SVP Bern: Parteispaltung ist unvermeidbar – und Bundesrat Samuel Schmid geht auch
Publiziert am 02. Juni 2008Kurzfristig haben die Berner SVP-Dissidenten am frühen Nachmittag zu einer Medienkonferenz gerufen. Die Lokalität hat in mehrfacher Hinsicht symbolische Aussagekraft: Sie liegt im Kellergeschoss eines Berner Hotels, die Wände sind in einem blassen Grün gehalten, und sie heisst “Gnägi”-Saal – in Erinnerung an den legendären Berner SVP-Bundesrat Rudolf Gnägi. Er würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was mit seiner Partei geschieht.
Die SVP-Dissidenten schlugen der offiziellen SVP auch gleich ein Schnippchen – allerdings ohne es zu wissen: Ihr Auftritt fand zeitgleich mit der Medienkonferenz zu den Legislaturzielen der SVP Schweiz statt. Der “Gnägi”-Saal war rappelvoll, während im Medienzentrum Bundeshaus nur wenige Journalisten lauschten, was Toni Brunner und Co zu erzählen hatten.
Insgesamt 36 Mitglieder der Berner SVP sind zum Schluss gekommen: so nicht! Nachdem die SVP des Kantons Graubünden gestern aus der Mutterpartei ausgeschlossen wurde, haben sie nun gehandelt. Mit einer Resolution fordern sie, dass die Kantonalsektion Bern aus der SVP Schweiz austreten soll.
Die Resolution im Wortlaut folgt hier:
Für den Austritt aus der SVP Schweiz braucht es eine Zweidrittelsmehrheit der Delegierten. Das ist eine enorm hohe Hürde, die mit der heutigen Struktur der Partei nicht genommen werden kann. Ich halte die Bezeichnung “liberal”, die für die Berner SVP-Sektion gerne verwendet wird, schon seit geraumer Zeit nur noch für eine Etikette. Die Mehrheit der Berner SVP tickt genauso wie die grosse Mehrheit der Volkspartei. Der Austrittsantrag wird folglich scheitern.
Das nehmen die Dissidenten offensichtlich in Kauf. Bei einem Nein wollen sie eine eigene Partei gründen – auf nationaler Ebene wie im Kanton Bern.
Damit könnte sich theoretisch die Geschichte wiederholen: Nach dem Ersten Weltkrieg lösten sich die Berner Bauern von der FDP und gründeten die Berner Bauern- und Bürgerpartei. Sie wurde bei den Nationalratswahlen 1919 auf Anhieb stärkste Kraft im Kanton, zehn Jahre später stellte sie bereits einen Bundesrat in der Person ihres Gründervaters Rudolf Minger.
Könnte und theoretisch…
Der Coup von damals lässt sich kaum wiederholen. Gewiss, unter den 36 SVP-Mitgliedern, die die Resolution unterzeichnet haben, sind einige prominente Namen zu finden. Bundesrat Samuel Schmid (Bild) zum Beispiel, Ständerat Werner Luginbühl, Regierungsrat Urs Gasche sowie die Nationalratsmitglieder Ursula Haller und Hans Grunder, zudem einige kantonale Grössen.
Die Parteispaltung, die folgen wird, ist unvermeidbar. Bis Ende August soll sie vollzogen sein, so die Dissidentengruppe. Sie möchte in der Herbstsession des Nationalrates mit Fraktionsstärke auftreten können. Dafür braucht sie mindestens fünf Mitglieder – derzeit sind vier im Boot: die beiden Berner Ursula Haller und Hans Grunder sowie die beiden Bündner Brigitta Gadient und Hansjürg Hassler. Wer der rettende fünfte Kompagnon sein könnte, steht in den Sternen (Ist es der Berner Oberländer Andreas Aebi? Oder der Waadtländer Pierre-François Veillon? – Nachtrag vom 03.06.2008, 17.20: NR Andreas Aebi ist nicht Berner Oberländer, sondern aus dem Oberaargau, pardon). Das ist ein weiteres Problem. Zudem: Ohne Fraktion gibt es keine Fraktionsgelder, und das wäre bereits Problem Nummer drei.
Eine Einordnung:
1. Die Berner SVP-Sektion wird nicht aus der Mutterpartei austreten.
2. Parteispaltungen wird es in den Kantonen Graubünden und Bern geben.
3. Ob es zu weiteren grösseren Absatzbewegungen kommt, ist offen. Möglich wären neue kantonale Sektionen in Thurgau und Glarus.
