Wahlbistro ermöglicht Debatten rund um die Uhr

Publiziert am 05. August 2008

Oft und laut wird in unserem Land die tiefe Beteiligung bei Wahlen und Abstimmungen beklagt. Früher seien die Schweizerinnen und Schweizer politisch aktiver und interessierter gewesen. Das mag stimmen. Aber früher gab es eine Parteipresse, Mitglieder von Milieus, die gemeinsam für etwas kämpfen mussten.

Was nützt das rückwärts gewandete Lamento? Wenn viele Menschen den Zugang zur Politik nicht finden oder sich um sie foutieren, müssen andere Ansätze her. Gefordert sind die Politikerinnen und Politiker auf allen Stufen. Gefordert sind insbesondere auch die Medien. Ihre Übersetzungsarbeit ist sehr wichtig: Sie müssen informieren, erklären, gewichten, einordnen. Tag für Tag. Inzwischen sogar Stunde für Stunde.

Das Internet hat das Potential, die Leute wieder vermehrt für Politik zu sensibilisieren. Smartvote, vor fünf Jahren lanciert, ist ein gelungenes Beispiel dafür. Diese Online-Wahlhilfe berechnete im eidgenössischen Wahljahr 2007 mehr als eine Million Wahlempfehlungen, 85 Prozent aller Kandidierenden schalteten ihr Profil bei Smartvote auf. Das sind Rekordwerte!

Die Vermittlung von Politik ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Ich bewege mich dabei an den Schnittstellen von Politik, Medien und Öffentlichkeit. Entsprechend taufte ich vor sechs Jahren meine Firma Border Crossing. Das Credo: Grenzüberschreitend wirken, zusammenführen, Gräben zuschütten, übersetzen, beleuchten – und nicht zuletzt mithelfen, damit das gegenseitige Verständnis wächst.

Basierend auf dieser Tätigkeit ist die Lancierung des virtuellen Diskussionsforums “wahlbistro.ch” logisch. Früher diskutierten politisch Interessierte im “Bären” oder “Rebstock”. Diese Kultur ist praktisch ausgestorben. Das Wahlbistro ist die logische Antwort unserer Zeit.

So präsentiert sich das Wahlbistro optisch, ein erster “Screenshot”:

wahlbistro_screen_main_fuer_blog.jpg

Smartvote ist primär ein Service für Wählerinnen und Wähler. Das Wahlbistro hingegen richtet sich auch an Politiker und Kandidatinnen, die sich profilieren möchten. Sie können ihre Eckdaten sowie eine Foto von sich hochladen und mit guten Kurz-Beiträgen an den Debatten teilnehmen. So werden sie bekannter. Die Teilnahme ist für alle gratis. Entscheidend: Das Wahlbistro ist parteipolitisch unabhängig.

Und sieht etwa so aus – der zweite “Screenshot”:

wahlbistro_screen_kommentare_fuer_blog.jpg

Selbstverständlich kann das Publikum sich einschalten – im Wahlbistro ist für alle Platz. Vorausgesetzt man hält sich an die Hausregeln. Dank der Kooperation mit Smartvote können die Gäste im Wahlbistro auch die Smartspider (Spinnennetzprofile) der Kandidierenden aufrufen. Auf den Smartvote-Profilen wiederum sieht man, welche Kandidierenden sich im Wahlbistro zu welchen Themen äusserten. Das ist ein ausgebauter Service – und eine Innovation.

Meines Wissens gibt es in der Schweiz keine derartige Möglichkeit des permanenten Austausches unter politisch Interessierten. Beim Polit-Blog “NZZvotum” durften im letzten Jahr zehn gestandene nationale Parlamentarier regelmässig publizieren – auf Einladung der Redaktion. Die User beteiligten sich mit ihren Kommentaren. Das Wahlbistro geht weiter und setzt auf Gleichberechtigung.

Vorerst – als Pilot – ist das Wahlbistro im Kanton Bern geöffnet, weil hier im Herbst in vielen Gemeinden Wahlen stattfinden werden. Die Debatten beginnen frühestens am 1. September. Wichtig ist nun, dass sich viele Interessierte anmelden.

