Eine Lanze für das Majorzsystem

Publiziert am 29. Mai 2008

In praktisch allen Kantonen und Städten der Schweiz wird die Exekutive mit dem Majorzsystem gewählt. Die Ausnahmen davon sind die Kantone Tessin und Zug sowie die Städte und Gemeinden des Kantons Bern. Das Proporzsystem erhöht die Wahlchancen für Kandidierende von kleinen Parteien.

Die Variante mit dem absoluten Mehr kommt dabei am häufigsten zur Anwendung. Konkret heisst das: jeder Kandidat muss im ersten Wahlgang 50 Prozent aller Stimmen plus eine Stimme erreichen, um gewählt zu werden. Das ist eine hohe Hürde. (In vereinzelten Wahlkreisen werden die ungültigen und leeren Stimmen seit einer Änderung des Gesetzes nicht mehr gezählt. Folglich sinkt das absolute Mehr und Kandidierende können auch gewählt werden, wenn sie unter 50 Prozent der Stimmen erreichen.)

Bei Majorzwahlen stehen die Persönlichkeiten im Vordergrund, die Parteifarben sind etwas weniger wichtig. Die Parteien erhöhen ihre Chancen, wenn sie mehrheitsfähige Kandidierende nominieren. Dass die SVP in den Regierungen der grössten Städten nicht mehr vertreten ist, ist kein Zufall. Sie foutiert sich um die Konsensfähigkeit ihrer Kandidierenden.

Im Kanton Bern werden die Exekutiven in rund 150 Gemeinden nach dem Proporzsystem gewählt – eine Besonderheit. Das hat Folgen: Viele grössere Parteien sind dazu übergegangen, mit kompletten Fünfer- oder Siebnerlisten anzutreten. Sie tun das selbst dann, wenn ihr Wähleranteil nur einen Sitz legitimiert. Zugespitzt: es herrscht ein Jekami, viele Kommunalpolitiker gehen lustlos auf die Gemeinderatsliste, sie wollen gar nicht gewählt werden. Entsprechend ist ihr “Wahlkampf” lendenlahm.

Insgesamt wird so die Qualität der Kandidierenden gedrückt und der Wahlkampf verwässert. Exekutivwahlen werden zu Parlamentswahlen en miniature.

Insgesamt haben 93 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer kein Parteibuch, die Mehrheit ist parteipolitisch ungebunden. Für sie sind Majorzwahlen attraktiver. Sie müssten sich nicht zähneknirschend für eine Liste entscheiden, sondern könnten ihr Wunschteam zusammenstellen. Wer trotz dem Proporzsystem Kandidierende aus dem bürgerlichen und dem linken Lager auf seine Liste setzt, könnte diese ebensogut zerreissen.

Das Majorzsystem kann das politische Klima entspannen. Ideologien rücken in den Hintergrund, stattdessen dominiert lösungsorientierte Sachpolitik. Das Berner Stadtparlament hat diesen Argumenten vor wenigen Tagen zu wenig Gewicht beigemessen und den Wechsel vom Proporz zum Majorz klar abgelehnt. In der Nachbargemeinde Köniz wird voraussichtlich im Herbst ein identischer Vorstoss zur Abstimmung kommen. Vielleicht ist man dort mutiger und wagt die Abkehr vom Status Quo.

Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Ich finde das Proporzsystem grossartig – aber nur bei Parlamentswahlen. In der grossen Kammer soll das Volk so gut wie möglich repräsentiert werden. Der “Doppelte Pukelsheim“, ein neues Wahlsystem, eliminiert die Verzerrungen, die es auch beim Proporz gibt, weitgehend. Er bildet den Willen der Wählerinnen und Wähler sehr genau ab.

Der “Doppelte Pukelsheim” hat sich allerdings erst in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Aargau durchgesetzt. Es dürfte noch 20 Jahren dauern, bis dieses neue Wahlsystem überall übernommen wurde. Der “Doppelte Pukelsheim” hat ein weiteres famoses Plus: Listenverbindungen sind nicht mehr zulässig. Damit steigen die Chancen, dass die Parteien an einem eigenständigeren Profil arbeiten und nicht mehr aus wahlarithmetischen Gründen mit irgendwelchen Partnern ins Lotterbett steigen können.

Die Einführung des Proporzwahlsystems auf eidgenössischen Ebene geht übrigens auf eine der zentralen Forderungen des Generalstreiks von 1918 zurück.

3 Replies to “Eine Lanze für das Majorzsystem”

  1. Auch in Köniz hat die Umstellung vom Proporz- auf das Majorzsystem einen schweren Stand. Fast alle Parteien sprechen sich dagegen aus:

    © Der Bund; 14.06.2008

    Köniz prüft Wahlsystem: Gemeinderat will nichts ändern, die CVP will Majorz

    Regierung hält an Proporz fest

    Wie wird in Köniz 2009 die Regierung gewählt? Gemeinderat und Spezialkommission wollen beim bisherigen Proporzsystem bleiben. Kritik kommt von der CVP.

    Anne-Careen Stoltze

    Weil der Gemeinderat in Köniz ab 2010 nur noch aus fünf statt sieben Mitgliedern besteht, wird derzeit auch das Wahlsystem überprüft. Beauftragt ist damit eine Spezialkommission. Sie kommt zu dem Schluss: «Proporzwahlen haben sich bewährt und führen zu einer grösseren Auswahl an Parteien und Personen sowie tendenziell zu stabileren politischen Verhältnissen.» Der Gemeindepräsident soll aber wie gehabt im Majorzverfahren separat vom Volk gewählt werden. «Beides haben wir nun dem Gemeinderat vorgeschlagen», sagt Kommissionspräsidentin Anna Mäder (sp) auf Anfrage. Man beantrage dem Parlament, beim bisherigen Wahlsystem zu bleiben. Dort wird das Thema im September behandelt, und am 30. November stimmt das Volk darüber ab.

    «Enttäuscht» und «verärgert»

    «Mit Enttäuschung» hat die CVP von der Empfehlung Kenntnis genommen. Die Partei hatte sich zuvor bereits für das Majorzverfahren ausgesprochen. «Es verpflichtet die Parteien, die kompetentesten Personen vorzuschlagen», sagt Parlamentarier Valentin Lagger. Dagegen könne im Proporz weitgehend der Parteivorstand darüber entscheiden. «Deswegen hätten sowohl kleine wie auch grosse Parteien ähnliche Chancen auf einen Gemeinderatssitz», erklärt Lagger und kündigt an: «Die CVP hält an ihrer Forderung nach Majorzwahlen fest.»

    Verärgert sei er über die Informationsweise, sagte Lagger und kritisiert, dass Kommission und Gemeinderat die Pressemitteilung verschickt hätten, obwohl das Geschäft noch in Arbeit sei. Damit werde der Eindruck erweckt, der Entscheid sei bereits gefallen. Künftig solle auf «solch irreführende Kommunikation» verzichtet werden. Gemeindepräsident Luc Mentha (sp) und Anna Mäder weisen die Kritik zurück. «Es ist das übliche Vorgehen, dass wir über den Stand der Arbeit und über Zwischenentscheide informieren», sagt Mäder. Zudem sei noch überhaupt nichts entschieden, weil «das Majorzverfahren trotzdem noch per Antrag in die Debatte eingebracht werden kann», betont Mäder.

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