Ob rot-grün oder bürgerlich ist einerlei
Publiziert am 03. April 2016Im Kanton Bern ist die rot-grüne Regierungsmehrheit also Geschichte. Die Bürgerlichen schafften im vierten Anlauf die Wende, Pierre Alain Schnegg (SVP) distanzierte heute Roberto Bernasconi (SP) um 4000 Stimmen. Dass der SP-Kandidat 49,1 Prozent aller Stimmen holte, ist die Überraschung des Tages. Er selber ist enttäuscht über sein Abschneiden im Berner Jura – seiner Heimat, wo er nur 42,9 Prozent erreichte.
Die Bürgerlichen jubeln – zu Recht. Es geht um Prestige und Psychologie.
Die Linken fürchten Sozialabbau – zu Recht. Sie warnen vor der „ausgepressten Zitrone“.
Parteipolitisch Unabhängige (wie ich) zucken mit den Schultern – zu Recht. Bei Lichte betrachtet ist der Handlungsspielraum der Berner Regierung sehr bescheiden, die parteipolitische Zusammensetzung hat wenig Bedeutung. Who cares! Man müsste stattdessen endlich die echten Herausforderungen erkennen, oder, um eine andere Floskel zu bemühen, die Weichen stellen.
Zehn Jahre lang war Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud (SP) ein dankbarer Sündenbock. Als ausgebildeter Arzt hat er zwar einen guten Rucksack, mit der Feinmechanik der Politik kam er aber nie richtig klar, zudem wirkte er isoliert und kommunikativ überfordert. Die Kritik an seiner Amtsführung war oft berechtigt, meistens parteipolitisch motiviert, zuweilen aber nur dumpfbackig.
Die bequemen Zeiten der Schlagworte und Attacken sind vorbei, jetzt muss ein neuer Gesundheitsdirektor zeigen, dass er ein Bessermacher ist. Er kann nur Schnegg heissen, alles andere wäre nach diesem Wahlkampf ein Affront. Ich habe ihn gewählt – im ersten und im zweiten Wahlgang. (So viel Transparenz muss in diesem Posting sein.) Im ersten Wahlgang vom 28. Februar wählte ich zudem Christoph Ammann (SP). Diese beiden Kandidaten machten mir den besten Eindruck.
„Ob rot-grün oder bürgerlich ist einerlei“, analysierte ich am 30. März 2014, am Tag der letzten Gesamterneuerungswahlen. Denselben Text hätte ich auch schon vor zehn Jahren publizieren können. Die Essenz davon kopiere ich nach den Löwen in dieses Posting hinein, die beiden Namen im letzten Abschnitt sind austauschbar:
“Auch in den nächsten Jahren stehen opfersymmetrisch geschnürte Sparpakete im Zentrum. Die tiefgreifenden strukturellen Probleme des Kantons schiebt man hingegen weiter vor sich her. Die Regierungsrätinnen und Regierungsräte sind zu stark vom Alltagsgeschäft absorbiert, die meisten Grossräte agieren vor allem als Interessenvertreter ihrer Region. Politik, die gestaltet und das „Big Picture“ im Fokus hat, sieht anders aus.
Offensichtlich kann der Kanton Bern seine Vergangenheit nicht abschütteln: Schon in den 1920er-Jahren begann sich die Unsitte der Subventionsjägerei durchzusetzen. Von 1929 bis 1979 stellte die SVP und ihre Vorläuferpartei, die BGB, immer einen Bundesrat – von Rudolf Minger bis Rudolf Gnägi. Das erleichterte den Zugang zur Bundesverwaltung und den Honigtöpfen. Wer wollte schon gegen den Bauernstand sein, als ringsum Krisen und Kriege ausbrachen? Dieses Handeln wurde quasi zur DNA des Kantons, er verschlief die weiteren Wellen der Industrialisierung, für den nationalen Flughafen in Utzenstorf (anstelle von Zürich-Kloten) mochte die allmächtige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) nicht kämpfen, Bern blieb ein Agrarkanton. Selbstgerechtigkeit und das Verwalten von Pfründen haben ihn träge gemacht.
Fazit: Es ist gehupft wie gesprungen, ob Perrenoud oder Bühler in der Kantonsregierung sitzt. Viel wichtiger wäre es, dass sich ein paar starke Figuren aus Politik und Verwaltung auf einen Weg mit Zukunft einschwören könnten. Bis der Aufbruch im Kanton Bern beginnt, kann es dauern, noch haben viele Akteure den Ernst der Lage nicht erkannt. Womöglich wird sogar YB vorher noch Schweizer Fussballmeister.”
Mark Balsiger
Kommentare etablierter Medien: Nachtrag vom 4. April 2016:
– Die Zeit der Schlagworte ist vorbei (Der Bund, Marcello Odermatt)
– Die bürgerliche Wende ist eine Chance (Berner Zeitung, Peter Jost)
– Bürgerliche Wende (NZZ, Valerie Zaslawski)