Die Zeichensetzer marschieren durch

Publiziert am 28. November 2010

Jetzt schämen sie sich wieder – auf Facebook, in Onlineforen und auf der Strasse: Vor drei Stunden versammelte sich beim Bahnhof Bern eine Horde Demonstranten (siehe Bild unten), skandierte Anti-SVP-Parolen, brannte Pyros ab und blockierte – zum Teil vermummt – den öffentlichen Verkehr. Ich nahm vor Ort einen Augenschein. Ob es zu Ausschreitungen und Sachbeschädigungen gekommen ist, wissen wir morgen.

Die schüchterne Frage sei erlaubt: Gingen die Fremdschämerinnen und Protestierenden auch allesamt abstimmen? Mich übermannen Zweifel. Aber gegen die Volkspartei ein wenig Radau zu machen ist “voll geil” – Volkssport für zwei Stunden. Und dann wieder nach Hause an die Wärme, die Spielkonsole wartet.

Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Ich finde das Ja zur Ausschaffungsinitiative hoch problematisch und habe mich auch klar gegen sie ausgesprochen. Vereint dagegen anzukämpfen wäre die Aufgabe der staatstragenden Parteien gewesen. Stattdessen leisteten sie sich entweder einen Zweifronten-Konflikt oder ihr Engagement war lau. Der Kitt, der unserere Gesellschaft zusammenhält, löst sich weiter auf.

Symbolpolitik ist en vogue. Es ging bei dieser Volksinitiative darum, ein Zeichen zu setzen. Das haben die Schweizerinnen und Schweizer heute getan. Viele aus Verunsicherung. Diese Vorlage war erneut ein Ventil, die Zeichensetzer marschierten durch.

Das Ja markiert den Startschuss für einen langen und beschwerlichen Weg, bis eine einigermassen praktikable Lösung errungen werden kann. Die Sieger von heute sind eingeladen, bei diesem Prozess konstruktiv mitzuwirken. Ob sie das überhaupt können? Oder wollen? Wahrscheinlicher ist, dass sie bereits im Wahljahr 2011 die nächste Volksinitiative lancieren werden. Asyl, Einbürgerung, Personenfreizügigkeit – es gibt verschiedene Stossrichtungen. Das Agendasetting beherrscht die SVP.

Der Abstimmungskampf zeigte es erschreckend deutlich: Die Stärke der SVP ist die Schwäche aller anderen Parteien. Elf Monate vor den eidgenössischen Wahlen lässt das nichts Gutes erahnen. Die Zeichensetzer sind gut unterwegs; das Potenzial des nationalkonservativen Lagers liegt bei 35 Prozent. Die SVP erreichte 2007 einen Wähleranteil von 28,9 Prozent. Vorab in der Zentralschweiz und der Romandie kann sie noch weiter wachsen.

– Sujet: julis-diepholz.com
– Foto: Demonstration Bern: keystone (ergänzt am 29.11. um 11 Uhr)

12 Replies to “Die Zeichensetzer marschieren durch”

  1. Einverstanden, ich habe Ja zur Ausschaffungsinitiative gestimmt, weil ich ein Zeichen setzten wollte, ein Zeichen gegen den Mainstream von Politik (Mitteparteien), Medien und Wissenschaft. Die kommende Umsetzung sehe ich sehr gelassen entgegen. Interessant ist zudem der flächendeckende Schiffbruch des Gegenvorschlags sowie die “halbe Portion Rösti” gemäss heutiger NZZ, Seite 10.

    Ich habe Ja zur Steuergerechtigkeitsinitiative gestimmt, weil ich eigentlich gegen meine Überzeugungen taktisch der SP helfen wollte. Für 2011 sehe ich für die SP tiefrot (Kapitalismus mit ex-BR Leuenberger, EU-Beitritt und Armeeabschaffung). Wunderschöne Steilpässe an die SVP.

    “Die Stärke der SVP ist die Schwäche aller anderen Parteien. Elf Monate vor den eidgenössischen Wahlen lässt das nichts Gutes erahnen.” Die SVP ist nach wie vor gut unterwegs. Die gestrigen Resultate in der Stadt Thun wären auch eine Analyse wert.

  2. Besten Dank für dieses Statement, Mark!

    Und im selben Stil wird es 2011 weitergehen – wer meint, die SVP habe das gesamte Initiativenspektrum bereits abgegrast, ist naiv. In diesem Sinn: der Wahlkampf 2011 ist eröffnet.