Das Wahlbistro schwirrte mir als Idee seit Langem im Kopf herum. In den letzten Wochen wurde das Projekt konkret, heute purzelte es in die Welt – unbemerkt. Beim “Düredänke”, Entwickeln und Umsetzen haben mitgeholfen: Monika Tschumi, Natascha Mathis, Andi Jacomet, Lukas Golder, Stefan Vogt, Marco Zanoni, ein Dutzend Statistinnen und Statisten beim “Fotoshooting”, sowie die Smartvote-Cracks Lea Hänsenberger (IT), Jan Fivaz, Marco Ineichen, Julien Fiechter und Lukas Pestalozzi.

Euch allen gebührt mein aufrichtiger Dank!

Mark Balsiger

Medienmitteilung Start Wahlbistro (PDF)

11 Replies to “Wahlbistro ermöglicht Debatten rund um die Uhr”

  1. Gute Sache. Aber warum kommt mir jetzt spontan das Lied “Si hei dr Wilhälm Täll ufgfüert” in den Sinn :-). Da werden sicher bald die ersten virtuellen Flaschen fliegen.

  2. Super Idee (auch wenn einzelne Bestandteile nicht ganz neu sind [Brasserie]).

    Schade, dass Sie nicht mit den kantonalen Wahlen in Basel-Stadt anfangen, das bisschen Schweiz jenseits der Juras wäre es wert gewesen. In unserem Kanton wird es in den nächsten 3 Monaten eine richtige Orgie von Wahlen (Grossrat, Regierungsrat [evtl. 2x], Kantonspräsidium, [evtl. 2x], Richterwahlen) und Abstimmungen (Wohnschutz, Nichtraucher, Sozialhilfe) geben.

    Selbstverständlich ist mein Wunsch nach einem Basler-Bistro völlig selbstlos 😉

  3. An das Border-Crossing-Team:

    Ich möchte Ihnen allen ganz herzlich gratulieren zu der Geburt des Wahlbistros. Dieses kommunikative Polit-Instrument ist nicht nur vielversprechend und dessen Ausarbeitung ausgesprochen professionell – es bietet tatsächlich eine valable Plattform für seriöse, hitzige Debatten. Bravo, Mark Balsiger!

    Catherine Herriger
    personcom.,Kom’beratung BR/SPRG

  4. Ganz so einmalig scheint die Idee nicht, ignoranz.ch beispielsweise bietet ja durchaus eine Plattform, «zum permanenten Austausch unter politisch Interessierten». Auch dort sind alle Teilnehmenden gleichberechtigte Diskussionspartner, anders als beim Bistro können zudem alle eigene Themen lancieren.

    Neue Wege beschreitet das Bistro allerdings mit der Überprüfung der persönlichen Angaben der sich neu anmeldenden. Das setzt die Hürde teilzunehmen, natürlich hoch. Aber den Diskussionen mag dies durchaus zuträglich sein. Ich verstehe zwar, wenn Leuten unwohl ist bei der Vorstellung, der Nachbar oder die Arbeitgeberin könne alles mitlesen, aber Online-Anonymität bringt bei Debatten natürlich auch erhebliche Nachteile mit sich. Diesbezüglich bin ich gespannt, ob das Bistro tatsächlich eher seinem Pendant in der realen Welt entsprechen wird als anderen Online-Foren.

    Wünsche auf jeden Fall einen guten Start!

  5. ‘@ Andreas Kyriacou

    Ich halte ignoranz.ch für eine wichtige Plattform. Allerdings ist sie politisch positioniert: Ein grüner Parlamentarier aus der Stadt Zürich betreibt sie. Die meisten User gehören zum linken Spektrum, die ab und an gestört werden von Vertretern aus der Ecke der Rechtsaussen. Man ist also meistens en famille – mit verbalen Attacken von Andersdenkenden.

    Versteckt hinter Pseudonymen wird dort diskutiert und nicht selten einfach nur ausgeteilt. Der Meinungsvielfalt und einem echten Diskurs ist das nicht förderlich. Vor allem schreckt es Menschen, die mit der Bashing-Kultur in Online-Foren nicht anfangen können, ab.

    Das Wahlbistro hingegen ist – das haben Sie vermutlich überlesen – parteipolitisch unabhängig (ich markierte diese Passage im Posting nun ebenfalls fett). Es ist unser Ziel, dass im Wahlbistro gute Debatten mit Leuten aus allen politischen Lagern möglich wird.

