Die typische Schweizer Kultur des Zuhörens, Diskutierens und Aushandelns stirbt
Publiziert am 25. November 2014Die Angst geht um und die Zeit läuft, bloss hört man das Ticken der Uhr nicht. Am 10. Februar 2017 fällt die Guillotine und die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU sind Makulatur, wenn bis dann keine Einigung erzielt wird. Dass uns Brüssel irgendwelche Zugeständnisse bei der Personenfreizügigkeit machen wird, können wir als fiebrige Fantasievorstellung abhaken. Für die EU hat die Freizügigkeit dieselbe Bedeutung wie für uns die direkte Demokratie: sie ist ein Grundpfeiler und nicht verhandelbar.
Ausgerechnet in dieser fragilen Phase hat die lange Königsetappe des Wahlkampfs begonnen: Jede Partei schärft ihr Profil, grenzt sich von den anderen ab und ihre Präsidenten sind dauerhaft im Angriffsmodus. Sie provozieren und machen Lärm. Das ist Teil des Spiels: Es geht um Aufmerksamkeit, Wählerprozente, National- und Ständeratssitze.
Nach dem Bergpreis werden das Taktieren und Schachern um den Etappensieg noch heftiger, weil es um die Zusammensetzung des Bundesrats geht. Die SVP fordert vehement und einen zweiten Sitz, die 5,4-Prozent-BDP wiederum hofft, dass ihre Eveline Widmer-Schlumpf eine dritte Legislaturperiode anhängt, SP-Präsident Christian Levrat spielt mit den Muskeln und eine Handvoll Gambler wird zweifellos erneut versuchen, was ihr 2007 schon einmal Mal gelungen war: einen Coup zu landen.
Seither wird die Ausgrenzung betrieben: Wir und die anderen
Für die Psychohygiene und das Ego dieser Spielernaturen im Parlament war die Abwahl Christoph Blochers im Dezember 2007 gut, unserem Land aber hat sie irreparablen Schaden zugefügt, weil sie das Klima dauerhaft vergiftete. War die Rhetorik der SVP schon vorher ungehobelt, kippte sie nach der Demütigung ihres Anführers in die dauerhafte Verhöhnung. Seither betreiben viele Parteigänger die Ausgrenzung – wir und die anderen. Die Nationalkonservativen finden das legitim, weil die anderen angefangen haben und sie selber ja nur zurückschlagen.
Das Draufhauen und Ausgrenzen ist inzwischen Mainstream geworden. Wenn Bundesrat Alain Berset im letzten Frühling an der Buchmesse in Leipzig sagte, dass „wir das Privileg hätten, einander zuhören zu müssen“, blendet er die Realität aus: die während Jahrzehnten gepflegte Kultur des Diskutierens und Aushandelns wird kaum mehr gepflegt.
Die Blocher-Abwahl führte zur Gründung der BDP und machte die Zentrifugalkräfte noch stärker. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, dass die staatstragenden Parteien – Wahljahr 2015 hin oder her – eine Achse der Vernunft bilden würden, um gemeinsam den Wirtschafts- und Forschungsstandort Schweiz wieder auf ein solides Fundament zu stellen. Doch die Verteidiger der Bilateralen irren wie aufgeschreckte Hühner umher. Statt den Ecopop-Nonsens mit den stärksten Argumenten zu erklären, werden die Initianten diffamiert und in die braune Ecke gedrängt – als ob man damit auch nur eine einzige zusätzliche Nein-Stimme gewinnen könnte.
Das Vertrauen in Politik und Wirtschaft ist zerrüttet, und man gewinnt nicht den Eindruck, dass deshalb die Wirtschaftsführer von heute schlaflose Nächte hätten. Wieso auch? Die meisten von ihnen sind „Global Nomads“ und in drei oder vier Jahren wieder in einem anderen Land tätig. Noch in den Neunzigerjahren wären die Spitzenkräfte der Wirtschaft auf die Hinterbeine gestanden und hätten die Anti-Minarett-Initiative, dieses gesellschaftspolitisch himmeltraurige Signal, die Masseneinwanderungs- und die Ecopop-Initiative mit Überzeugung und vollem Engagement bekämpft. Tempi Passati. Vereinzelt gaben Manager in der Schweiz tatsächlich Interviews zur Masseneinwanderungsinitiative – nach dem Ja am 9. Februar; zuvor hatte man ihre Stimmen nicht vernommen.
Das Fundament bröckelt – der Preis der Globalisierung.
Unser Land wird immer wieder von diffusen Ängsten ergriffen, die einzelne Akteure gezielt schüren. Seit wenigen Jahren gesellen sich dazu auch reale Sorgen: Menschen aus fast allen Branchen und Altersgruppen fürchten sich vor Jobverlust, steigenden Mieten, sozialem Abstieg und der ungewissen Zukunft. Sie mutierten zu Zeichensetzern und Wutbürgern.
Fakt ist, dass sich die Zahl der Erwerbslosen zwischen der vollen Personenfreizügigkeit für die EU-17-Staaten im Frühling 2007 und heute verdoppelt hat. 205’000 Menschen suchen in unserem Land Arbeit – es sind IT-Fachleute, Bauarbeiter, Kellnerinnen, usw. –, finden aber keinen Job. An ihrer Stelle rekrutiert man laufend neue Arbeitskräfte im Ausland, zum Teil weil sie besser ausgebildet, vor allem aber weil sie jünger und günstiger sind. Doch die Wirtschaft foutiert sich um die Probleme, die so entstehen.
Tatsache ist, dass die Personenfreizügigkeit eben nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Verlierer. Hätten Bundesrat und Wirtschaft das von Anfang an offen kommuniziert und nicht schöngeredet, müssten wir jetzt nicht vor diesem Schreckgespenst namens Ecopop zittern.
Mark Balsiger
Fotos: solvion_net, zeit_de
“Für die Psychohygiene im Parlament war die Abwahl Christoph Blochers gut, unserem Land aber hat sie irreparablen Schaden zugefügt, weil sie das Klima dauerhaft vergiftete.” Was für ein Schwachsinn. Die SVP war kein Jota braver mit und ohne Blocher. Auch deshalb hat man Blocher aus dem BR entfernen müssen. Schon lange bevor Blocher in den Bundesrat kam, kündigte seine SVP die Schweizer Politik des Ausgleichs auf. Selbst in der eigenen Partei! Nicht umsonst ist die SVP auseinander gebrochen. Dass um die Sitze im Bundesrat taktiert wird und dass es nicht um arithmeitische Formeln geht, auch das ist ein alter Hut. Und es gehört zur Schweizerischen Demokratie, dass man Krawallparteien und -bundesräte nicht in die Exekutive lässt. Dass das Klima jetzt so vergiftet ist, ist nicht, weil man der SVP zu wenig Macht eingeräumt hätte, sondern weil man ihr zu wenig entschieden entgegentritt.
‘@haemmerli
Danke für den “Schwachsinn”, lieber Thomas Hämmerli. Sie liefern einen weiteren Beweis, weshalb der politische Diskurs in unserem Land nicht mehr funktioniert. “Immer feste druff” und das Vis-à-vis für inkompetent hinstellen – das ist offensichtlich auch Ihr Weg. Schade, Ihnen hätte ich mehr zugetraut.
Bei vielen Grundsatzfragen gibt es leider nur ein JA oder ein NEIN. Es ist schwierig eine Konsenslösung aufzuzeigen, wenn die eine Seite (EU) sagt, die Personenfreizügigkeit sei nicht verhandelbar.