziemlich gut sogar. Die politische Stabilität ist womöglich der wichtige Standortvorteil unseres Landes, und die Verfechter bezeichnen das bewährte System als einzigartig. Seit 1959 sind die grössten Parteien nach ihren Stärkeverhältnissen im Bundesrat vertreten. Von 1959, dem Geburtsjahr der Zauberformel, bis 2003 änderte sich der Verteilschlüssel nie: 2 CVP, 2 FDP, 2 SP, 1 SVP.
Im Dezember 2003 kam es nach 44 Jahren zu einem Wechsel: Die SVP eroberte zulasten der CVP einen zweiten Sitz, Christoph Blocher (svp) ersetzte Ruth Metzler (cvp). Mit diesem Entscheid berücksichtigte das Eidgenössische Parlament die Wählerstärke. Bei den eidgenössischen Wahlen 1999 hatte die SVP nämlich die CVP in der Wählergunst überflügelt. Den um vier Jahre verzögerten Nachvollzug bei der Besetzung der Landesregierung erachte ich grundsätzlich als richtig. Es gibt keine Veranlassung, die Anpassung innerhalb von kurzer Zeit zu vollziehen. Auch die SP musste sich gedulden, bis sie einen Bundesratssitz erhielt, mehrere Jahrzehnte sogar.
Seit Herbst 2003 kam es zu mehreren einschneidenden Ereignissen – eine kurze Chronologie:
– Oktober 2003: Die SVP tritt noch am Wahlabend in der Elefantenrunde von SF mit dem ultimativen Anspruch an: “Wir wollen einen zweiten Bundesratssitz – Blocher oder keiner!”;
– Dezember 2003: Ruth Metzler wird abgewählt. Es ist die erste Abwahl eines amtierenden Bundesrats seit mehr als 130 Jahren
– Dezember 2007: Christoph Blocher wird abgewählt;
– Frühling 2008: Die SVP Schweiz macht eine regelrechte Hetzjagd gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Schliesslich schliesst die SVP-Mutterpartei die Bündner Kantonalsektion aus, weil diese Widmer-Schlumpf nicht aus der Partei werfen will;
– Juni 2008: Die BDP des Kantons Bern wird als Abspaltung der SVP gegründet, es folgen weitere BDP-Kantonalsektionen;
– Sommer 2008: Eveline Widmer-Schlumpf und Samuel Schmid wechseln von der SVP zur BDP;
– November 2008: Samuel Schmid tritt nach einem langen Kampf zurück;
– Frühjahr 2009: Die BDP erreicht dank einer Ersatzwahl im Kanton Glarus Fraktionsstärke. Ihre Bundesrätin Widmer-Schlumpf hat im Parlament wieder eine Basis, wenn auch eine sehr kleine.
Medienlogik verlangt nach einer Konkurrenzdemokratie
Diese einschneidenden Ereignisse haben das Haus Schweiz erschüttert. Womöglich kam es zu irreparablen Schäden, es ächzt auch weiter im Gebälk. In den letzten knapp sechs Jahren hat die ausgeprägte Kultur des Konsens, die zur Schweiz gehört wie die Höhenfeuer zum 1. August, gelitten. Der Diskurs wurde ruppig und unversöhnlicher, phasenweise ist er vergiftet. Das politische System der Schweiz erweist sich aber trotz allen Erschütterungen und Brunnenvergiftern als ungemein stabil, und das ist gut so.
In den letzten Jahren flammten vermehrt Diskussionen über eine Abkehr vom Konkordanzmodell auf. Es gibt Akteure, die mit einer Mitte-Links- bzw. mit einer Mitte-Rechts-Regierung sympathisieren. Den Massenmedien käme ein System mit Regierung und Opposition entgegen, sie betonen das Trennende, den Konflikt – manchmal auf Teufel komm raus.