    Die Kooperation mit Smartvote ist ein weiteres Novum. So können die Smartspider-Profile der Kandidierenden direkt im Wahlbistro angeschaut werden. Diese Kombination hilft den Wählenden, weil sie so nahe an die Politisierenden herankommen und deren Positionen erkennen.

  6. ‘@Mark Balsiger
    Dass ignoranz.ch aus einer bestimmten Politecke kommt, ist mir natürlich schon klar. (Kantonsrat ist Sandro Feuillet übrigens erst seit neustem, sein Portal gibt’s hingegen schon seit vier Jahren). Bashing ist tatsächlich keine Seltenheit in den dortigen Diskussionen (aber davor sind ja auch Blogs nicht gefeit…), aber längst nicht alles ist Hickhack auf ignoranz.ch.

    Dass das Bistro einen anderen Ansatz wählt, habe ich natürlich nicht überlesen. Bin gespannt auf den Berner Testlauf.

  7. Ich spiele nun mal ein wenig den Advocatus Diaboli und erlaube mir ein paar kritische Anmerkungen zu setzen: Das man virtuelle Diskussionen führt, ist nun tatsächlich nichts Neues mehr, dass die Teilnehmenden nicht Anonym sind auch nicht (im leider etwas in die Vergessenheit geratenen Usenet gehört es zum guten Ton, dass sich die *regulars* mit Klarnamen zu erkennen geben). Lustigerweise gibt es auch im Usenet *Trolls* welche Diskussionen zu torpedieren versuchen, aber diese werden oft von den engagierten Regulars wieder in die Schranken gewiesen. Der Qualität und Relevanz der Diskussion tut dies aber keinen Abbruch.

    Ich befürchte genau an dem wird das Wahlbistro scheittern. Die Anmeldeprozedur ist etwas gar mühsam (nach 2 Arbeitstagen wird man persönlich kontaktiert (ich möchte keinen Telefonanruf bekommen!) und erst danach wird man als diskussionswürdig eingestuft, dabei wollte man doch nur gleich Bistro-mässig eintreten und mitplaudern anstatt post-nine-eleven gescannt zu werden.)

    Was mich aber schwer an der Funktion des Bistros zweifeln lässt, ist dass man offenbar nur Kommentare auf Kommentare setzen kann. Das ist doch keine Debatte! Jeder Blog kann und macht dies auch, aber deswegen ist das noch lange keine Rössli-Stumpen-Diskussion. Ich hätte gerne dem Teilnehmer X eine Antwort gegeben, und dies auch via Diskussions-Thread gesehen.

    Noch was zur schicken Web-2.0-trendigen Beta-Phase: die Idee all der Flickr-Doodle-MySpace-Betas ist nicht, dass nur Beta-Inhalte da sind, sondern dass reale Inhalte mit Beta-Funktionen verknüpft werden. Auch hier hat das Wahlbistro eine (unnötige) Hürde zu nehmen: ich kenne weder den Basil Bally noch die Barbara Bata und hätte auf dem Wahlbistro lieber gleich Reales (ist eh schon alles so virtuell hier) gesehen. Oder versucht ihr das Bistro mit Scheindebatten zum Leben zu erwecken? Warum hat sich kein realer Politiker zur Beta-Phase gemeldet?

    Jä nu.. das waren nur meine 2 Räppler, wie der Berner zu sagen pflegt.

  8. ‘@ “Advocatus Diaboli”

    Vielleicht sind die Informationen, die wir unter “Hintergrund” getextet haben, etwas zu lange geraten. Ich nehme darum ein paar Punkte nochmals auf:

    1. Das Wahlbistro ist im Gegensatz zu den meisten Polit-Blogs parteipolitisch unabhängig.

    2. Die anonyme Teilnahme ist bei uns nicht möglich. Aus gutem Grund: Die Erfahrung anderer Foren zeigt, dass die Diskussionskultur meistens stark leidet, wenn gewisse Leute ohne eingebaute Hürden “mitdiskutieren” können. Wir orientieren uns zudem an den Zeitungsredaktionen. Diese veröffentlichen keine Leserbriefe, die sie anonym erreichen. Wer in Bezug auf den Datenschutz Probleme ortet, kann aus freien Stücken den Debatten fernbleiben. (Die Daten, die wir erfragen, sind auf vielen Kanälen problemlos einzuholen.)