4. Das Ziel Fraktionsstärke auf nationaler Ebene bleibt ein Wunschtraum.
5. Von den bekannten Dissidenten stehen die allermeisten im Spätherbst ihrer politischen Karriere: Bundesrat Schmid ist bis Ende 2011 gewählt, länger hätte er ohnehin nicht gemacht. Die Nationalratsmitglieder Haller, Gadient und Hassler wären Ende 2011 alle schon mindestens 12 Jahre mit dabei. Einzig Grunder ist ein Neuling auf eidgenössischer Ebene, er hat also etwas zu verlieren. Einer, der bedeutend mehr zu verlieren hat, ist Ständerat Werner Luginbühl (Bild). Er ist seit bald 13 Jahren Berufspolitiker, aber erst 50-jährig und kann sich nicht wie Grunder auf ein eigenes Unternehmen abstützen. Ob Luginbühl 2011 sein Mandat als Vertreter einer neuen Partei verteidigen kann?
6. Für den Aufbau einer neuen Partei braucht es grosse personelle und finanzielle Ressourcen, einen langen Atem und professionelle Strukturen. Ich zweifle, ob das alles vorhanden wäre. Die Grünen brauchten 20 Jahre, um sich auf nationaler Ebene zu etablieren.
7. Für eine neue, bürgerlich-liberale Partei hat es gesamtschweizerisch kaum Platz. Sich primär im Stil von der SVP zu unterscheiden, reicht auf die Dauer nicht.
8. Der Schritt zur Abnabelung von der Mutterpartei ist ehrlich, aber ohne Muttermilch kann das neue Kind kaum überleben. Die Dissidenten müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie Gutmenschen sind.
9. Faktisch hat die SVP Bern heute Nachmittag auf einen Schlag einen Bundesrat, einen Ständerat, zwei Nationalräte, einen Regierungsrat und rund ein Dutzend Grossräte verloren.
Foto Samuel Schmid: keystone
Foto Werner Luginbühl: www.be.ch
Politiker, die in dieser Situation aus der Mutterpartei austreten, sind nicht Gutmenschen sondern haben etwas, was heutzutage rar geworden ist: Rückgrat. Chapeau!
Zur Situation: Die hier zitierte Auslegeordnung spricht von einem zeitlichen Horizont von 20 Jahren. Das ist schlicht unrealistisch. Zudem unterstellt die Analyse, dass die SVP so weiter macht und Erfolge feiert wie bis vorgestern.
Dabei werden folgende Faktoren übersehen:
• Mit dem Austritt von BR Schmid aus der SVP (einem starken Signal) hat in der SVP niemand gerechnet
• Den Dissidenten werden noch weitere folgen. Nicht alle in der SVP sind dermassen von der Macht korrumpiert.
• ABER: der NR hat die beiden kommenden Europa-Abstimmungen wieder voneinander getrennt. Wenn nun die SVP das Referendum ergreift und die EU die Gleichbehandlung ihrer Mitgliedstaaten durchdekliniert, dann werden wir eine grosse Absetzbewegung aus der SVP erleben. Ob die neue Partei dann noch existiert oder aber bereits in eine andere aufgegangen sein wird, ist dabei unerheblich.
[…] Parteineugründung genannt wird, und welche mit reichlich schwierigkeiten verbunden ist (siehe wahlkampfblog.ch), könnte der ganzen politischen Schweiz schweren Schaden […]
‘@open society
Samuel Schmid und Rückgrat? Aus meiner Sicht trifft nach wie vor jedes Wort zu, das Marie-Josée Kuhn zu seiner Wahl im Jahr 2000 in der WoZ schrieb:
‘@ Andreas Kyriacou
a) aus meiner Sicht kann man Rückgrat haben und trotzdem rechts von der Mitte stehen.
b) BR Schmid hat noch KollegInnen mit Rückgrat gefunden
c) Die Relevanz der WoZ (und dann noch aus dem Jahre 2000!) in vorstehender Frage ist etwa so hoch wie jene der Schweizerzeit zu NR Zysiadis.
Ich teile die Auffassung von open society in seinem zweiten Posting: Einen achtjährigen Text zu bemühen ist, mit Verlauf peinlich. Ich lernte Bundesrat Samuel Schmid vor ein paar Jahren persönlich kennen, als ich mit ihm und einer Delegation das Kosovo bereiste. Daraufhin korrigierte ich mein Bild, welches ich von ihm zuvor hatte, und zwar klar. Schade ist, dass er stets zu defensiv ist. Sein Wort hat Gewicht, und er hätte Profil gewonnen, wenn er früh klar Stellung bezogen hätte.
