Schreiben, was ist, auch wenn “es” in der offiziellen Diktion gar nicht existiert
Publiziert am 16. Mai 2010Bei den Referaten hört Andrew Loh von der ersten bis zur letzten Minute mit aufmerksamem Gesicht zu und macht sich Notizen. Wenn wir diskutieren, bringt sich der Singapurer ein und stellt durchdachte Fragen.
Andrew ist ein Blogivist, so wird die Kombination von Blogger und Aktivist gemeinhin bezeichnet. Ein bislang moderater Blogivist, muss ich anfügen, damit keine falschen Schlüsse gezogen werden. Bei den Wahlen 2006 unterstützte Andrew eine kleine Oppositionspartei – angesichts der politischen Konstellation und der Machtballung ein aussichtsloses Unterfangen.
Seit die Republik Singapur Anfang der 1960er-Jahre die Unabhängigkeit der britischen Krone erlangte, wird sie allein von der People’s Action Party regiert. Andrew (Foto) spricht mit ruhiger Stimme: “Wenige Tage vor den Wahlen landete die Regierungspartei einen Coup. Sie zahlte jedem Bürger eine nahmhafte Summe aus.” (Umgerechnet mehrere hundert Franken, Red.). Sie errang schliesslich 82 von 84 Sitzen im Parlament, bei einem Wähleranteil von etwa 65 Prozent. (Die Verzerrungen, die das Majorzwahlsystem auch in Grossbritannien seit jeher produziert, lassen grüssen.)
Im “The Online Citizen” schreiben Bürger für Bürger
Das Gefühl der Machtlosigkeit löste Andrews Entscheidung aus: Er verliess das Gastrounternehmen, das er mit seinem Bruder geführt hatte, und lancierte Ende 2006 ein eigenes Blog. Es heisst: “The Online Citizen”. Inzwischen arbeiten rund 200 freie Mitarbeiter für dieses Medium, der jüngste Kollege ist gerade einmal 17, der älteste 60 Jahre alt. Das Blog versucht sich seit neuem mit Banner-Werbung zu finanzieren, früher mit Google-Ads. Wie das Budget aussieht, getraute ich mich nicht zu fragen.
Andrew hat sich das journalistische Handwerk “learning by doing” angeeignet, wie er bescheiden erklärt. Dasselbe gilt für praktisch alle seiner Kollegen, “wir betreiben Bürgerjournalismus”, Bürger schreiben für Bürger, und genau so will er es auch verstanden wisssen. Täglich zählt das Blog laut seinem Betreiber rund 20’000 Besuche.
Singapur hat international ein weitgehend properes Image. Der Stadtstaat ist ein Shoppingparadies, sauber und sicher, die Skyline (Foto) imposant, die Arbeitslosigkeit tief, es gibt keine sozialen Unruhen oder Umsturzversuche. Der schnelle Aufstieg zu einer Industrienation, einem sogenannten Tigerstaat, ist eine Erfolgsgeschichte. Das ist eine Seite der Medaille. Die andere: Das rund 4,5 Millionen Einwohner zählende Land ist nicht das, was wir unter einer Demokratie verstehen. Die Einparteienregierung führt autoritär.
Beleuchten wir exemplarisch die Medienfreiheit etwas näher: Die Medien, die in den vier offiziellen Sprachen Englisch, Chinesisch, Malaiisch und Tamilisch berichten, gehören allesamt zu Unternehmen, die direkt durch den Staat kontrolliert werden. Laut Andrew ist es Usus, dass viele Schlüsselstellen bei den staatlichen Medien nicht durch Journalisten, sondern beispielsweise mit Nachrichtendienstlern besetzt werden.
Gemäss der letzten Erhebung von “Reporter ohne Grenzen” belegt Singapur zur Situation der Medienfreiheit weltweit den 133. Rang – ein weiterer Hinweis auf die stark eingeschränkten Möglichkeiten der Journalisten. Bislang blieb die Crew von “The Online Citizen” von massiven Interventionen verschont. Der Server des Blogs steht in den USA.
Die Regierung wacht streng darüber, dass die Medien nur das schreiben oder senden, was sie als relevant erachtet. Den wenigen ausländischen Journalisten macht sie das Arbeiten systematisch schwer. Andrew erzählt, dass diese aufgrund von kritischen Berichten schon mehrfach vor Gericht gebracht wurden. Dort verloren sie praktisch immer und mussten hohe Geldstrafen bezahlen. Die britische BBC knickte schliesslich ein und zog ihr Team aus Singapur ab, berichtet Andrew. Auf diese Weise kriegt das sauber polierte Image Singapurs kaum Kratzer.
Kratzer gibt es aber sehr wohl, und diese nimmt das Blog “The Online Citizen” zuweilen auf. “In einer Serie berichteten wir einmal über Obdachlosigkeit. Ein Problem, das in der offiziellen Diktion der Regierung gar nicht existiert”, führt Andrew aus. Aber es gäbe die Obdachlosigkeit eben doch, “also machten wir sie zum Thema”. Schreiben, was ist.
Fotos:
– Andrew Loh: Mark Balsiger
– Singapur Skyline: Wikipedia
[…] This post was mentioned on Twitter by Mark Balsiger. Mark Balsiger said: Schreiben, was ist. Vom Versuch, im autoritär gelenkten Singapur unabhängigen Bürgerjournalismus zu betreiben. http://bit.ly/bFBSv4 […]