Die Fussstapfen von Christian Levrat sind gross

Publiziert am 12. November 2019

Jede Bundesrätin, jeder Parteipräsident möchte die Ankündigung des eigenen Rücktritts mit einem aktuellen Erfolg verknüpfen. Das ist SP-Chef Christian Levrat nicht gelungen. Er hat zwar die Wiederwahl als Ständerat in Fribourg im zweiten Wahlgang geschafft, für die Schlappe seiner Partei – minus 2 Prozentpunkte, erstmals seit 100 Jahren weniger als 40 Sitze im Nationalrat, mindestens 4 Verluste im Ständerat (AG, BL, NE, VD) – wird er aber mitverantwortlich gemacht.

Es ist zu billig, Levrat die Schuld für die Wahlniederlage in die Schuhe zu schieben. Damit hat er nichts zu tun. Vielmehr konnte er mit taktischem Gespür und seinem selbstbewussten Auftritt die Partei über all die Jahre zusammenhalten. Angesichts der unterschiedlichen Strömungen, Agenden und grossen Egos ist das eine riesige Aufgabe. Andere wären daran gescheitert.

Dass die SP sich nicht wieder in Richtung der 20-, sondern näher zur 15-Prozent-Marke bewegt (siehe Grafik unten), liegt an der Grosswetterlage und einer vertrackten Positionierung in der Europa-Frage. Die Grünen sind seit nunmehr drei Jahren im Hoch, sie präsentierten sich im Wahljahr nicht nur als frische Alternative, sondern profitierten auch enorm von der Klimawahl. Obwohl die SP in der Umweltpolitik praktisch deckungsgleich verortet ist, holte die kleinere Schwesterpartei die Neu-, Erst- und Wechselwählerinnen ab. Das sorgt bei den Sozialdemokraten für Frust.

Gerade im urbanen Raum hat die SP eine weitere Konkurrentin erhalten: die GLP. Sie führt das «Grün» im Namen und hat in der Europapolitik von Anfang an eine klare Position eingenommen. Sie ist die einzige Kraft, die sich von Anfang an für das Rahmenabkommen stark gemacht hat. Die SP hingegen meldete Vorbehalte an und die Gewerkschaften gingen anfänglich auf die Barrikaden. Damit haben sie sozialliberale Linke verprellt, gerade im Kanton Zürich. Die Wählerstromanalysen zeigen, dass nur ein sehr bescheidener Teil der SP-Wählerinnen zur GLP abgewandert ist. Das Problem geht tiefer: Die Grünlilberalen haben eine klare Positionierung, haarscharf links der Mitte, und damit ist für die SP dort nichts mehr zu holen. Wie soll sie jemals wieder die psychologisch so wichtige 20-Prozent-Marke nehmen?

Die Neubesetzung des Parteipräsidiums dürfte nun eine intensive Debatte über die Ausrichtung der SP auslösen. Im Idealfall ist sie befruchtend, sie kann aber auch lähmen. Mit der Wahl eines «jungen weiblichen Gesichts» ist es jedenfalls nicht getan. Die neue Präsidentin muss integrierend wirken.

Was auch klar ist: Die Fussstapfen von Levrat sind gross. Was der gerissene Schachspieler im Parlament und bei einzelnen zentralen Volksabstimmungen wie der Unternehmenssteuerreform III (USRIII) erreichte, ist angesichts der Kräfteverhältnisse bemerkenswert. Daran wird man die neue Person an der Spitze der SP – oder das Co-Präsidium – messen.

Nachgereicht:
Kritischer mit Levrat und der SP geht NZZ-Inlandchef Michael Schönenberger um – sein Kommentar.

Die Entwicklung der Parteistärke seit der Einführung des Proporzwahlrechts 1919: Mit 16.8 Prozent und 39 Sitzen im Nationalrat ist die SP auf einem historischen Tief angelangt. Grafik: SRF/10vor10

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