Der Preis für die Schönwetter-Rhetorik

Publiziert am 09. Februar 2014

Die Prognose vorweg: Die Schweiz wird wegen der Masseneinwanderungs-Initiative nicht untergehen, auch wenn das im Vorfeld ein paar Wirrköpfe aus beiden Lagern behauptet hatten. Aber ein Teil der Brücke nach Brüssel wurde heute abgerissen, der Zugang zum EU-Binnenmarkt steht auf dem Spiel. Für Politik und Wirtschaft ist das Abstimmungsresultat eine Demütigung. Ihre Exponenten haben es verpasst, frühzeitig und ehrlich die negativen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit zu thematisieren. Eine Abstimmungskommentar, der nicht ohne Polemik auskommt.

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Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Die Schweiz ist in meiner Wahrnehmung kein xenophobes Land, aber: seine Bürgerinnen und Bürger sind zutiefst verunsichert. Das Abstimmungsergebnis mit 50.3 Prozent Ja-Stimmen und 14,5 Ständen zeigt das deutlich auf.

Unser Land wird immer wieder von diffusen Ängsten ergriffen, einzelne Akteure von links und rechts schüren diese gezielt. Seit wenigen Jahren gesellen sich zu den diffusen Ängsten allerdings auch reale Sorgen, die auf eigenen Erfahrungen basieren: Viele Menschen aus fast allen Branchen und Altersgruppen fürchten sich vor Jobverlust, steigenden Mieten, sozialem Abstieg und der ungewissen Zukunft; viele unter ihnen haben Leute in ihrem persönlichen Umfeld, die von diesem Strudel schon erfasst wurden.

Laut dem Seco gibt es derzeit 205’000 Erwerbslose. Diese Zahl hat sich seit der vollen Personenfreizügigkeit für die EU-17-Staaten im Frühling 2007 verdoppelt. 205’000 Menschen suchen in unserem Land Arbeit – es sind IT-Fachleute, Bauarbeiter, Kellnerinnen, usw. –, finden aber keinen Job. An ihrer Stelle rekrutiert man laufend neue Arbeitskräfte im Ausland, zum Teil weil sie besser ausgebildet, vor allem aber weil sie jünger und günstiger sind. Gleichzeitig foutiert sich die Wirtschaft um die Probleme, die so entstehen. Der Bundesrat wiederum zaudert – und zaubert alle paar Monate ein neues Kaninchen aus dem Zylinder. Einmal heisst es “EWR light”, ein anderes Mal “Bilaterale plus”. Das einzige Ziel dieser Übungen: Die Landesregierung will Zeit gewinnen; sie hat keine Strategie, wie die Zusammenarbeit mit der EU weitergehen soll.

Seit nunmehr 15 Jahren werden von Politik und Wirtschaft die Slogans „Erfolgsmodell Schweiz“ und „der bilaterale Weg ist der Königsweg“ gebetsmühlenartig wiederholt, 2007 ist das Schlagwort „Fachkräftemangel“ dazugekommen. Tatsache ist, dass in den letzten Jahren durchschnittlich 80’000 Personen netto zugewandert sind. Längst nicht alle zählen zu den gesuchten Fachkräften, wie das die Schönfärber behaupten. Ein Drittel der Zugezogenen sind Familienmitglieder (Familiennachzug), Tausende versuchen ohne einen Arbeitsvertrag erfolglos ihr Glück (Scheinselbständige), reisen aber nach drei Monaten nicht wieder aus. Tatsache ist, dass die Personenfreizügigkeit in unserem Land eben nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Verlierer.

Heute bezahlen Bundesrat und Wirtschaftsverbände den Preis für ihre Schönwetter-Rhetorik. Der Schaden ist angerichtet, und er ist gross. Die Masseneinwanderungs-Initiative ist ein Kuckucksei, das die Zusammenarbeit mit der EU massiv erschwert. Wirtschaftlich sind wir auf einen ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Menschen angewiesen. Die Personenfreizügigkeit aufkünden wäre eine Zäsur, die Arbeitslosigkeit würde in die Höhe schnellen.

Das Establishment muss sich nun das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder erarbeiten. Am Anfang steht eine schonungslos-ehrliche Debatte. Die Frage lautet:

Welche Schweiz wollen wir? Eine Ballenberg-Schweiz? Ein zweites London im Mittelland? Nebst solch radikalen Ideen gäbe es zweifellos auch Optionen, die sich am pragmatischen eidgenössischen Weg orientieren.

Für diesen Weg in die Zukunft bräuchte es einen Pakt der Ehrlichkeit und Verantwortung. Und es bräuchte Haltung. Die Elite aus Politik und Wirtschaft ist herausgefordert, glaubwürdige Szenarien zu entwickeln, stetig zu kommunizieren und schliesslich Schritt für Schritt umzusetzen. Es muss in Zukunft wieder möglich sein, untauglichen Anliegen à la Masseneinwanderungs-Initiative frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mark Balsiger


Nachtrag von 18.20 & 19 Uhr – andere Kommentare:

– (TA, Res Strehle)
Eine Zäsur für die Schweiz (NZZ, Markus Spillmann)
Insel der Einsamen (Südostschweiz, David Sieber)
Jetzt muss Blocher Aussenminister werden (Watson, Philipp Löpfe)

Schweizer Stimmung mit fatalen Folgen (FAZ, Jürgen Dunsch)
Freizügigkeit, nein danke (Süddeutsche, Wolfgang Koydl)
Land des Geldes, Land der Angst (Spiegel online, David Nauer)
Die Schweiz sagt “Fuck the EU” (Die Zeit, Matthias Daum)

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Foto Brücke: srf.ch
Grafik: swissinfo, via electionista

 

 

8 Replies to “Der Preis für die Schönwetter-Rhetorik”

  1. Ach ja, Mark, mir scheint, wir haben es wieder mal geschafft, den Eindruck zu vermitteln, wir seien eine Nation der Rosinenpicker. Wir meinen, wir können uns über die vertraglich längst geregelte Personenfreizügigkeit hinwegsetzen, ohne gross Konsequenzen befürchten zu müssen … Einfach so, weil wir in Helvetien die direkte Demokratie praktizieren und wir, als der wieder mal verunsicherte und damit bockige Souverän, einen coup de tête demonstrieren wie schon 1992.

    Ist das tatsächlich auf mangelhafte, zu wenig gezielte Kommunikation zurück zu führen? Oder geht es uns hierzulande einfach noch immer viel zu gut, als dass wir uns als Bürgerinnen selbständig mit Realitäten und Fakten auseinandersetzen wollen? Ist es schlichtweg einfacher, sich durch provokante Angstmacher-Parolen verführen zu lassen, als selber zu denken, sich bewusster zu informieren? Müssen uns Exponenten der Politik und Wirtschaft denn tatsächlich alles, aber auch wirklich alles vorkauen, damit wir in der Lage sind, einigermassen vernünftige (Wahl-)Entscheidungen zu treffen? Sind wir von unserem politischen Denkapparat her tatsächlich ein derart unmündiges Völklein, wir Schweizerinnen?!

    DAS ist momentan die grosse Frage, die mich beschäftigt.

  2. ‘@ Walter Kern

    Danke für die Blumen. Das freut den Micro-Publizisten.

    @ Catherine Herriger

    Ich ergänze deine Fragen noch mit einem weiteren Punkt, den ich als zentral erachte: Vertrauen. Vertrauen in die Schlüsselfiguren der Wirtschaft. Das hat seit der Finanzkrise 2009 gelitten.

    Nicht zu vergessen: Es war ein Protest der Stumm-, Wut- und Angstbürger.

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