“Die Idee des Botellón hat mit einem Massenbesäufnis wenig zu tun”
Publiziert am 30. August 2008Gestern Abend ging das erste Botellón in der deutschen Schweiz in Szene, laut nzz.ch sollen etwa 2000 Personen dabei gewesen sein. Offensichtlich waren mehr Medienschaffende als Betrunkene zugegen.
Heute Abend soll auch in Bern ein Botellón stattfinden. Die Behörden haben den Anlass nicht explizit verboten. Sie wollen ihn auf öffentlichem Grund aber auch nicht tolerieren, wie Stadtpräsident Alexander Tschäppät in einem Interview auf der Diskussionsplattform wahlbistro.ch erklärte.
Ich befragte Bruno B., er ist Sprecher bzw. “Facebook”-Administrator der Berner Botellón-Gruppe. Er gab bislang einzig gegenüber Spiegel-Online Auskunft.
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Die Berner Stadtbehörden wollen den Botellón von heute Abend nicht zulassen. Halten Sie an der Durchführung fest?
Bruno B: Es besteht rechtlich keine Grundlage, diesen Event zu verbieten, da in unserem Land Versammlungsfreiheit herrscht. Das Botellón wird mit oder ohne Segen der Stadtväter durchgeführt.
Ich stelle mir das Szenario von heute Abend bizarr vor: Ein paar Hundert Menschen treffen sich auf einem öffentlichen Platz, Suchthilfe-Experten schwärmen aus, die Polizei markiert Präsenz – und schreitet irgendwann einmal ein, um den Event aufzulösen. Ich finde das nicht prickelnd, und Sie?
Eine prickelnde Provokation steht hier nicht zur Debatte. Wenn Suchthilfe-Experten vor Ort sind, ist dies eine Präventionsaktion, die ich nur begrüssen kann. Gleichwohl erinnert mich das von Ihnen geschilderte Szenario eher an eine unbewilligte Demonstration des „Schwarzen Blocks“, wo Aggression, Gewalttätigkeit und Sachbeschädigung zum obligaten Programm gehören. Ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass es sich beim 1. Berner Botellón um ein geselliges Beisammensein von Jugendlichen handelt. Der Begriff „Massenbesäufnis“ stammt aus der Medienküche und hat mit der Idee des Botellóns wenig zu tun. Am Ende wird sich herausstellen, dass viel Wind um nichts gemacht wurde.
Wäre es rückblickend nicht besser gewesen, wenn sich ein Organisationskomitee gebildet hätte? Dieses hätte frühzeitig mit den Behörden in Kontakt treten und ein Gesuch für die Durchführung dieses Anlasses stellen können.
Ein Botellón funktioniert ohne Organisatoren, es werden nur Datum, Ort und Zeit bekannt gegeben. Die Leute finden sich am angekündigten Ort aus eigener Initiative ein. Es steht auch kein Verantwortlicher zur Verfügung, der für allfällige Folgen angeprangert werden kann, da jeder für sich selbst verantwortlich ist. Wir sind alle mündige Bürger, dürfen wählen gehen und bezahlen Steuern. Ich appelliere an den gesunden Menschenverstand der Teilnehmer.
Die Stadtbehörden und Stadtpräsident Tschäppät haben wiederholt via Medien mitgeteilt, dass ein Botellón bewilligungspflichtig sei. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, ein solches Gesuch würde bei Einreichung auf jeden Fall abgelehnt werden. Das Einreichen einer Bewilligung würde somit zur Farce, deshalb haben wir auf diesen sinnlosen administrativen Aufwand bewusst verzichtet.
Auf der Internet-Plattform „Facebook“ rufen Sie die Teilnehmenden auf, keinen Abfall zu hinterlassen, auf Aggressionen und Gewalt zu verzichten, und, wenn überhaupt, massvoll Alkohol zu trinken. Reicht dieser Aufruf?
Mehr als einen Aufruf kann ich nicht machen, schlussendlich ist jeder für sich, seine Taten und deren Folgen selbst verantwortlich. Meine Freunde und ich werden uns daran halten, aber ich kann nicht die Hand ins Feuer legen für Personen, die ich nicht kenne. Wie schon Martin Luther King sagte „I have a dream“, habe auch ich einen Traum: den Traum von einem friedlichen Botellón.
Seit Wochen herrscht wegen den Botellones nicht nur Aufregung, sondern schweizweit eine regelrechte Empörung. Können Sie das nachvollziehen oder ist die junge Partygeneration von lauter Bünzlis umzingelt?
Die Presse steckt im Sommerloch und die Politiker müssen sich aufgrund der Neuwahlen profilieren. Wäre der ganze Medien-Hype nicht gewesen, hätten sich niemals so viele Leute bei den Botellones angemeldet. Es wird ein gemütlicher Umtrunk, und hoffentlich werden die Kritiker eines besseren belehrt. Beim nächsten Botellón sind auch die Bünzlis herzlich eingeladen, sie müssen sich nur auf Facebook registrieren und sich der Berner Botellón-Gruppe anschliessen.