Genf versuchte es einmal mit einer Regierungskoalition
Wie der politische Alltag nach dem Systemwechsel aussehen würde, ist schwer abzuschätzen. Uns fehlt die Erfahrung, wir kennen nur dieses eine System, das keine grossen Schritte erlaubt. Anstelle von grossen Würfen sind Verbesserungen “mit gezielten Pinselstrichen” möglich, wie es der Waadtländer Regierungspräsident Pascal Broulis nennt. Das ist unspektakulär, und passt schlecht zum Zeitgeist – so what?
Einzig der Kanton Genf versuchte sich vor ein paar Jahren einmal mit einer bürgerlichen Regierungskoalition und den linken Parteien in der Opposition. Nach einer Legislatur war die Lust an diesem Experiment schon wieder verflogen.
Möglich würde eine Konkurrenzdemokratie nur mit einschneidenden Veränderungen, die direktdemokratischen Instrumente etwa hätten ausgedient. So überdrüssig wir zuweilen der vielen Initiativen und Referenzen auch sein mögen: Wären wir bereit, diesen Preis zu bezahlen?
Ich finde, dass sich eigentümlich und einzigartig nicht gegenseitig ausschliessen. Dass unsere Diskussionspartner im Ausland nicht nachvollziehen können, wie unser System funktioniert, können wir verschmerzen.
Foto Schweizerfahne in Bern: toggenburgertagblatt.ch
Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag.
Es scheint mir legitim zu sein, die gleiche Frage auch umgekehrt zu stellen.
Die EU-Verfassung ist kläglich gescheitert und der Lissaboner Vertrag auf der Kippe. Auf «nur» nationaler Ebene herrscht vielerorts Unzufriedenheit. Gäbe es zum Beispiel in Frankreich so viel Unzufriedenheit, wenn diese auch so mitreden könnten wie wir hierzulande? Auf jeden Fall könnten sie dann auch eher Unterschriften sammeln statt «Bossnapping» zu betreiben oder statt damit zu drohen, Fabriken in die Luft zu sprengen.
Ich konnte gestern der 1.-August-Feier hier in Biel beiwohnen, an dem verschiedene Mitglieder des «Club helvétique» sich zur Demokratie in der Schweiz und in Europa äusserten (Details dazu in meiner Bloghütte). Der Tenor dazu ist klar: Europa muss lernen, demokratischer zu sein.
Ich bin überzeugt, dass durch eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in Europa solche Werke wie die EU-Verfassung oder den Lissaboner Vertrag mehr Erfolg haben werden, weil dann eben auch eher auf die «Referendumstauglichkeit» geachtet würde. Dann könnte man die Frage «does it work?» auch im europäischen Umfeld bejahen.
Ein Wechsel von der Konkordanz- zur Konkurrenzdemokratie könnte nur zusammen mit einschneidenden Abstrichen bei der direkten Demokratie erfolgen. Doch gerade die Instrumente Initiative und Referendum bekommen im Internetzeitalter eine andere Bedeutung als früher.
Direkte Demokratie verlangt nach informierten Bürgern. Im Internetzeitalter werden wir aber von Informationen überflutet. Gleichzeitig kann sich der Bürger in einfacher Form vernetzen. Das vereinfacht die Lancierung einer Initiative oder eines Referendums. Teilweise losgelöst von Parteien. Was wiederum Einfluss auf Funktion und Attraktivität der Parteien hat. Ich denke da zum Beispiel an das Referendum gegen die Einführung des biometrischen Passes.
Überlegungen zur Stabilität und zum System der Schweiz macht übrigens auch Politologie und SP-Mitglied Wolf Linder in der “Samstagsrundschau” vom 18. Juli bei Schweizer Radio DRS.
„…dass sich eigentümlich und einzigartig nicht gegenseitig ausschliessen.“
Ich teile diese Meinung voll und ganz. Allerdings bin ich der Ansicht, dass unsere Referendums-Demokratie noch viel tiefer greift. Sie durchdringt einen aktiven Politiker nämlich ein ganzes Leben lang: nämlich die Frage nach der Referendumsfähigkeit.
