Die Zeichensetzer vor dem Durchmarsch
Publiziert am 04. März 2013VON MARK BALSIGER
Das Schweizer Volk hat seit 1891 über insgesamt 183 Volksinitiativen abgestimmt. Das erschlagende Ja zur Abzocker-Initiative von gestern bedeutet den 20. Erfolg. Die Quote dieses direktdemokratischen Instruments liegt damit bei 10,9 Prozent. Auffallend ist, dass allein in den letzten 20 Jahren 10 Volksinitativen erfolgreich waren, während die anderen 10 Ja sich auf 102 Jahre verteilt hatten. Da ist fraglos etwas in Bewegung geraten. Die Initianten seien keck geworden, analysiert Blogger-Kollege Claude Longchamp.
Mir ist ein anderer Aspekt ins Auge gestochen: Wenn es um wirtschaftspolitische Anliegen geht, folgt der Souverän praktisch immer den Empfehlungen von Bundesrat, Parlament und Wirtschaftsverbänden. Das hat Tradition in unserem wirtschaftsliberalen Land. Das letzte Ausscheren liegt etwas mehr als 20 Jahre zurück. Damals wurde der EWR nach einer intensiven und beispiellos emotionalen Abstimmung abgelehnt. Es war eine Stellvertreterschlacht, genauso wie bei der Abzocker-Vorlage. Bei den Schlachten von 1992 und 2013 standen die wirtschaftspolitischen Aspekte kaum je im Vordergrund. Es ging damals um Souveränität und ein EU-Trainingslager, in den letzten Wochen um einen Sonnenkönig und das Drehbuch eines Propagandafilms, der nicht gezeigt werden durfte.
Die Wut im Bauch der Schweizerinnen und Schweizer gärte schon seit Jahren. Gestern haben sie Bundesrat, Parlament und Wirtschaftsverbänden gezeigt, wo de Bartli de Most holt. Die Wut entlud sich mit voller Wucht; es ging darum, ein Zeichen zu setzen. Einmal mehr. Wie bei der Verwahrungs-Initiative (2004; extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter), der Unverjährbarkeits-Initiative (2008; pornografische Straftaten an Kindern), der Minarett-Initiative (2009) und der Ausschaffungs-Initiative (2010). Das Zeichensetzen betraf bislang Anliegen der Gesellschafts- und Ausländerpolitik – bis zur Abzocker-Initiative.
Politik und Wirtschaft haben enorm an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Glaubwürdigkeit und viel Vertrauen bräuchte es gerade in den nächsten Jahren, weil weitere wirtschaftspolitische Vorlagen in der Pipeline sind: Die 1:12-Initiative der Juso, die im Herbst zur Abstimmung kommt, voraussichtlich 2014 folgen dann die Ecopop-Initiative, die Masseneinwanderungs-Initiative und die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien. Wenn nicht ein gewaltiger Ruck durch die Reihen der besonnenen Kräfte geht, marschieren die Zeichensetzer durch.
Die Zeichensetzer leben im Val d’Anniviers und im Zürcher Stadtteil 7, sie sind blutjung, im mittleren Alter oder betagt, sie ticken links, rechts oder apolitisch, sie sind gut ausgebildet oder angelernt. Die Zeichensetzerinnen passen in kein gängiges Konfliktmuster, sondern sind eine grosse, bunte und heterogene Masse. Was sie verbindet, sind negative Emotionen: Wut, Neid, Angst, Zynismus, Frustrationen. Sie haben die Power, jedes Jahr eine oder zwei Abstimmungen zu gewinnen.
Symbolbild: salzburg.com
“Was sie verbindet, sind negative Emotionen: Wut, Neid, Angst, Zynismus, Frustrationen.”
Es würde mich interessieren, ob dies wirklich die massgeblichen Gründe waren, wenn die Analysen folgen. Diese “Wutbürger”-Erklärung greift meiner Meinung nur bei einem Teil der Stimmenenden. Das zeigt auch die relativ geringe Wahlbeteiligung im Vergleich zu anderen emotionalen Themen.
Ich kenne viele “stramm bürgerliche” Wähler, welche Initiative und Gegenvorschlag rational verglichen und sich dann für ein Ja entschieden haben. Anders kommt man meiner Meinung auch nicht auf einen so hohen 68% JA-Anteil.
Wenn die Wirtschaft einerseits immer jammert, Leute beliebig entlässt (meist in Zeiten von hohen Gewinnen), Löhne tief hält und andererseits mit Boni usw. um sich wirft, ist es Zeit, dass diese Abzocker entfernt werden. Noch dazu, wenn sie Firmen gegen die Wand fahren oder zumindest nichts tun.
Das Thema Vasella war ja lediglich ein Vergütungsthema, ansonsten hat ihn wohl kaum was interessiert.
Liegt eine Volksinitiative mit einem Anliegen vor, das im Grundsatz weit herum Anklang findet, dann erarbeiten Bundesrat und Parlament häufig einen Gegenvorschlag. Soweit ich mich erinnern kann, stimmte das Schweizer Stimmvolk in solchen Situationen immer für den (gemässigteren) Gegenvorschlag (das wäre vielleicht auch einmal eine Analyse wert).
In diesem Fall aber wurde der Gegenvorschlag gar nicht erst dem Stimmvolk vorgelegt. Die angebliche “Wut” hätte sich quasi über eine “verneinende Bejahung” äussern sollen, also indem die Initiative abgelehnt wird, damit der Gegenvorschlag zur Anwendung kommt. Ich denke, das funktioniert so nicht. Genau wegen diesem “parlamentarischen Experiment” finde ich es gefährlich, daraus nun allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen.
Hinzu kommen weitere Aspekte wie eine verpatzte Gegenkampagne oder ein Dachverband, der mehr den Eindruck erweckt, mit viel Geld statt ehrlichen und sachlichen Argumenten und Köpfen einen Volksentscheid erkaufen zu können.
Claude Longchamps Feststellung mag zwar richtig sein, erweckt aber dennoch einen falschen Eindruck, denn sie lässt die dem Stimmvolk vorgelegte Anzahl Initiativen unbeachtet. Interessant ist doch vielmehr, ob heute verhältnismässig mehr Initiativen angenommen werden als früher. Ich hatte das einmal bis zum Jahr 2010 analysiert und hier bildlich festgehalten.
Damit wäre ich beim – nach meiner Auffassung – eigentlichen Problem angelangt: Wozu werden so viele Initiativen zu spezifischen (statt allgemeinen) Themen lanciert, obschon wir ein Parlament haben, das sich darum kümmern sollte? Warum werden solche Anliegen nicht dort entschieden, warum braucht es erst eine Volksinitiative?
Eine Volksinitiative sollte doch eher so eine Art “Notbremse” fürs Volk sein – ausser die Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit des Parlaments sei in Frage gestellt…