Die Organisatoren des Botellón in Zürich von gestern Abend haben den Kontakt mit den Medien schon vor einigen Tagen abgebrochen. Sie fühlen sich nach eigenen Angaben missverstanden, das „Massenbesäufnis“ werde herbeigeschrieben. Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit den Medien gemacht?
Mit den Schweizer Medien pflege ich keinen Kontakt. Ich habe aus den Fehlern meiner Vorgänger gelernt, die den reisserischen Artikeln der Medienschaffenden zum Opfer fielen. Einzig Spiegel-Online und nun Wahlbistro.ch bzw. dem Wahlkampfblog gewähre ich Interviews in schriftlicher Form, da mir diese Publikationen Anonymität zugesichert haben und ich von deren Integrität überzeugt bin.
Was müssten Sie befürchten, wenn Sie hier mit Ihrem bürgerlichen Namen und einem Foto aufscheinen würden?
Bei Neueinstellungen verwenden Personalchefs vermehrt Google und Facebook, um zusätzliche Informationen über die Bewerber zu erhalten. Durch Veröffentlichung meines Namens wäre ich auf Lebzeiten als Organisator eines sogenannten Massenbesäufnisses gebrandmarkt. Falls ich mich nicht gerade bei Carlsberg um eine Stelle bewerbe, wäre dies kaum förderlich für meine weitere berufliche Laufbahn.
Interview: Mark Balsiger
Archivbild: sueddeutsche.de
‘@ Titus @ Wahlbistro.ch
Sie fragen nach den Ursachen von Botellónes und nennen Leistungsdruck, Vorurteile und einschränkende gesellschaftliche Regeln als mögliche Gründe. Es scheint mir plausibel, Merkmale des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels für die Entstehung von Neuem heranzuziehen. Des Weiteren schlage ich einen entwicklungspsychologischen respektive jugendsoziologischen Deutungsansatz vor, welcher sich im Lauf der Geschichte immer wie-der bestätigte.
Eine der wichtigsten und schwierigsten Entwicklungsaufgaben Jugendlicher besteht ja darin, sich aus infantilen Abhängigkeiten und damit auch restriktiver Kontrolle eigener Erfahrungs-welten durch ältere Generationen zu lösen. Demzufolge lassen sich echte Freiräume nicht bereitstellen, Freiräume muss man sich aneignen. Sie entziehen sich einer bürokratischen Organisation und damit WC-Anlagen, Sanitätszelt und Abfallkonzept.
Domestizierte Freiräume sind keine Freiräume mehr. Trends wie Hip Hop oder Techno wurden nach den ersten entsetzten Aufschreien der Allgemeinheit postwendend von unserem Kommerzsystem internalisiert und marktgerecht vergesellschaftet. Hand aufs Herz, wie viele Erwachsene konsumieren jugendkulturelle Symbole, um sich den Anschein „ewiger Jugend“ zu verleihen? Rasch ist der Giftschrank der Techno-Szene vergessen, wenn das funkelnde Piercing die Bauchnabel der Vierzigjährigen ziert. Zwar werden Jugendbewegungen salonfähig, dafür raubt diese Form retroaktiver Sozialisation ihre Ausdrucksmittel.
Nebst spezifischem Outfit, eigener Musik, Gestus, Sprache und Attitüden sind die weiteren Gestaltungsmittel von Jugendtrends immer in etwa dieselben. Regel-, Norm- oder Gesetzesverletzungen durch Umnutzung öffentlichen Raumes oder Konsum psychotroper Substanzen sind zuverlässige Ingredienzien in den zuweilen recht einfallsreichen Rezepturen der Jugendlichen. Nur eine Zutat darf nie fehlen: kollektive Handlungsabläufe, sie vermitteln das für dieses Lebensalter so bedeutsame Gemeinschaftsgefühl – yes, we’re all Brodas and Sistas!
Belügen wir uns nicht mit moralischer Scheinheiligkeit – die Generation der heutigen Grosseltern erlebte bereits ein ziemlich buntes Panorama von Jugendphänomenen: Die Beat-Generation experimentierte mit Drogen, Halbstarke entluden ihre Aggressionen in Krawallen, Hippies erprobten die freie Liebe in Kommunen, Punks schockierten mit ihrer Ästhetik des Hässlichen, Ökofundis ketteten sich an allerhand, Anarchisten besetzten Häuser, Hip Hopper markierten ihr Revier mit Tags, Raverinnen durchtanzten die Nacht unter freiem Himmel, kontaktfreudige Teenies pilgern zum Botellón in öffentlichen Pärken…
Auch wenn die Aufzählung nicht über Klischees hinauszugehen vermag und solche Phänomene immer nur einen kleinen Bruchteil (!) der jeweiligen Jugendlichen betreffen: Jeder Generation, jeder Subkultur und jeder Person ihr eigenes gesellschaftliches Drop out (selbst wenn dieses längst nicht immer zu einer Jugendkultur expandiert). Es ist einfach so, ob wir es gut finden oder nicht. Da helfen weder Entsetzen oder Empörung noch verächtliche Kritik.