Nur eines zu deiner schönen Analyse. Resu Aebi ist aus Alchenstorf. Nix Oberland. Er ist dort gar Gemeindepräsi.
Von Siebenthal wäre – glaub ich – aus Gstaad… oder so. Auf alle Fälle Oberland. Vielleicht meintest du ihn.
LG,R.
Hoppla, da sind mir die Geografie UND die Namen durcheinandergeraten!
Also, Nationalrat Andreas Aebi ist aus dem Oberaargau, sein Parteikollege Erich von Siebenthal hingegen aus dem Saanenland (Berner Oberland).
Danke, Reto Müller, für die Korrektur.
‘@open society / Mark Balsiger
Verdrängen aus welchem politischen Umfeld Schmid kommt, sollte man bei dieser Debatte nicht. Er war Mitglied der Redressement National, das eindeutig Teil des rechten Milieus war, in dem auch ein Cincera und – bereits damals – Schlüer operierten.
Liberal ist daran nun wirklich nichts – dieses Etikett würde ich aber längst nicht allen absprechen, die nun auf dem Absprung sind.
Sein Wort hat Gewicht, und er hätte Profil gewonnen, wenn er früh klar Stellung bezogen hätte.
Aber genau dieses lavieren, abwarten, berechnen ist doch typisch. Ich gebe freimütig zu: Ich kenne ihn nicht persönlich, habe ihn nur einmal live erlebt, als ihn die Zürcher FDP zu einem öffentlichen Gespräch eingeladen hatte. Der Eindruck war aber auch da: Verbindlichkeiten versuchte er um jeden Preis zu vermeiden. Von den Gesprächsleitern auf seine Redressement-Vergangenheit angesprochen betonte er nur, dass er nicht mehr Mitglied sei. Er drückte sich aber um eine Aussage, ob ihm die Organisation immer noch politische Heimat bedeute oder ob sich seine eigenen Positionen verschoben hatten.
Selbstredend kann man Rückgrat haben und Mitte rechts stehen. Er hätte dies dort wunderbar beweisen können, indem er zu seinen früheren Tätigkeiten gestanden wäre. Gut möglich, dass er in einem intimeren Rahmen pointierter auftritt. Als Bundesrat muss er aber damit leben, dass er vornehmlich aufgrund seiner öffentlich wahrnehmbaren Auftritten
eingeschätzt wird – und zwar nicht nur von der WoZ.
Mit Luginbühl oder Haller als Aushängeschilder würde sich die neue Partei meiner Ansicht nach jedenfalls deutlich besser profilieren als mit Schmid. In einem Punkt bringt sein Abgang allerdings Spannung in die Tagespolitik: Seine Vorlage für neue Kampfflieger dürfte es nun in Bundesbern schwerer haben.
austritt aber bundes & national/ständeratssitze nicht abgeben. von konsequenz kann hier nie die rede sein. ebenfalls: gewählt wurden sie unter einem ander’n stern, gehauen od. gestochen…!
was man an der svp schätzen muss: konkret und verbindlich wie sonst niemand (vorallem im bundesbern und parteilandschaft!)- man kann dies popularismus nennen od. verbindlichkeit.
man sage mir, bei allem lob von zbsp. s. schmid, dieser den schon grosses geleistet hat? wo war er bei minimen skandalen, die er teilweise initiert hat ?
bei den jetztigen wildwasserarmeeunfällen erschien er lediglich zur abdackung und nahm nicht ein (1) mal stellung….!
DANKE FÜR OBST
apropos parteiprogramm: wer so überstürtzt den (partei-)”frühling” kommen sieht und nicht einmal ein parteiprogramm (positionierung) weder den namen der zukünftigen partei weiss, wird vielleicht besser wirt.
Auch wenn dieser Thread schon etwas verstaubt ist – es scheint der perfekte Zeitpunkt für ein kurzes Flashback.
Meine obige Einschätzung von Schmid als öffentlicher Figur hat nicht wirklich Schaden genommen durch die Ereignisse der letzten Tage. Wohl aber das Image von Schmid. Die von mir zitierte Marie-Josée Kuhn lag mit ihrer inzwischen acht Jahre alten Einschätzung nicht wirklich neben der Realität…
[…] Lackmustest kommt bereit im März nächsten Jahres. Dann muss sich die BDP im Kanton Bern, dort, wo die Abspaltung von der SVP ihren Anfang nahm, behaupten. Es gilt, den “geerbten” Regierungsratssitz […]