Nach dem Ecopop-Nein: Der Angstschweiss ist weg, unser Land bleibt eine Angstschweiz

Publiziert am 30. November 2014

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Wir konnten uns schon am frühen Nachmittag den Angstschweiss von der Stirne wischen: die Ecopop-Initiative ist gebodigt, und das mit 74.1 Prozent Nein sogar wuchtig. Doch bleiben wir auch im Moment der Genugtuung und Erleichterung ehrlich: Noch in der Nacht auf heute hätte niemand gewagt, von einem derart deutlichen Abstimmungsergebnis auch nur zu träumen. Der Kampf gegen die Vorlage, die Zuwanderung, Wachstumskritik, ökologische Aspekte und Familienplanung in Afrika zu einem Cocktail vermischte, blieb bis ganz zum Schluss eine Zitterpartie.

Doch was hat schliesslich zu diesem Resultat geführt? An der Wirksamkeit der sichtbaren Kampagnen zweifelte ich hier schon vor zwei Wochen. Erst die Univox-Analyse wird in ein paar Wochen Aufschluss darüber geben, welche Aspekte von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern stark gewichtet worden waren. Ein paar Erklärungsansätze formuliere ich dennoch:

Es ist gut möglich, dass FDP-, Mitte- und Links-Wähler weit überdurchschnittlich partizipierten und diszipliniert Nein stimmten, währenddem bei der SVP-Basis, die Ecopop mehrheitlich befürwortet, eine Demobilisierung stattfand.

Auffallend war das Engagement aus der Mitte der Zivilgesellschaft: Nach dem Schock von 9. Februar 2014 hatten sich mehrere neue Gruppierungen formiert, die unermüdlich und mit starken Argumenten für ein Nein kämpften – von den Jungakademikern der Operation Libero bis zu den Silberfüchsen des Appells “Die Schweiz in Europa”. Einzelne Wirtschaftsführer schlugen selbstkritische Töne an und holten sich so womöglich einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit wieder zurück. So sagte Rolf Soiron im “Magazin”: “Das Dreieck zwischen Bevölkerung, Wirtschaft und Politik, das unser Land lange solide zusammenhielt, hat Risse.” Und Banker Jean-Pierre Roth doppelte nach: “Die Politik hat die Nebeneffekte der Personenfreizügigkeit nicht ernst genommen.”

Dass Herr und Frau Schweizer ab und an das Gewehr zur Hand nehmen und in die Luft schiessen, wurde in den letzten Jahren zum Courant normal. Das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative vom 9. Februar war ein solcher Warnschuss. Heute liess eine Mehrheit des Souveräns das Schiesseisen im Schrank und entschied pragmatisch-nüchtern.

Daraus zu schliessen, listig formulierte und populistische Volksinitiativen hätten in Zukunft keine Chance mehr, wäre hingegen blauäugig. Es braucht den unverminderten Einsatz der Zivilgesellschaft, um problematische Vorlagen breit zu diskutieren und schliesslich abzulehnen. Gut wäre es ferner, wenn das Parlament wieder Haltung und Mut hätte: Es darf nicht sein, dass die Einheit der Materie verletzt wird, wie das bei Ecopop und anderen Volksinitiativen der Fall war. In früheren Phasen des Modernen Bundesstaats hat das Parlament schon vier Volksinitiativen für ungültig erklärt.

Wirtschaftselite und Politik tun gut daran, wieder solide Brücken zur Bevölkerung zu bauen. Es braucht nämlich grosses Vertrauen, um die Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern. Denn viele Leute in unserem Land haben weiterhin Angst, Angst vor der Zukunft, dem sozialen Abstieg, der Arbeitslosigkeit, der Veränderung und dem Fremden.

Der Angstschweiss von heute ist weg, unser Land bleibt eine Angstschweiz.

Mark Balsiger

Foto: NZZ

 

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