    Wer nicht agiert, muss reagieren. Muss an Abstimmungssonntagen seinen Kopf mit den Worten «auch wenn wir verloren haben, erzielten wir einen Achtungserfolg» aus der Schlinge ziehen. Wie oft werden wir dieses Bild noch zu sehen bekommen?

  3. Ich bin über das Abstimmungsresultat vom vergangenen Sonntag hoch erfreut. Es wurde ganz in meinem Sinne entschieden.

    Von den Mitteparteien und den Linken erwarte ich jetzt, dass sie den Volkswillen ernstnehmen und respektieren. Bei einer hohen Stimmbeteiligung von 53% stimmten eine deutliche Mehrheit der Stimmbürger und 17.5 Kantone für die Ausschaffungsinitiative. Der Gegenvorschlag wurde hingegen deutlich abgelehnt. Sicherlich gingen noch ein paar bürgerliche Stimmen an den Gegenvorschlag verloren, sonst wäre die Ausschaffungsinitiative noch deutlicher angenommen worden.

    Die Chaoten auf der Strasse sollten sich vorallem aufgrund ihres eigenen schändlichen und ehrlosen Verhaltens schämen. Sie sind ja noch nicht einmal fähig eine Abstimmungsniederlage hinzunehmen und den Volkswillen zu respektieren.

    Appell an die Polizei, greift endlich durch und schafft diese Leute [+ Das Originalwort wurde zensuriert. Nochmals ein solcher Ausrutscher und Sie gesperrt gesperrt! Die Red. +] von den Strassen. Damit wieder Ruhe und Ordnung auf unseren Strassen herrscht.

  4. Ihre Zensur ist übertrieben. Das war kein Ausrutscher sondern eine bewusste Formulierung. Von mir aus können Sie mich sperren, ich kann meine Meinung ohnehin auf meinem eigenen Blog kundtun. Zur Info an die Leser, es war ein Wort, dass mit G beginnt und mit L endet und es ist in meinen Augen die einzig zutreffende Bezeichnung für solche “Leute”.

  5. Herr Balsiger, diese “Leute” bezeichnen unseren Staat als Faschostaat und Leute wie mich als Hetzer und Rassisten. Das ist dann wieder in Ordnung, was? Ihre Haltung ist ein bisschen einseitig – starke Tendenz nach links, denn sonst würden sie auch die Bilder mit den grässlichen Unwörtern zensieren.

  6. ‘@ Alexander Müller

    Meine Weltanschauung und meine Überzeugungen definieren sich nicht über die Links-Rechts-Achse. Gerade mit dem aktuellen Posting wird das offenkundig.

    Auf meinem Blog haben Unwörter nichts zu suchen, deshalb löschte ich Ihr “G….”. Wenn Sie anderswo angegriffen werden, ist das nicht mein Problem.

    Die Demonstranten von gestern disqualifizierten sich wegen den Sachbeschädigungen selbst. Das Foto mit dem Transparent, das ich im Nachhinein einfügte, überführt sie gleich nochmals.

  7. ‘@ RN

    Dann gehören Sie also zu den taktischen Wähhlern.

    Zu den Wahlen in Thun: Ich kam erst gestern Nacht dazu, die Ergebnisse genauer anzuschauen. Es macht nur Sinn, die Entwicklung über eine längere Zeitspanne zu betrachten. Nicht nur die SP, sondern auch die FDP verloren massiv. Die SVP legte zu, stark schnitt auch die BDP ab.

    Auf gesamtschweizerischer Ebene verlieren CVP und FDP seit bald 30 Jahren, bei der SP ist seit je ein Auf und Ab festzustellen. Aber ich teile ihre Vermutung: nächstes Jahr kann es für die SP ganz schwierig werden.

  8. Zweifach zutreffend analysiert, Herr Balsiger. Erstens, dass jetzt wahrscheinlich die skandieren, die nicht wählen gingen (immerhin ging fast die Hälfte NICHT an die Urne). Zweitens, dass die Stärke der SVP in der Schwäche der anderen Parteien begründet liegt (und in einem unbestrittenermassen cleveren Politikmarketing).

    Hätten sich die Mitteparteien etwas engagierter und geschlossener gezeigt, und die Linken mit ihrem doppelten Nein nicht auch den Gegenvorschlag (für den ich aus taktischen Gründen gestimmt habe) zu Fall gebracht, hätten wir jetzt nicht die Misere eines Volkauftrages, der nicht sofort umsetzbar ist bzw. zuerst noch juristisch aufgearbeitet werden muss.

    Mein Unbehagen zum Ausgang der Abstimmung habe ich einem eigenen Posting zum Ausdruck gebracht: http://ahasoistdas.blogspot.com/2010/11/sad-but-true.html.

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