Ich bin es leid, dass in der Öffentlichkeit immer wieder larmoyant der Verlust der Werte beklagt wird, als handle es sich dabei um einen Schicksalsschlag. Damit verbunden ist die absurde Erwartung, irgendwer müsse (womöglich nach dem Ancienitätsprinzip?!) wieder für Ordnung sorgen. Dieses statische Denken erinnert an die klassische Physik, welche von einer absoluten Wahrheit ausgeht, und verkennt das Organisationsprinzip autopoietischer Systeme.
Anstelle von Schuldzuweisungen und Pauschalisierungen im Sinne einer „Jugend als gesellschaftliche Problemgruppe“ ist Bereitschaft zur Auseinandersetzung gefragt. Aber wie?
Das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ist reziprok und komplementär zugleich, d.h. die geforderten Auseinandersetzungen beziehen sich gleichermassen auf die symmetrische wie asymmetrische Ebene:
Symmetrisch meint, eine Gesellschaft, welche ihrer Jugend unaufgeregt mit Offenheit, Interesse sowie Loyalität begegnet und welche v.a. anerkennt, dass Kinder und Jugendliche wesentlich an der Gestaltung ihrer Erziehung mitbeteiligt sind. Symmetrisch meint auch eine Erwachsenengeneration, welche sich selbstkritisch reflektiert, und dabei nebst den irritierenden Unterschieden auch erkennt, wie viel sie mit ihrer Jugend verbindet.
Demgegenüber verlangt die partielle Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Jugendlichen in Form des Generationen-, Reife- und Kompetenzgefälles von den Erwachsenen auch Grenzsetzungen. Dies ist im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung eindeutig schwieriger geworden. Fehlt Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Erwachsenen jedoch die Möglichkeit, Grenzen zu erfahren, wirkt dies verunsichernd und überfordernd zugleich, weil sie mit den Folgen ihres Handelns allein gelassen werden. Sie erfahren kaum Widerstand, stossen gewissermassen mit allem was sie tun ins Leere und können ihr Handeln bestenfalls im Kontakt mit der dinglichen Wirklichkeit reflektieren. Es ist das Recht der Jugend zu rebellieren und es ist ihr Recht, darauf eine angemessene Reaktion zu bekommen.
In diesem Sinne bin ich Jugendlichen dankbar, dass sie uns immer wieder von Neuem provozieren, nehmen wir die Herausforderungen an!
In my city, the ‘botellón’ is totally legal and there is no problem with anybody. I think that is better to know people and drink good. My city is called Oviedo, in Spain and it is the second more clean in Europe.
Hinweis von Mark Balsiger
Das ist eine Première im Wahlkampfblog: ein fremdsprachiger Kommentar. Sinngemäss die Übersetzung dieses Bloggers aus Spanien:
“In meiner Stadt sind die Botellones legal und sie verursachen keine Probleme. Ich denke, dass es besser ist, zusammen mit Freunden etwas zu trinken. Ich lebe in Oviedo, und diese Stadt ist in Bezug auf die Sauberkeit auf Platz 2 in ganz Europa.”
Dieser Kommentar aus Oviedo bringt eine neue Perspektive: Die Botellones nahmen ihren Anfang in Spanien, in den 90er Jahren wars. Der Ursprung: Die Jugendlichen reagierten auf die teuren Getränkepreise in den Restaurants, Bars und Discos, deckten sich darum im Supermarkt mit Alkohol ein und konsumierten gemeinsam, irgendwo auf einem Platz.
‘@natascha mathis
“Demzufolge lassen sich echte Freiräume nicht bereitstellen, Freiräume muss man sich aneignen. Sie entziehen sich einer bürokratischen Organisation und damit WC-Anlagen, Sanitätszelt und Abfallkonzept.”
Liebe Natascha, bis auf diesen Satz bin ich vollkommen mit Dir einverstanden.
Aber Freiräume und Ablösung vom Elternhaus hin oder her. Ein gewisses Mass an Anstand darf man ja wohl dennoch erwarten.
Es kann doch nicht sein, dass man eine Party veranstaltet, bräteln geht oder sich im MacDonalds verpflegt und dann einfach den ganzen Abfall liegen lässt (oder ihn aus dem Auto wirft), wo man sich halt grad befindet.
Das ist eine Schweinerei und für mich inakzeptabel.
‘@Hardy
„Inakzeptabel“ – ja, so kann man Scherben in Spielwiesen und Uringestank durchaus bezeichnen.
Wie gesagt, ich fordere von Erwachsenen ja beiderlei:
– Verständnis für die entwicklungspsychologische Funktion von Grenzüberschreitungen durch Jugendliche und ihr Lebensgefühl: „Yep, gemeinsam sind wir stark, die Welt gehört uns, nehmen wir sie in Beschlag!“
– Bereitschaft, Akzeptanzgrenzen zu setzen: „He aber hallo, ihr seid hier nicht allein und wir erwarten ein gewisses Mass an Anstand: darum räumt bitte euren Müll weg!“
[…] Damals, Ende August 2008, konnte ich den Organisator des ersten Berner Bottelóns interviewen. […]