Je näher bei der Mitte und damit bei der Realpolitik, desto drängender wird sie. Ich kann mir sogar vorstellen, dass diese alles entscheidende Frage bei Realpolitikern sogar zur zweiten Haut wird; zum halbbewussten Dogma sozusagen. Deshalb wird die Frage nach der Referendumsfähigkeit (oder dem Kompromiss; dessen Inkarnation die politische Schweiz ja zu sein scheint) zur systemimmanenten, ja systemleitenden Frage.
Die Suche nach dem grösstmöglichen Kompromiss und damit der Unterstützung derer, welche schlussendlich eine Mehrheit bilden, ist credo. Ebenso bedeutend wie die politischen Inhalte. Die entsprechenden Resultate mögen zuweilen enttäuschen. Trotzdem haben sie das System Schweiz vorwärtsgebracht – und dies nicht eben schlecht.
‘@ Titus Sprenger
Dass sich die einzelnen Staaten der EU zu mehr Bürgerbeteiligung durchringen sollten, ist richtig und bekannt. Die Wege dazu sind jedoch fraglich. Sie würden zum einen ein etabliertes politisches Entscheid-System in Frage stellen, an welchem niemand, der aktuell von diesem System profitiert, ein Interesse hat. Zudem wird gerade in den grossen EU-Mitgliedsstaaten wie auch auf Ebene der EU selber die Frage der Grösse und somit Distanz virulent.
Das Phänomen der steigenden Beteiligung von Bürgern an aktuellen politischen Fragestellungen sowie deren Lösung gerade auf Ebene Kommune ist nicht nur in der Schweiz bekannt. Auch in der EU wird dies gerade ausserhalb tradierter Parteien-Landschaften beobachtet. Ich behaupte, dass dies nebst der zunehmenden Institutionalisierung von Politik auch mit „gefühlter Distanz“ zu tun hat. Was kümmert es den Landwirt in Niederbayern, wenn Fischer in Rostock weniger fangen? Vermutlich herzlich wenig.
Die gefühlte Nähe zu tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen wird also zum (mit-)entscheidenden Kriterium für politische Beteiligung. Wenn diese Aussage stimmt, dann wird es auf Ebene EU ausser für Themen wie Zonenrand-Förderung und Agrarsubventionen wohl kaum mehr Motivationspotential geben. Was aber wird dann aus der EU?
‘@ JC
Das Referendum gegen den biometrischen Pass ist das entscheidende Beispiel, wohin sich unsere Demokratie bewegt. Die (Miliz-)Parteien waren hierzulande schon immer relativ schwach, sie verlieren schleichend an Einfluss.
Die Parteien im langsamen Niedergang, im Gegensatz dazu steigt der Einfluss von Verbänden, Gewerkschaften und pressure groups.
Zu Politologieprofessor Wolf Linder: Ich verpasste die “Samstagsrundschau” vom 18. Juli mit ihm, als Podcast ist die Sendung nicht mehr zu finden – leider. Immerhin gibt es ein längeres Gespräch mit Wolf Linder; er war zu Gast beim Regionaljournal Bern von Schweizer Radio DRS, hier:
http://www.drs.ch/www/de/drs/sendungen/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/90293.sh10090782.html
An die Vorlesungen bei ihm erinnere ich mich gut und gerne.
‘@ Mark Balsiger
Ich hab’s zwar noch nicht angehört, aber immerhin schon gefunden.
http://www.drs1.ch/www/de/drs1/sendungen/samstagsrundschau/2756.sh10091500.html
Ich habe halt die Sendung im Podcast-Abo für meinen Ipod. Damit entfällt eine Suche.
‘@ Titus Sprenger
Herzlichen Dank für den Link. Bei meiner Suche auf der DRS-Site wurde dieser Beitrag nicht aufgelistet, jänu. Ich höre mir übers Wochenende den Linder in voller Länge an.
@ J.C.
Ein wunder Punkt, ich sollte auch endlich den Effort machen, und die wichtigsten bzw. besten Sendungen abonnieren.