    3. Im Wahlbistro können alle Teilnehmenden ein Foto von sich hochladen. Das soll insbesondere Kandidierende animieren, mitzumachen und sich einzubringen. Es handelt sich dabei um eine kostenlose Möglichkeit, sich bekannter zu machen. Die Kooperation mit Smartvote ist zugleich Service und Innovation.

    4. Das Anmelden ist etwas aufwändiger als bei normalen Blogs, das stimmt. Es geht uns dabei um die Sicherheit. Es soll nicht vorkommen, dass sich irgendjemand im Namen einer anderen Person registriert und mitdebattiert.

    5. Wer nur die Debatten mitverfolgen will, kann das jederzeit tun. Wie in einer realen Diskussionsrunde braucht es für ein gutes Votum in der Regel etwas Vorbereitungszeit. Auch so lassen sich unsere Hürden bei der Registrierung erklären.

    6. Wie im Wahlbistro erwähnt, starten die Debatten frühestens am 1. September. Die “Muster-Debatte” haben wir mit der Absicht getextet, ein Beispiel zu zeigen. Deswegen die virtuellen Basil Ballys und Barbara Battas.

    7. Es ist selbstverständlich möglich, dass man auf x-welche frühere Kommentare eingehen kann. Allerdings sind die Debatten geführt und die Kommentare erschinen der Reihenfolge nach. Auch hier, wie so oft, lohnt sich der Bezug zu den guten und gut moderierten Debatten im realen Leben: Es spricht immer nur eine Person. Kakophonie und substanzloses Gemotze bringen die Schweizer Politik nicht weiter.

    Abschliessend: Ich bin praktisch immun gegen Defaitismus in seinem ursprünglichen Sinn. Er begegnet mir gelegentlich auf meinem Weg, dumpf und grau.

  9. ‘@mark balsiger:
    Mir ist schon klar, dass das Bistro politisch unabhängig ist (das habe ich nie in Abrede gestellt), aber die Hilfstexte sind wirklich etwas zu lang geraten (hat auch eine kleine Umfrage in meinem Freundeskreis ergeben).

    Meine Grundkritik bleibt bestehen: in der Schweiz tendieren wir immer zu eher ängstlichen Lösungen. Wir trauen uns und den Anderen nicht zu, dass wir zu respektvollen Diskussionen fähig sind.
    Meine Erfahrung mit Blogs haben auch gezeigt, dass die Trolle in der Minderzahl sind und sich der Verwaltungsaufwand diese in Schach zu halten im Rahmen hält. Ebenso ist das Posten unter einem fremden Realnamen ist u.U. auch in der Schweiz ein strafbarer Tatbestand.

    Wenn die konkrete Angst besteht, dass das Forum missbraucht wird, so rate ich jeweils zu einem umgekehrten Vorgehen: technisch sicherstellen, dass man diverse Login-Hürden einschalten kann. Diese dann aber zuerst alle ausschalten und abwarten wie sich das Forum entwickelt. Erst bei durchschlagendem Erfolg stellen sich nämlich die Trolls ein und dann könnte man auch entsprechend reagieren.

    Ich empfinde es dann auch als Widerspruch, dass die Betreiber des Wahlbistros darauf pochen, dass keine anonymen Menschen mitdiskutieren und dann finde ich genau in der Testphase nur Fakes die Diskutieren.
    Das ist doch der Glaubwürdigkeit es bitz abträglich? Wäre es denn sehr schwer reale Politiker dazu zu bewegen in einer ersten Debatte (bitte nicht Muster-Debatten!) mitzumachen? Eventuell würde damit auch die Hürde gesenkt selber mitzutun…

    Zum fehlenden Thread einer Diskussion: warum wird die Debatte auf eine linearität reduziert? So sind kaum Debatten, ausser man führt ein geführtes Interview. In guten Diskussionen wird auf frühere Statements eingegangen und weitergesponnen. Das Internet bietet ja eben genau keine passiven-einbahn-diskussionen (obwohl dies in den Hilfetexten so ausdrücklich formuliert wird), sondern gibt einem die Möglichkeit eine Diskussion losgelöst von gängigen Diskussionsverständnissen zu führen. Man gucke sich nur einmal mit einem Newsreader in einem belebten Usenet-Forum um. So etwas wünschte ich mir einmal nicht nur auf Niveau Newsreader sondern direkt auf einer Website (und genau _das_ habe ich persönlich noch nirgendwo gesehen).

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